Briefwechsel 1966 bis 1971

Mit dem jungen ungarischen Sozialisten Gábor Révai, Sohn des führenden kommunistischen Politikers und Theoretikers vor der ungarischen Revolution, Jószef Révai, verband Dutschke von 1966 bis zu seinem Tod eine enge Freundschaft. Der Briefwechsel von Juni 1966 bis Herbst 1971 ist das Zeugnis einer intensiven politischen Debatte und gibt zugleich Einblicke in Dutschkes Leben zwischen wissenschaftich-theoretischer Auseinandersetzung, politischem Aktivismus und privaten Beobachtungen.

Berlin, d. 16.6.661

Lieber Gen. Révai Gábor!

[…] Die nationale Befreiungsfront in Vietnam kämpft so einen in der Weltgeschichte einmaligen Kampf, der gegenwärtig durch den ungeheuer verstärkten Einsatz amerikanischer Truppen komplizierter und opferreicher geworden ist. Unter diesen Bedingungen muß sich die Frage des proletarischen Internationalismus erneut stellen. Lenin formulierte ihn auf dem 2. Kominternkongreß: “daß die Nation, die den Sieg über die Bourgeoisie erringt, fähig und bereit ist, die größten nationalen Opfer für den Sturz des internationalen Kapitals zu bringen” – was in dem heutigen Zusammenhang nur heißen kann, wie das vietnamesische Volk und die kämpfenden Massen in den wirtschaftlich durch die Ausbeutung der kapitalistischen Welt zurückgebliebenen Kontinenten Asien, Afrika und speziell Lateinamerika unterstützt werden können. Die Unterstützung durch die Sowjetunion ist offiziell ausreichend, für den durch [die] Presse orientierten Betrachter absolut unzureichend. Vielleicht [hast] du als oftmaliger Gast der Befreiungsfront in der Botschaft genauere Angaben. Vielleicht spielt auch die gesellschaftlich (materiell) so verschiedene Lage der Sowjetunion die entscheidende Rolle – sie hat ihre Revolution gehabt, die Entbehrungen und Schwierigkeiten der Aufbauphase sind erst in der Gegenwart richtig überwunden worden, was sie nicht durch “Abenteuer” gefährden will. Marx allerdings spricht im 2. Bd. des Kapitals von den verschiedenen nationalen Profitraten, die von der verschiedenen Höhe der organischen Zusammensetzung des Kapitals abhängen; das technologisch höher entwickelte Land kann auf dem Weltmarkt die geringer entwickelten Länder ausbeuten. Kann ein sozialistisches Industrieland wie die Sowjetunion sich einem solchen Mechanismus entziehen? Das Sinken der Rohstoffpreise auf Kosten der agrarischen Kontinente schafft einen neuen weltweiten Ausbeutungszusammenhang zwischen hochentwickelten und zurückgebliebenen Ländern. Gerade aber, weil die sozialistische Vergesellschaftung der Produktion die Naturwüchsigkeit des ökonomischen Prozesses im nationalen Maßstab beseitigt, sollte eine adäquate Unterstützung des revolutionären Kampfes durch die sozialistischen Länder möglich sein! Ich bin sehr gespannt auf Deine Antwort.

Mit den herzlichsten Grüßen, auch von meiner Frau Carol, verbleibe ich
Rudi Dutschke

Berlin, d. 30.10.66

Lieber Gábor, liebe – noch unbekannte – Margit!

[…] Die politische Gruppierung der Linken in Frankreich zu beschreiben ist sehr schwierig. Von der KPF habe ich auf dem Fest der Zeitung L’Humanité einen hervorragend sinnlichen Eindruck bekommen. In den Philosophisch-ökonomischen Manuskripten heißt es ja: “Die Sinnlichkeit (siehe Feuerbach) muß die Basis aller Wissenschaft sein”. Was wir auf diesem Fest erlebten, spottet jeder Beschreibung. Die Partei hatte sich ein riesiges Stück des Waldes von Vincennes gemietet. Dort nun wurde ein “kommunistischer” Karneval aufgeführt: Alle Straßen dieser “Stadt” trugen die Namen der Vorläufer und Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, natürlich fehlten nicht die Revisionisten Togliatti, Thorez, Reimann usw. Das wäre ja notfalls noch erträglich gewesen, was dann aber kam, verschlug mir doch den Atem. Stellt euch folgende Szene vor: ein Stand von Bildern vom Kampf des heldenhaften vietnamesischen Volkes, nebenan ein Verkaufs- und Werbungsstand für Möbelwaren, schließlich eine Lokalität, wo sich die Betrunkenen tummelten, die auf den Straßen dann Mitglieder der kommunistischen Partei Frankreichs werden konnten, was am nächsten Tag auf der 1. Seite der Zeitung als großer Erfolg und Bestätigung der Linie der Partei usw. dargestellt wurde. Auch wir wurden angesprochen und ich machte mir den “Spaß” “Je suis Trockiste” (ich bin Trotzkist) zu antworten, was der Werber mit der Bemerkung quittierte: “Auch eine Meinung, die innerhalb der Partei Platz hat.” Sind zwar die Trotzkisten, die ich in Paris und anderswo kennenlernte, alles andere als Faschisten, das können nur politische Dummköpfe und Verleumder behaupten, so ist doch an diesem Beispiel zu sehen, wohin die kommunistischen Parteien in Westeuropa (Moskau-Kurs) gegangen sind, welchen verhängnisvollen Weg der Integration in den kapitalistischen Staat sie genommen haben. Bei vollständiger Anlehnung an die De Gaullsche Außenpolitik will die KPF nur noch einen “legitimen” Anteil innerhalb des bürgerlich-kapitalistischen Staates.

Dein Vater sagt in seinem glänzenden Artikel über das “Problem der Taktik” im Jahre 1920 dazu folgendes: “In einer ‘friedlichen’ Entwicklung des Kapitalismus, wo die Theorie nicht unmittelbar praktisch sein kann, wo das revolutionäre des Proletariats nur ein abstraktes, nur ein durch die Theorie ‘gedeutetes’ ist, wo mit einem Wort dem Kapitalismus nicht unmittelbar der Sozialismus entgegenzustellen ist, sind kommunistische Parteien unmöglich“. Marx bestätigt das in einem Brief vom 23.11.1871 an Bolte, wo er von der historischen Berechtigung von Sekten in der nicht-revolutionären Periode spricht.

Die pro-chinesische Gruppe der KPI scheint mir den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Die Spaltung der Partei in der aktuell nichtrevolutionären Etappe (aber mit revolutionärer Perspektive) durchzuführen, ist die einzige Chance, in der revolutionären Periode die Massenführung zu erreichen, eine Kampfpartei gegen den Opportunismus-Brei der ‘etablierten’ KPs einsetzen zu können. Das hat Lenin 1903 klar gesehen, das haben die deutschen linken Sozialdemokraten und späteren Kommunisten (Rosa, Karl Liebknecht, P. Levi usw.) zu spät und eigentlich nie begriffen, was meiner Ansicht nach einer der wichtigsten Faktoren für die Niederlage der mitteleuropäischen Revolution in den 20iger Jahren darstellt. Auch darüber sollten wir spezifischer diskutieren.

[..] Aber ich wollte ja etwas über meine Stellung zum heutigen Trotzkismus sagen. Die These der “Revolte-Trotzkisten” besagt, sehr verkürzt, daß die Krise des Proletariats in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern die Krise der revolutionären Führung ist. Die Schaffung revolutionärer Kader-Parteien, so meinen sie, könnte sehr kurzfristig die Massen des Proletariats revolutionieren.

Ich bin damit ganz und gar nicht einverstanden, weil ich bei Marx und Freud, von Lukács und Révai in den 20iger Jahren ganz zu schweigen, gelernt habe, die Macht und Kraft der Ideologie als Integrationsfaktor des Proletariats scharf genug einzuschätzen. Hinzu kommt besonders die durch den Faschismus vorbereitete und durch den Ost-West-Gegensatz weiterentwickelte Verbreiterung der kapitalistischen Reproduktionsbasis durch die erweiterten Einflußmöglichkeiten des kapitalistischen Staatsapparates in die ehemals völlig naturwüchsigen, hinter dem Rücken der unbewußten Produzenten sich durchsetzenden ökonomischen Naturgesetze.

[…] Sonst haben uns in Paris noch am meisten die Gammler-Beatniks an der Seine interessiert. Täglich konnten wir dort am Boulevard Saint Michel 40-50 “Typen” stehen, sitzen, liegen, schlafen, trinken, lieben, singen, Gitarre spielen usw. sehen, haben auch mit einigen gesprochen. Zumeist sind es Schüler zwischen 17 und 21, die, unzufrieden mit dem Druck des Elternhauses, der Schule und der Fabrik ihre Anti-Autoritäts-Haltung lebendig demonstrieren. Nicht selten finden sich auch darunter linke Studenten, denen die Begriffe des Proletariats, der Diktatur des Proletariats und der Klasse brüchig geworden sind, die in der Erscheinung des Gammlertums Hinweise auf die geschichtlich veränderte Situation der revolutionären Kräfte in der “spätkapitalistischen” Gesellschaft sehen wollen.

[…] Der südliche europäische Gürtel, d.h. Portugal, Spanien, Süditalien, Griechenland, Türkei und Persien bilden bei großer Verschiedenheit doch einen relativ homogenen Block, den ich als Zwischenzone im “ökonomischen” Sinne ansehen möchte, nämlich zwischen den revolutionären Zentren Lateinamerikas, Asiens und Afrikas auf der einen Seite und den hochentwickelten kapitalistischen Ländern auf der andren Seite. Ganz sicher ist für diese Länder in absehbarer Zukunft eine Periode revolutionärer Klassenkämpfe zu erwarten, in Griechenland wohl schon früher – hierbei wird die Existenz einer revolutionären Avantgarde von ausschlaggebender Bedeutung sein, denn die dortigen Massen werden stark ausgebeutet, haben einen niedrigen Lebenshaushalt, die herrschenden Oligarchien sind korrupt und unstabil, die herrschende Ideologie ist von den Massen nicht tief verinnerlicht worden. Ché Guevaras Focustheorie des Beginns eines Volkskrieges durch die bewaffnete Vorhut an einem militär-geographisch-soziologisch günstigen Ort könnte mit Modifizierungen die richtige Form des Kampfes sein. Allerdings erschweren die NATO-Kontingente in den meisten dieser Länder den Aufbau revolutionärer Organisationen.

[…] Ich muss leider den unfertigen Brief etwas abrupt beenden, inzwischen mußte ich leider die Carol ins Krankenhaus bringen. Sie ist schwanger, ist im dritten Monat und hat ziemliche Schwierigkeiten in den letzten Tagen bekommen […], es besteht die Gefahr einer Fehlgeburt, was wir beide ziemlich bedauern würden, ganz zu schweigen von den Gefahren für Carol. Wir hatten uns einen “Fahrplan” zurechtgelegt, wollten bis zum nächsten Oktober unsere Abschlußarbeiten beenden, für mehrere Monate dann in Spanien, Frankreich und Italien Sprachen lernen, die großen Bibliotheken aufarbeiten, besonders das Feltrinelli-Institut in Italien. Danach wollten wir gegen Februar/März 1968 Europa für längere Zeit verlassen, in Amerika (USA zuerst – dann Mexiko) studieren (Pädagogik und später Ökonomie) und die politische Arbeit fortsetzen. Da wir ein Kind haben wollen, wäre es zum Zeitpunkt der Abreise schon “fit” genug – wir hoffen.

[…] Für meine Arbeit hätte ich verschiedene faktische Fragen, die vielleicht Deine Mutter, wenn sie mit Deinem Vater schon in Wien zusammenlebte, beantworten könnte!!! Mir wäre damit sehr geholfen! Ich schreibe diese Fragen, recht viele Fragen, im nächsten Brief; könntest ja Deine Mutter daraufhin einmal ansprechen?!?

[…] Abschließend möchte ich Euch und den anderen Genossen für die hervorragende Vietnam-Arbeit gratulieren, für die Aktivierung und Enthüllung der inneren gesellschaftlichen Widersprüche durch diese Arbeit.

Ich grüße Euch beide sehr herzlich
Rudi

West-Berlin, d. 23.12.66

Lieber Gábor!

Ich hoffe sehr, daß du meine 2 Briefe vom 30.10. doch erhalten hast (9 Schreibmaschinenseiten), wenn nicht, schicke ich Dir recht bald meinen Durchschlag, den ich ja leicht xerographieren kann.

Carol ist inzwischen wieder einigermaßen genesen; war keine Schwangerschaft, sondern “Regelveränderung” infolge der früheren Einnahme von Anti-Baby-Pillen; brachten den ganzen Körper etwas durcheinander, hat sich aber alles wieder bestens hergestellt.

Wir hatten hier in West-Berlin in den letzten Wochen “Großeinsatz”. Versuche der bürokratischen Administration der Universität, durch sogenannte Studienreformen eine typisch kapitalistische Rationalisierung der Ausbildungsstätten des Kapitals durchzusetzen (Studienzeitbegrenzung, Zwangsexmatrikulation uam.), riefen unseren ohnmächtig-erbitterten Protest hervor.

Das entscheidende Problem liegt nämlich darin, daß das westdeutsche Kapital jetzt am Ende der Rekonstruktionsperiode den Prozeß der Rationalisierung der Ökonomie (Beseitigung der Subventionen bestimmter Industriezweige, Abbau sozialpolitischer “Errungenschaften” z.B.) verbinden muß mit dem Prozeß der schnelleren und effektiveren Ausbildung der für den heutigen Produktionsprozeß so wichtigen Produktionsintelligenz. Die Beseitigung der “unproduktiven Schichten” (der Studenten, der Angestellten in bestimmten Zweigen) kann natürlich auf kapitalistischer Basis nicht gelingen, dennoch muß bei “Strafe des Untergangs” die Akkumulation auf erhöhter Reproduktionsbasis durch die teilweise Beseitigung der (im Laufe der mit hohen Profiten und Wachstumsraten “gesegneten” Rekonstruktionsperiode) angewachsenen “toten Kosten” der gesellschaftlichen Produktion begünstigt werden. So ist es kein Wunder, daß auch wir von der “unproduktiven” philosophischen Fakultät schneller unser Studium absolvieren sollen, nehmen wir doch den “viel wichtigeren” Produktionsintelligenzlern Zeit, Geld und Studienplätze weg, ganz zu schweigen von unserer “verwerflichen” politisch-kritischen Aktivität. Durch eine gezielt antiautoritäre Agitation konnten wir einen recht beachtlichen Teil der Studentenschaft etwas politisieren (4000 von 15.000 bei einem 15stündigen “Sit-in” gegen Zwangsexmatrikulation und hierarchische Herrschaftsstruktur der Universität).

Dieser Politisierungsprozeß der Universität wird ab Januar unter noch “günstigeren” Bedingungen fortgesetzt werden können, weil innerhalb der Freien Universität in Berlin-Dahlem die Semestergrundgebühren von 80 auf 160 DM erhöht werden, die “Pädagogische Hochschule” erstmalig und zwar sofort auch 160 DM pro Semester Grundgebühr bezahlen muß, der Preis des Mensaessens sich erhöht, Disziplinarverfahren gegen “linke, extremistische Minderheiten” in Vorbereitung sind uam. Die abrupte Erhöhung der Gebühren wird uns erstmalig die Möglichkeit geben, das sogenannte Wirtschaftswunder der BRD als ganz normale Rekonstruktionsperiode einer kapitalistischen Wirtschaft zu destruieren, die Bewegungs- und Verwertungsgesetze des Kapitals der Studentenschaft zu erklären.

Hinzu kommt, daß die gesamte Bevölkerung im nächsten Jahr manche “Opfer”, lies erhöhte Ausbeutung, zu erdulden haben wird. “Leider” ist nun daraus nicht vulgärmaterialistisch eine “revolutionäre Situation” zu erwarten, vielmehr scheint sich ein langer Prozeß subventionistischer Krisenverschleppung durchzusetzen, besonders weil der Versuch des Abbaus der Subventionen bei dem vorhandenen Eigengewicht der “pluralistischen pressure groups” nicht sehr schnell durchgesetzt werden kann.

Wie dem auch sei, die Möglichkeit politischer Arbeit innerhalb und außerhalb der Universität scheint uns für die nächste Zeit durchaus gegeben.

Unsere “Vietnamaktivitäten” sind nicht geringer geworden, haben vor 14 Tagen eine Demonstration mit 2000 Menschen mobilisiert. Es kam zu recht “wilden” Auseinandersetzungen mit der Partei [sic!], die brutal von ihrem Knüppel Gebrauch machte (74 Verhaftungen).

Dadurch herausgefordert, organisierten wir letzten Sonnabend eine Protestdemonstration (gegen die “Polizeiwillkür”), die wir mit einer neuen Demonstrationstechnik durchzustehen hofften. Diese “Technik” bestand darin, nicht mehr mit massiven Demonstrationsblocks die Auseinandersetzung mit der Polizei zu suchen, sie vielmehr durch zeitweise Dezentralisierung, punktuelle Konzentration und weite Verschiebung permanent zu unterlaufen, den Repräsentanten der Ordnung und des bestehenden Systems lächerlich zu machen. Die Polizei, besonders deren politische Abteilung hatte natürlich auch Vorkehrungen getroffen, verhaftete mich als “Haupträdelsführer” schon vor dem Beginn der politischen Straßendiskussionen. Meine Verhaftung wurde aber zum Auslöser sehr vieler Menschenansammlungen auf dem Kurfürstendamm, der Repräsentativ-Straße West-Berlins. Als Resultat kamen schließlich diesmal 86 Verhaftungen und eine ganz gelungene politische Agitation im Gefängnis unter den Verhafteten, die zu 75 Prozent aus “harmlosen” Passanten bestanden, heraus. Über die Fortsetzung solcher Aktionen sind wir uns noch nicht sehr klar, besonders weil wir gegenwärtig sehr intensiv über neue Organisationsformen diskutieren. Wir sind dabei, uns in dezentralisierten Kommune-Wohneinheiten zu organisieren, um die durch den Kapitalismus vermittelte Isolierung des Individuums zum Teil auszuheben, wenigstens in der politisch-menschlichen Avantgarde Momente des “Reichs der Freiheit” schon im “Reich der Unfreiheit” sichtbar werden zu lassen, zum anderen [um] die wissenschaftliche Kaderausbildung forcieren und besser koordinieren zu können. Es gibt bei vielen guten linken Freunden unheimlich große Widerstände gegen die Idee revolutionärer Focus-Kommunen, der Verdinglichungsprozeß des vereinzelten Individuums ist halt leider nur sehr langsam zu durchbrechen. Wir werden über unsere weiteren Schritte ausführlicher berichten.

Für heute genug, laß bald etwas von Dir hören.
Viele herzliche Grüße,
Rudi

Ein gesundes Jahr für Dich, lieber Gabor, auch für Margit und deine Mutter! Gruß von Gretchen – sie schläft noch (6.30 in der Frühe!)

[Postkarte, Prag 2.4.1967]

Lieber Gábor!

Von der Stätte des Kampfes gegen den Opportunismus einen Gruß! Wir besuchten gerade das Leninhaus, wo die Bolschewiken unter der Leitung von Lenin 1912 ihren Kampf gegen den Menschewismus endgültig organisatorisch wendeten.

Wir kommen Dienstag oder Mittwoch nach Budapest, hoffen mit Dir ausführlich sprechen zu können.

Hoffentlich geht es Dir, Margit und Deiner Mutter gut.
Viele Grüße,
Rudi Dutschke

6.9.71

Lieber Freund und Genosse Gábor!

Voller Freude hatte ich den ersten Brief über John erhalten, gestern erschien der zweite mit einer genauen zeitlichen Bestimmung der Reise. Wird ja eine grosse Sache werden für uns, die gemeinsamen Kämpfe, die uns bevorstehen, werden den Charakter der Diskussion bestimmen.

Wir werden dir – wo immer möglich – Zugänge und Bücher ermöglichen.

Du, Gabor, denkst Du nicht, dass ich Dir die Adressen erst [per] Telephon in den Nato-Ländern zukommen lasse. Die Geheimdienstleute bei Euch müssen ja nun nicht unbedingt die Adressen von Dir kennenlernen!?!

Ich schlage vor, dass Du, sobald Du auf dem BRD-Boden gelandet bist, mich an[rufst], mir oder dem Freund am Telephon Deine Anrufsnummer [sagst] und ich rufe Dich zurück. Die Schweine bei uns in der Nato kennen unsere Plätze, per Telephon darum etwas zu sagen ist gegenwärtig für uns nicht gefährlich. Aber vielleicht findest Du in Frankfurt einen Brief von mir vor!

Ich gebe die Adresse allein von einem Verlag in Frankfurt, von welchem aus Du anrufen kannst nach Dänemark! Dort wirst du auch schon die ersten interessanten Bücher finden:
Verlag Neue Kritik, Archiv sozialistischer Literatur.,
6000 Frankfurt am Main I, Myliusstrasse 58; Telephon (0611)727576;
dorthin gehst Du, dort wirst Du von mir per Brief angekündigt sein, von dort aus kannst Du mich anrufen. Meine Tel.Nr. ist: 06-351021;

Die Genossen und Genossinnen in Frankfurt habe ich seit mehr als 3 Jahren nicht mehr gesehen, bin aber in verkürztem Briefkontakt…

Du wirst von ihnen und von mir Personenhinweise erhalten. Auf jeden Fall werden diese Menschen sozialistischer Prägung – so weit ich weiß – nicht direkten sektiererischen, sondern zumeist antisektiererischen Klein-Gruppen angehören. Du wirst viele Überraschungen in der BRD “erleben”, eine Dominanz negativer Empfindungen bezüglich der verschiedensten Bereiche ist wirklich nicht auszuschliessen. An Positivem mit Sicherheit: Du wirst zu 99 Prozent die Bücherwünsche erfüllen können, viele neue oder unbekannte “alte” Bücher vorfinden. Einen unserer Lehrer-Genossen – Oskar Negt – musst du unbedingt kennen lernen. Wenn du ankommst, wird er sich eventuell in Frankfurt oder in Hannover aufhalten; er ist Professor für “soziologische Phantasie” – so jedenfalls sieht er wohl seine theoretischen Perspektiven in einem marxistischen Sinne. Habe ihn seit langem auch nicht gesehen, er schickte mir aber vor kurzem seine letzten Bücher. Du darfst ihn nicht übersehen!!

Wir haben die Blochs hier oben vor einigen Wochen getroffen, – der Genosse und Freund Ernst Bloch trägt in sich die so entscheidende Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart, um ein subversives Zukunftsdenken überhaupt zu ermöglichen.

Du, Freund, wir werden grosse Gespräche haben!!!
Auf ein nahes Wiedersehen
Rudi

[Herbst 1971]

Lieber Gabor!

[…] Will mit einer Selbst-Kritik beginnen, […] ich hätte Euch sagen m ü s s e n: wann immer Ihr ankommt, so greift zu der genannten Klingel sobald die Haustür offen ist. Es gehört zur solidarischen Selbstverständlichkeit, den politischen Wanderer und Freund unterzubringen!!

[…] Hier in Aarhus referierte vor wenigen Tagen Ernest Mandel über die sozial-ökonomischen Widersprüche in der sich “stabilisierenden” EWG-Totalität als Glied des Welt-Marktes. Er wies den dänischen Zuhörern einleuchtend nach, dass jeglicher Versuch einer “sozialistischen Anti-EWG-Politik” in Dänemark, Norwegen und Schweden falsch und hoffnungslos ist, gerade weil eine sozialistische Politik, Strategie und Taktik nicht durch die naturwüchsigen Kapital-Gesetze sich leiten, genauer, sich verleiten lassen darf. Ein völlig unklarer Punkt blieb allerdings die finnische Frage, eine wesentliche Besonderheit im nordischen Raum, denk an die wesentliche Abhängigkeit dieses Landes von der SU-Linie. Sichtbar wurde an diesem Abend die weltgeschichtlich sich “neu” zeigende Mannigfaltigkeit des spät-kapitalistischen Lagers, der US-Imperialismus erhält im eigenen “Reich” gerade in Folge der Widersprüche dieses “Papier-Tigers” wesentliche Konkurrenten in politischer und ökonomischer Hinsicht.

Die chinesischen Genossen haben den “Warschauer Pakt” nach E.M. in richtige Widersprüche “gestürzt”, erweisen sich aber, wie ihre Aussenpolitik zeigt, als unfähig die Lage richtig zu handhaben. Wie weit das mit der “Asiatischen Prod.weise” noch etwas zu tun hat, wurde nicht diskutiert.

Mehrere Stunden vor und nach der Veranstaltung trafen wir mit E.M. extra zusammen und sprachen über die verschiedensten Fragestellungen, da wäre Deine Anwesenheit in der Diskussion so richtig und wichtig gewesen. Du hättest über die innere Lage der linken, der jungen revolutionären Gruppen und Vor-Parteien genaueres als in den Büchern oder anderswo erfahren. Als theoretisches Problem, entscheidendes Moment der Erkenntnis historisch objektiver Möglichkeiten stand und steht die Klassen-Differenzierung innerhalb des Begriffs des Gesamt-Arbeiters (Marx), da mangelt es weiterhin überall an Analysen, die ihre revolutionäre Perspektive soziologisch etc. niemals vergessen. Das Verhältnis von Wissenschaft und Arbeiterklasse ist objektiv in einem Um-Funktionierungs-Prozess, das sind qualitativ entscheidende Möglichkeiten, die – wie so oft – “natürlich” erneut verfehlt werden können. Der grosse Wissenschaftler Marx sah die Produktivität und Destruktivität der Wissenschaft, konnte aber aus historischen Gründen die spezifischen Org.-Fragen der Arbeiter-Klasse, der Befreiung derselben nicht ausreichend erkennen. Lenin und Kautsky – s. “Was tun?” – sahen das Verhältnis von Wissenschaft und Arbeiterklasse als eine Relation, die sich dadurch auszeichnet, dass die Intelligencia “von aussen” den wissenschaftlichen Sozialismus in die Arbeiterklasse hineinträgt, weil die Klasse von sich aus infolge der objektiven Lage “nur” den “gewerkschaftlichen” “Klassen-Bewusstseins-Stand” erreichen könne. An diesen Punkten begannen die Differenzen zwischen Ernest und mir, hat natürlich etwas zu tun mit der Frage des historisch richtigen Verhältnisses von Klasse, Klassenorganisation – Räte – Parteitypus!! Dem. Zentralismus als Parteitypus scheint mir reaktiv geworden zu sein.

Wenn historische Veränderungen der Rolle und Funktion der Wissenschaft und Technik im Produktionsprozess stattfinden, empirisch nachzuweisen, als kritische Analyse der Politischen Ökonomie bei Marx in den verschiedensten Bänden in genialer Tendenz-Erfassung auffindbar, so stellt sich die Kritik der Lenin-Kautsky-Haltung als unmittelbare theoretische Aufgabe des politischen Problemzusammenhangs. Eine tiefe Problematisierung scheint mir eine unerlässliche Voraussetzung für eine langfristige revolutionäre Perspektive zu sein.

Eigentlich wollte ich dir wegen einer “ganz anderen Sache” schreiben, muss darum gerade weil die Post in Kürze bei uns auftaucht, schnell die schon verkürzten “Ideen” beenden und auf die “eigentliche” Frage übergehen. Gábor, Du hast vielleicht in der Lukács-Selbstbiographie den Hinweis gesehen, der von einer Kritik der Blum-Thesen durch Deinen Vater spricht? Daran bin ich sehr interessiert, will in den Luchterhand-Band über “Philosophisch-politische Kritiken an G.L.” äusserst gerne die Kritik Deines Vaters unterbringen. Die Rezension, die hegelianische (?!) Deines Vaters an “Geschichte und Klassenbewusstsein” ist inzwischen sehr bekannt, in verschiedenen Extra-Drucken schon mit hineingenommen worden, – zu recht, die unbekannte Kritik von 1929 sollte darum unbedingt veröffentlicht werden. Wie komme ich heran? Hast du Möglichkeiten mir zu helfen? Ich hielte es auch darum für wichtig, weil es den endgültigen Abschluss der Landler-Fraktion der KPU ausdrückt, – und zwar nach dem Tode vom “Alten”…

Du, lass von Dir hören, ich werde in Uj Marcius herumsuchen; welche Pseudonyme hat Dein Vater in den 20iger Jahren gehabt? Sobald ich etwas habe, werde ich von mir hören lassen, bestimmte detaillierte Fragen werde ich Dir im nächsten Brief schon stellen!

Freund und Genosse Gábor, Gruss und Kuss an den Sohnemann und die Mutter!
Rot Front Rudi

PS: Lasse den Brief über Franz Bródy gehen, weiß ja nicht, wie Du über die Grenzen gekommen bist. R.

[Herbst 1971]

Lieber Rudi!

[..]”Was tun?” […] Eins ist mir sicher. Wir leben in einer Zeit, in welcher ein so aufgefasster und verwirklichter Kosmopolitismus wie bei Danton, Robespierre oder bei Marx unmöglich ist. Mit Hegel gesprochen, in einer Zeit, als der Weltgeist verschwunden oder versteckt ist. Anders gesagt, gibt es zu viele Geister, um Anspruch erheben zu können – von Zeit und Raum losgelöst – auf das Erfassen des richtigen. Wenn viele der Klügsten bei uns sich zu einem solchen Kosmopolitismus bekennen und sich mit den Problemen der Industrieländer, andere mit denen der dritten Welt beschäftigen, so sind sie in zweierlei Illusionen befangen; erstens in der Illusion der Gewissheit (dass es eine Illusion ist, beweist schon der Pluralismus der Gewissheiten), zweitens in ihren Möglichkeiten zur adäquaten und angemessenen Behandlung dieses oder jenes Problemkreises. Sie können sich nur den Titel des besten ungarischen Sachverständigen erwerben. Und dann können sie sich einbilden: sie haben die Welt erlöst.

[…] Lukács schreibt in der Ontologie viel über einen (nicht: den) sog. “gesellschaftlichen Auftrag”. Es ist meine Überzeugung, und stammt aus dem Zuendedenken der eigenen Lebensprobleme, dass man ein eigenes Buch über diesen schreiben müsste, um überhaupt Fragen darüber aufwerfen zu können. Inwiefern ist dieser bloss ein irrationales Glauben und inwiefern ein rationales Wissen? etc.

Eins ist sicher: ich fühle keinen, und wenn doch, nur in der Form einer Gewissensangst.

Die Antinomien der Zeit kommen immer mehr in Antinomien des Individuums zum Ausdruck. (Oh, Gott, Freud!)

Natürlich: Gedanken hat man immer; aber es ist noch nicht die Zeit gekommen, Gedanken als Selbstzweck [zu] entfalten, oder entfalten [zu] können. Und ohne diesen sog. “gesellschaftlichen Auftrag” wird aus einer Idee kein Gedanke. Wenn er nicht konkret ist, existiert er überhaupt nicht.

[…] Und jetzt habe ich eine grosse Bitte! Vielleicht werde ich meine Dissertationsarbeit über Korsch schreiben (Du über Lukács und ich über Korsch, drückt das nicht eben eine eigenartige Nostalgie aus?) und ich [müsste] einerseits eine vollständige Liste seine[r] Werke haben, zweitens die wichtigste Literatur [über] ihn. Darin kannst du mir sicher helfen, wenigstens mit Informationen und vielleicht auch mit Büchern. Ich würde gerne auch dein summarisches Urteil über Korsch lesen (natürlich eher hören).

[…] Also, Rudi, ich schliesse jetzt um damit nicht noch zwei Monate zu warten, sei nicht enttäuscht, dass der kleine Révai so weit vom Baum seines Vaters gefallen hat. Ich würde mich unter diesem Baum schrecklich fühlen, obwohl ich gut weiss, dass, wenn dieser nicht so gewachsen wäre, hätte ihn noch als Keim der Wind verweht.

Alles Gute für Gretchen und die zwei Halunken
Grüsse Dich
Gábor

Diese Auszüge aus dem Briefwechsel von Rudi Dutschke mit Gábor Révai erschienen im Sommer 2008 erstmals in ungarischer Übersetzung in der Zeitschrift 2000. Sie werden hier chronologisch wiedergegeben, obwohl das Datum ihres Entstehens oder ihres Versendens nicht immer genau feststellbar ist.

Published 23 April 2009
Original in German
First published by 2000 7-8/2008 (Hungarian version)

Contributed by 2000 © Rudi Dutschke / Gábor Révai / 2000/ Eurozine

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