Zweimal Frühling 1968

Wenn nun, vierzig Jahre danach, in Kolloquien, Debatten und Veröffentlichungen an die reiche Zeit der Frühlinge von Paris und von Prag, und nicht zu vergessen Warschau oder Berlin, erinnert wird, ergibt sich ein erstaunlicher Kontrast zwischen Ost und West, um bei der damaligen Terminologie zu bleiben. In Paris mischt sich bei den Gedenkveranstaltungen zum “Psychodrama” (Stanley Hoffmann) des Mai 1968 die Selbstzufriedenheit einer Generation mit dem Wunsch der nachfolgenden Generation, sich das Erbe des Mai umso energischer anzueignen, als es vom neuen Präsidenten denunziert wurde, der Daniel Cohn Bendit zufolge ein Achtundsechziger ist, ohne es zu wissen (vom Mai ’68 habe er nur den hemmungslosen Hedonismus behalten)… In Prag ist man weniger geneigt sich zu erinnern – an eine schmerzhafte Niederlage und an Alexander Dubcek, der die Menschen zwar bis heute bewegt, gleichzeitig aber nicht nur das Symbol einer enttäuschten Hoffnung, sondern auch einer Kapitulation ist, auf die zwanzig Jahre der “Normalisierung” folgten. Nichtsdestotrotz hat die lange verborgene und aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängte Debatte über 1968 nun in Prag begonnen, und zwar mit zwei Referenztexten, die unmittelbar nach der Besetzung durch die “Bruderländer” geschrieben und nun, vierzig Jahre später, in den Literární noviny wiederabgedruckt wurden: der eine stammt von Milan Kundera, der andere von Václav Havel.1 Trotz seiner Niederlage, so Kundera, bleibe der Prager Frühling als erster Versuch, Sozialismus und Demokratie miteinander zu versöhnen, von universeller Bedeutung. Havel antwortete, dass die großen Errungenschaften des Prager Frühlings (Abschaffung der Zensur, Wiederherstellung der individuellen und der kollektiven Freiheiten) nur wiederhergestellt hätten, was es dreißig Jahre zuvor in der Tschechoslowakei bereits gegeben habe und was die Grundlage der meisten demokratischen Länder bilde.

In diesem Sinne war 1989 ein Anti 1968: keine Reform innerhalb des Sozialismus, sondern sich so eng wie möglich wieder an den Westen binden, indem man ihn treu nachahmt. Weitere zwanzig Jahre später liest sich die Debatte wieder anders: Im Kontext einer wirtschaftlichen Globalisierung, deren perverse Auswirkungen man gerade entdeckt, und einer Krise der demokratischen Repräsentation gewinnen die Fragen, die der tschechoslowakische Frühling des Jahres 1968 in Bezug auf Demokratie, Markt und den “Dritten Weg” aufwarf, neue Aktualität.

In dieser Perspektive sprengt der Prager Frühling den Rahmen der Geschichte des kommunistischen Systems in Osteuropa und erhält wieder eine transeuropäische Dimension. Diese wurde des öfteren mit den Jugendrevolten in Verbindung gebracht, die 1968 überall in der Welt zu beobachten waren. Der Prager Frühling und der Mai ’68 fanden zwar in unterschiedlichen politischen Kontexten statt, stellten aber gleichwohl Revolten dar, die den vom Kalten Krieg aufgezwungenen Status Quo in Frage stellten und nach alternativen Gesellschaftsmodellen suchten.

Die Parallelen waren weitgehend der Gleichzeitigkeit der “Ereignisse” von 1968 zuzuschreiben. Deren treibende Kräfte waren die Intellektuellen sowie eine Studentengeneration, die sich von Prag bis Paris (aber auch in Berlin, Berkeley oder Warschau) identisch kleidete, dieselbe Musik hörte und den Institutionen der Macht dasselbe Misstrauen entgegenbrachte, eine Tatsache, die auf einen “Generationenkonflikt” im Augenblick einer “globalen Erregung” und einer “zusammenhanglosen Brüderlichkeit” verweist, um Formulierungen Paul Bermans aufzugreifen, der darin den Ursprung einer späteren Übereinstimmung zwischen den Dissidenten des Ostens und der antitotalitären Linken des Westens erblickt.2

Die andere Parallele ist die Verbundenheit in der Niederlage. Die achtundsechziger Utopien haben sich zwar unterschieden, doch versuchten sie jeweils eine innere sowie eine internationale Ordnung in Frage zu stellen, die ein Erbe des Zweiten Weltkriegs waren. Daher die ebenso wohlmeinenden wie realitätsfernen ideologischen Verrenkungen (Prag, “die Revolution der Arbeiterräte”3), welche Reaktionen auf die “Wiederherstellung der Ordnung” (Milan Simecka4) und die Teilung Europas waren.

Gleichzeitigkeit heißt jedoch nicht Gleichheit. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur einige Unterschiede zwischen den beiden Frühlingen erwähnen, die über 1989 hinaus Auswirkungen haben. In seinem Buch über die Wahrnehmungen des Prager Frühlings durch die französische Linke hat Pierre Grémion sein Sujet im Hinblick auf die ideologischen Diskurse und Bezugspunkte untersucht.5 Heute sind die ideologischen Diskrepanzen und unterschiedlichen Wege der Achtundsechziger im Westen und im Osten noch deutlicher sichtbar. Während die französischen bereits seit fast drei Jahrzehnte größten Einfluss auf das Establishment in Kultur und Medien besitzen, gehören die tschechischen einer geopferten Generation an, die erst 1989 ihre Freiheit wiedererlangen und damit erst im Alter von fünfzig Jahren und mehr die Möglichkeit bekommen sollte, an eine unterbrochene Geschichte anzuknüpfen, in einem Alter also, in dem es nicht gerade leicht fällt, sich persönlich und beruflich neu zu orientieren, auch angesichts einer neuen Generation mit ihren Ambitionen, ihrer Anpassungsfähigkeit und vor allem ihrer Verachtung für die Illusionen des Frühlings von damals.

Was die ideologischen Unterschiede angeht, so ist der wichtigste politischer oder “ideologischer” Natur: Für Menschen, die endlich zwanzig Jahre sozialistischer Mangelwirtschaft hinter sich lassen wollten, besaß die von der Pariser Bewegung kritisierte “Konsumgesellschaft” keinerlei pejorativen Beigeschmack. Und die Freiheiten und Wahlen, die angeblich nur eine “Falle” der Bourgeoisie seien, die man verurteilen und durch direkte Demokratie überwinden müsse, hatten ganz und gar nichts Verachtenswertes an sich für Menschen, die angesichts der Erfahrung des Totalitarismus bestrebt waren, als Voraussetzung für den Neuaufbau der politischen Ordnung die Bürgerrechte und elementare Prinzipien wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit wiedereinzuführen. Die französische Linke lehnte sowohl den Markt als auch den Kapitalismus ab, während Ota Sik in Prag einen “dritten Weg” zwischen dem Staatssozialismus des Ostens und dem Kapitalismus des Westens vorschlug. Der Versuch, diese ideologische und ökonomische Kluft zu überwinden, war nur eine andere Art und Weise, die Teilung Europas zu überwinden. Die “Rückkehr nach Europa”, der Slogan der “Samtenen Revolution” von 1989, war bereits in den tschechoslowakischen Bestrebungen von 1968 angelegt. Der Philosoph Ivan Sviták, eines der enfants terribles des Prager Frühlings, hatte das damals wie folgt formuliert: “Die Frage, von wo wir mit wem wohin gehen, läßt sich präzise beantworten: von Asien nach Europa, und zwar alleine.”6 Nun klangen aber die Wörter “Europa” oder “Westen” in den Ohren der Pariser Linken nach Kolonialismus oder “gemeinsamem Markt”. Ihr internationaler Horizont war entschieden auf die Dritte Welt fixiert, wobei die konkreten Bezugnahmen von Vietnam (Ho) über die chinesische Kulturrevolution (Mao) bis Kuba (Che) reichten.

Die treibende Kraft des Prager Frühlings war das Streben nach Freiheit, während in Paris das freiheitliche Moment hinter den Mythos der Revolution zurücktrat. Milan Kundera hat diese Dimension völlig zurecht hervorgehoben:

Der Pariser Mai war ein Ausbruch des revolutionären Lyrismus. Der Prager Frühling war der Ausbruch des post revolutionären Skeptizismus. Daher blickte der Pariser Student voller Misstrauen (oder eher gleichgültig) nach Prag, während der Prager für die Pariser Illusionen, die er (zurecht oder zu unrecht) für diskreditiert, komisch und gefährlich hielt, nur ein müdes Lächeln übrig hatte (…) Der Pariser Mai war radikal. Der Ausbruch des Prager Frühlings hingegen war in langen Jahren durch eine populäre Revolte der Gemäßigten vorbereitet worden; Radikalismus als solcher rief allergische Reaktionen hervor, denn er war im Unterbewußtsein der meisten Tschechen mit ihren schlimmsten Erinnerungen verbunden.7

Der revolutionäre Lyrismus und der Wortschatz des Mai ’68 erinnern Kundera an den Aufstieg des sozialistischen Regimes im Jahre 1948 und das Schicksal des Dichters Jaromil, des Helden seines Romans Das Leben ist anderswo, während die tschechischen Achtundsechziger eher der Ironie und dem Skeptizismus der Hauptfigur eines anderen Romans von Kundera zuneigten, der 1968 gerade in Prag erschienen war: Ludvík in Der Scherz8. Die beiden Figuren illustrieren die Diskrepanz zwischen dem Geist der Jugendrevolte in Paris und der erwachsenen Reife in Prag. Und Kundera fügt hinzu:

Der Pariser Mai stellte in Frage, was man als europäische Kultur und ihre traditionellen Werte bezeichnet. Der Prager Frühling hingegen war eine leidenschaftliche Verteidigung der kulturellen Tradition Europas im weitesten und tolerantesten Sinne des Wortes (eine Verteidigung des Christentums ebenso wie eine der modernen Kunst, die beide von der Macht negiert wurden). Wir alle haben dafür gekämpft, ein Recht auf diese Tradition zu haben, die vom anti westlichen Messianismus des russischen Totalitarismus bedroht wird.

Die veraltete politische Sprache, deren man sich in Paris bediente, machte die Kommunikation zwischen den beiden Kapitalen nicht gerade einfacher. Obwohl man sich in beiden Fällen auf einen Sozialismus bezog, der mit dem sowjetischen Modell gebrochen hatte, erinnerte die marxistische Vulgata der westlichen Linken allzusehr an die im Osten Europas herrschende Macht. Sichtbar wurde dies beim Besuch Rudi Dutschkes, der Galionsfigur der Berliner Studentenbewegung, im April 1968 in Prag, der im Rahmen des vom Philosophen Milan Machovec organisierten Dialogs zwischen Christen und Marxisten stattfand. Der junge Historiker Milan Hauner gab davon folgenden Bericht: “Dutschke verfügt über ein durchdachtes und ausgefeiltes politisch ökonomisches Vokabular. Ohne Unterlass bombardiert er sein Publikum mit Ausdrücken wie: Produktion, Reproduktion, Manipulation, Repression, Transformation, Obstruktion, Zirkulation, Integration, Konterrevolution.”9 Was sind also die Gründe dafür, dass der Anführer der Berliner Revolte bei den tschechischen Studenten keinen Erfolg hatte?

Rudi ist unbestreitbar ein unübertrefflicher Redner, seiner Rede lag ein klarer logischer Plan zugrunde, aber es war gerade diese zur Utopie erhobene Rationalität, die einen beängstigenden Eindruck hinterließ. In seiner perfekt ausgeführten Rede gab es keinen Platz für einen Scherz oder eine menschliche Schwäche; wäre da nicht diese kritische Rationalität, würde man spontan sagen, dass es sich um einen fundamentalistischen Demagogen handelt, noch dazu um einen Deutschen, im Grunde um ein Déjà vu. Doch wäre dies ungerecht, denn er ist unglaublich ehrlich und aufrichtig.

Zehn Jahre später, eineinhalb Jahre vor seinem Tod, ist Rudi Dutschke noch einmal darauf zu sprechen gekommen, mit welcher Blindheit die westliche Linke, für die “der Imperialismus” nur amerikanisch sein konnte, in Bezug auf die tschechische Erneuerungsbewegung geschlagen war:

Zum Mai ’68 in Frankreich habe ich nicht viel zu sagen; zunächst einmal deshalb, weil ich damals im Krankenhaus lag; vor allem aber, weil das entscheidende Ereignis des Jahres 1968 nicht Paris war, sondern Prag. Damals waren wir unfähig, dies zu sehen.10

Während die “neue Linke” im Westen den Marxismus wiederbeleben wollte, indem sie ihn von der Schlacke des Stalinismus befreite, bemühten sich die Tschechen, ihn so weit wie möglich zu verwässern und aufzulösen. Der “Sozialismus mit menschlichem Antlitz” konnte sich den großen Denkströmungen anpassen, die in den Sechziger Jahren in Mode waren: Von der Psychoanalyse zum Strukturalismus, vom progressiven Christentum zum “nouveau roman”, von der “wissenschaftlich technischen Revolution” und der “Konvergenztheorie” Radovan Richtas11 bis hin zur Neudefinition des Europäertums.

Der Pariser Mai wollte Kultur und Universität in den Dienst eines politischen Projekts stellen. In der Tschechoslowakei standen die Sechziger Jahre dagegen für einen Prozess der (vorübergehenden) Emanzipation der Kultur von den Zwängen der herrschenden staatlichen Strukturen und wurden so zum Vorspiel für die Umwälzungen des Jahres 1989. Diese Distanzierung der Kultur gegenüber der Ideologie der Macht besaß auch eine eminent politische Bedeutung. Die politische Krise des Regimes beginnt nicht erst mit der Wahl Dubceks an die Spitze der Partei am 5. Januar 1968, sondern bereits mit den Reden Ludvík Vaculíks, Milan Kunderas und Antonín Liehms auf dem Schriftstellerkongress im Juni 1967, in denen der Bruch zum Ausdruck kam.12 Die emblematische Zeitung des Pariser Mai ’68 hieß Action, im Prager Frühling waren es die Literární noviny, die Zeitung des Schriftstellerverbands, die damals in einem Land mit 15 Millionen Einwohnern eine Viertelmillion Exemplare verkaufte. Die Sechziger Jahre werden ein “Goldenes Zeitalter” der tschechischen Kultur bleiben, sei es nun in Bezug auf die Literatur (Josef Skvorecky, Ludvík Vaculík, Milan Kundera, Ivan Klima) oder das Theater (Václav Havel, Pavel Kohout, Otomar Krejca), ohne natürlich die “nouvelle vague” des tschechischen Films zu vergessen (Milos Forman, Ivan Passer, Jaromil Jires, Vera Chytilová, Jan Nemec, Jirí Menzl) 13. Diese Kultur bietet eine weitere Parallele oder einen weiteren Kontrast zu dem, was damals in Frankreich geschah. Der außerordentliche Reichtum des kulturellen Lebens wurde ermöglicht durch außergewöhnliche Umstände, in denen sich die schöpferische Arbeit von den Zwängen der Zensur emanzipierte, ohne denen des Markts zu erliegen. Dieser Reichtum steht in deutlichem Kontrast zur relativen kulturellen Sterilität der beiden Jahrzehnte nach 1989 – in Prag wie in Paris.

Dem kulturellen Erbe, das sich mit dem Jahr 1968 verbindet, war nach der Niederlage der beiden Frühlinge ein unterschiedliches Schicksal beschieden: In Prag wurde es vom “Normalisierungs”-Regime systematisch zerstört, während seine wichtigsten Repräsentanten verfolgt, verboten oder ins Exil getrieben wurden. In Frankreich hingegen – sowie im Westen ganz allgemein – fand dieses Erbe weit über die Niederlage der radikalen Utopie des Mai ’68 hinaus Fortsetzungen: Die ökologische Politik, der Feminismus, der Multikulturalismus, aber auch die Infragestellung des traditionellen Familienmodells oder die neue antiautoritäre Pädagogik in der Schule sind Indizien für den dauerhaften Einfluss dieses Erbes im Laufe einer Generation, die schließlich die wichtigsten Institutionen des Landes im Kultur wie im Medienbereich besetzte. Die tschechischen Achtundsechziger hingegen sind eine verlorene Generation. Als sich die Dinge nach zwanzig Jahren änderten, nahmen einen neuen Anlauf, mit wenig Erfolg. Ihre französischen Pendants hatten es hingegen verstanden, die politische Niederlage des Mai ’68 in einen kulturellen Sieg umzumünzen, dessen Labels “bobo” (bourgeois bohême) und “liblib” (“libéral/libertaire“) Chiffren für die Wandlungen einer Generation darstellen, die sich angesichts ihrer “Hegemonie” (im Sinne Gramscis!) über die kulturellen und politischen Eliten Frankreichs in Selbstzufriedenheit sonnt.

Jenseits aller Missverständnisse gibt es aber auch Unterschiede in dem, was nach den Bewegungen von 1968 kam. Das Nachleben des Prager Frühlings bestand zunächst einmal im Scheitern der Reform innerhalb des kommunistischen Systems, das Dubceks “revisionistische” Perspektive im Osten endgültig diskreditierte, während es im Westen gleichzeitig die Eurokommunisten inspirierte (auf deren Zug die Kommunistische Partei Frankreichs mit einiger Verspätung aufzuspringen versuchte, im Streben nach Glaubwürdigkeit für ihre Billigung des “Gemeinsamen Programms”, das in den Siebziger Jahren zum Referenzpunkt der linken Parteien werden sollte).

Was vom Scheitern der Prager 1968er-Bewegung übrigblieb, war “der klinische Tod des Marxismus in Europa” (Leszek Kolakowski) sowie die Perestroika Gorbatschows, die zwanzig Jahre zu spät kam. Es blieb auch jener andere ’68er Frühling, der im Wiederaufbau der Zivilgesellschaft und im “wiedergefundenen staatsbürgerlichen Engagement” bestand, wie Václav Havel in Erinnerung rief.14 Ivan Sviták fasste das “andere” Programm von 1968 so zusammen: “Von der totalitären Diktatur zur offenen Gesellschaft, zur Abschaffung des Machtmonopols, zur wirksamen Kontrolle der Machtelite durch eine freie Presse und die öffentliche Meinung. Von der bürokratischen Lenkung der Gesellschaft (…) zur Anwendung der grundlegenden Menschenrechte.”15 Genau dieses Erbe, das den Rahmen des offiziellen Marxismus sprengte, sollte zehn Jahre später seine Fortsetzung in der Dissidentenbewegung finden.

Indem sie die Menschenrechte, die Bürgergesellschaft und die europäische Kultur in den Mittelpunkt stellte, hat die mitteleuropäische (insbesondere tschechische) Dissidentenbewegung im neuen politischen und kulturellen Kontext nach 1968 die antitotalitäre Linke in Frankreich in nicht zu vernachlässigendem Maße beeinflusst. Letztere entdeckte, dass der Mai ’68 rückblickend auch eine antikommunistische Komponente umfasste, denn die linke Bewegung bekämpfte die Strategie der PCF, die vor allem dem Moskauer Bestreben die Treue hielt, die “Ordnung”, das heißt die Teilung Europas aufrechtzuerhalten. Die post ’68er “Neuen Philosophen”, die die Ursprünge der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, des Gulag und der “Barbarei mit menschlichem Antlitz” (Bernard Henri Lévy) untersuchten, verfolgten die intellektuellen und politischen Abstammungslinien des sowjetrussischen Bolschewismus bis zu den deutschen “Meisterdenkern” (André Glucksman)16, bis ins Zeitalter der Aufklärung zurück, wobei sie unterwegs auf einige Themen von Denkern aus der tschechischen Dissidentenbewegung wie Jan Patocka und Václav Havel stießen. Andere wie Alain Finkielkraut und Danièle Sallenave (in der Zeitschrift Le Messager européen) waren in den 1980er Jahren empfänglich für die Wiederentdeckung Mitteleuropas als “gekidnappter Westen” (Kundera), um Europa als Kultur und Zivilisation neu zu denken und nicht nur als “gemeinsamen Markt”. Auf diese Weise haben der Antitotalitarismus, die Menschenrechte sowie die Wiederentdeckung der Bürgergesellschaft und der europäischen Idee dazu beigetragen, dass die ehemaligen Achtundsechziger aus Paris und aus Prag mit einiger Verspätung wieder zusammenfanden. Paradoxerweise hat dies den Zusammenbruch des kommunistischen Blocks und den Beitritt der postkommunistischen Länder zur Europäischen Union nicht überlebt. Und zwar genau deshalb, weil dieser Beitritt als “Osterweiterung” der bestehenden Union und nicht als Wiedervereinigung Europas verstanden wird.

Dieser Artikel ist ein Vorabdruck aus der nächsten Ausgabe der Zeitschrift Transit (Nr. 35, Sommer 2008).

Milan Kundera, "Cesky udel", Václav Havel, "Cesky udel?", in: Literární noviny, Nr. 52/1 vom 27.12.2007. Seit dem Wiederabdruck dieser Texte veröffentlichte Literární noviny ein Dutzend weiterer Beiträge zu dieser Debatte. Chefredakteur Jakub Patocka stellt in seinem einleitenden Aufsatz die Frage, wann die tschechische Debatte endlich wieder dahin gelangen wird, wohin man sich vor vierzig Jahren schon einmal vorgearbeitet hatte (die drei genannten Texte deutsch, übersetzt von Markus Sedlaczek, in: Lettre International, Nr. 80 / 2008: Milan Kundera, "Das tschechische Los", S. 42 44; Václav Havel, "Ein tschechisches Los?", S. 45 46; Jakub Patocka, "Es war einmal in Prag", S. 40 41. (Vgl. auch den zweiten Beitrag von Milan Kundera, Radikalismus a exhibicionismus, deutsch: "Irrtümer und Hoffnungen. Über echten Kritizismus, Radikalismus und moralischen Exhibitionismus", übersetzt von Markus Sedlaczek ebd., S. 47 49 (A.d.Ü.)).

Paul Berman, "Les révoltes de 1968. Une fraternité incohérente", in: François Fejtö und Jacques Rupnik (Hg.), Le Printemps tchéchoslovaque 1968, Brüssel 1999, S. 267; siehe auch das dem intellektuellen und politischen Erbe von 1968 gewidmete Buch von Paul Berman, The Tale of Two Utopias, the political journey of the generation of 1968, New York 1996.

Vgl. das einleitende Kapitel von Jean Pierre Faye zu Prague, la révolution des Conseils ouvriers, Paris 1977, S. 8 56 (die von V. C. Fisera herausgegebene Dokumentensammlung liefert wichtige Grundlagen, um die Dynamik des tschechischen Frühlings zu verstehen, der seine radikalste Dimension in der Rätebewegung nach dem sowjetischen Einmarsch erreichte).

Milan Simecka, Obnovení porádku (Die Restauration der Ordnung), Köln 1979.

Pierre Grémion, Paris / Prague. La gauche face au renouveau et à la régression tchéchoslovaque, 1968 1978, Paris 1985.

Ivan Sviták in: Student (Prag) vom 10. April 1968.

Milan Kundera, Vorwort zur französischen Ausgabe des Romans von Josef Skvorecky, Mirácle en Bohême, Paris: Gallimard 1978, S. 4 (Orig. Mirákl, Toronto 1978).

Milan Kundera, Zivot je jinde, Paris 1973 (deutsch: Das Leben ist anderswo, übersetzt von Susanna Roth, Frankfurt am Main 1992); ders., Zert, Praha 1967 (deutsch: Der Scherz, übersetzt von Susanna Roth, Frankfurt am Main 1989).

Milan Hauner, in: Student (Prag), 24. April 1968.

In einem Gespräch, das der Autor im Mai 1978 in Frankfurt mit Dutschke führte, bestand dieser darauf, dass nicht der Pariser Mai entscheidend gewesen sei, sondern das, was in Prag geschah, und dass es ein großer Fehler der Protestbewegungen gewesen sei, dies nicht begriffen zu haben. (Gespräch mit Jacques Rupnik vom Mai 1978, veröffentlicht in einem Dossier über die "Bilanz 1968-1988", in: L'Autre Europe, Nr. 20 [1989], S. 115 117; in deutscher Übersetzung abgedruckt im vorliegenden Heft).

Vgl. Radovan Richta, Civilisace na rozcestí (Zivilisation am Scheideweg), Prag: Svoboda 1968 (vgl. deutsch: Richta Report. Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Die Auswirkungen der technisch wissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhältnisse, hg. von Radovan Richta und Kollektiv, übersetzt von Gustav Solar, Frankfurt am Main 1971).

Vgl. Reden zum IV. Schriftstellerkongreß des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes, Prag, Juni 1967, Frankfurt am Main 1968 (A.d.Ü.).

Vgl. Antonín Liehm, Closely Watched Films. The Czechoslovak experience, White Plains (New York) 1974.

Václav Havel, "La citoyenneté retrouvée", Einführung zu François Fejtö / Jacques Rupnik (Hg.), Le Printemps tchéchoslovaque 1968, a.a.O., S. 11 13.

Ivan Sviták, in: Student (Prag), 10. April 1968.

Bernard Henri Lévy, Barbarie à visage humain, Paris 1977 (deutsch: "Barbarei mit menschlichem Antlitz", Reinbek bei Hamburg 1978); André Glucksman, Les maîtres penseurs, Paris 1977 (deutsch: Die Meisterdenker, übersetzt von Jürgen Hoch, Reinbek bei Hamburg 1978) (A.d.Ü.).

Published 16 May 2008
Original in French
Translated by Markus Sedlaczek
First published by Transit 35 (2008)

Contributed by Transit © Jacques Rupnik / Transit / Eurozine

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