Glaub mir, ich lüge

Die guten Seiten der falschen Nachrichten

Auf einmal war sie dann überall, die Nachricht unbekannten Ursprungs. Der würzige Informationshappen, den man einfach mit seinen Freunden teilen musste, weiterschicken, weitererzählen, weil er so farbig war, klebrig lustig und unwiderstehlich. Es ist unklar, ob vor der Wahl von Donald Trump zum 58. Dingsbums der Vereinigten Staaten jemand geglaubt hatte, all die tweets, posts und Links aus dem Netz, die man erhielt und weitersandte und in denen sich amüsant Vertrautes und verblüffend Neues so schön mischten, gäben reale Begebenheiten wieder. Nachher aber schienen sie wie Vorzeichen der Verwirrung, in der man sich plötzlich wiederfand. Waren die lustigen, grotesken Nachrichten etwas ganz Anderes, viel Ernsteres gewesen, Eintrittstickets in einen neuen Typ von Desorientierung und extrem rasch rotierender Unübersichtlichkeit, in der man zwischen wahr und falsch nicht mehr unterscheiden musste oder konnte, Hauptsache Drehzahl, Beschleunigung, retweets, reposts, Klicks und noch mehr Klicks?

So ungefähr wurde es jedenfalls in den letzten Monaten geschrieben, gebloggt und gedruckt. Das Oxford English Dictionary wählte «post truth», das Postfaktische, zum Wort des Jahres 2016, und George Orwells 1984 – «Ignorance Is Strength!» – erklomm in den USA die Bestsellerlisten. Soziale Netzwerke beschädigten die Demokratie, verkündete der kanadische Mediensoziologie Philip Howard im Interview mit der Süddeutschen, weil dort bots – automatisierte Nutzerkonten professioneller Akteure – Inhalte für fragmentierte Öffentlichkeiten produzierten und die Unterscheidung zwischen Nachricht und Verschwörungstheorie systematisch auflösten.1 Das Beispiel ließe sich leicht vervielfachen, «Fake News» wurden binnen weniger Wochen medial allgegenwärtig, auch in einem kleinen Land in den Alpen: Die Jahrestagung der Schweizer Stiftung für die Geschichte audiovisueller Medien im Frühsommer 2017 fand ebenso unter diesem Schlagwort – mit drohendem Fragezeichen versehen – statt wie eine Anzeigenkampagne der Schweizer Zeitungsverleger. «Fake News? Nicht in der Schweizer Presse.» Denn dort, so konnte man darunter weiterlesen, analysierten Redakteurinnen und Redakteure das Zeitgeschehen, überprüften Quellen und lieferten Hintergründe. «Damit Sie Lügen von Fakten unterscheiden können.» Da haben die Schweizer ja noch einmal Glück gehabt.

Das ist das Beruhigende an den Nachrichten über die Falschnachrichten: Sie versichern dem Benutzer nicht nur, dass er gerade auf dem richtigen Kanal, der richtigen Website und im richtigen Printformat sei, aus dem er die Wahrheit erfahre. Sondern auch, dass es sie selbstverständlich weiterhin gebe, die guten alten Standards der Wahrhaftigkeit. So wie die Digitalisierung nachträglich alle älteren Texte, Bilder und Filme in «analoge» Medien verwandelt hat, erzeugt das Reden über Fake News als beunruhigendes neues Phänomen eine heile Welt im Nachhinein: Als die Nachrichten noch zuverlässig, die Berichterstatter wahrhaftig und die Trennung zwischen Wirklichem und Erfundenem noch wasserdicht war – wie bei «dem Analogen» eine in der Retrospektive erzeugte, überschaubare, geordnete Wirklichkeit.

Sie ist natürlich leider jetzt auf immer verloren, aber zumindest war sie einmal da. Ich würde den realen Trost, den solche melancholischen Bestandsaufnahmen spenden, nicht unterschätzen. Allein schon deswegen, weil viele Mediennutzer im Moment nicht viel anderes haben, so wie es aussieht. Die Furcht vor den Fake News als «Angriff der Meinungsroboter», so der oben zitierte Mediensoziologie, erzeugt auf diese Weise die anheimelnden Wahrnehmungsbiotope von gestern. Damals, als noch nicht alle auf Twitter und Facebook waren, sondern … was genau taten?

1.

Werfen wir einen Blick zurück. Wann waren sie denn zuverlässig, die Nachrichten? Der gefälschte Brief ist offenbar so alt wie die Systeme der Nachrichtenübermittlung überhaupt: Denn die Briefschreiber der Antike und Spätantike benutzten bereits ziemlich raffinierte Techniken, um die Echtheit einer Nachricht abzusichern – etwa die litterae formatae, in denen Buchstaben aus dem Namen des Ausstellers, des Empfängers und des Überbringers in einem komplizierten Verfahren verschlüsselt und am Ende des Briefs wiederholt wurden. Diskret im Text versteckte Botschaften als Echtheitszeichen waren seit dem 11. Jahrhundert gebräuchlich; Geheimschriften ebenfalls. Transportiert wurden diese Nachrichten im Mittelalter von Kaufleuten, Pilgern und Ordensangehörigen; mit der starken Verbreitung schriftlicher Dokumente ab dem 14. Jahrhundert schufen die Städte und Territorialfürsten ihre eigenen Kommunikationssysteme. In Florenz, Venedig und anderen italienischen Städten wurden ebenfalls im 14. Jahrhundert besondere Briefkästen eingerichtet, die sogenannten tamburi, die für nichts anderes als für anonyme Denunziationen bestimmt waren – eine oft genutzte Möglichkeit zum Anschwärzen der Mitbürger, aber auch zum Anzeigen korrupter Beamter. In einer Welt, in der jeder juristisch gültige Beweis ein Schriftstück sein musste, hieß Schreiben und Verschicken, Wirklichkeit zu erzeugen, und war gleichbedeutend mit realer politischer Macht.

Die rasante Zunahme der Nachrichten – in gut erhaltenen städtischen Archiven nördlich der Alpen haben sie sich zwischen 1430 und 1500 mehr als verdreißigfacht! – ging parallel zur Einrichtung offiziell bestallter Nachrichtenüberbringer, der Diplomaten. Sie waren gleichzeitig exploratores, also diskrete Nachrichtenbeschaffer für ihre Regierungen zuhause. (Wir würden Spione dazu sagen.) Noch schwerer kontrollierbar als dieses Personal waren die Kanäle, auf denen die Informationen von und zu ihnen unterwegs waren. Die erhaltene Korrespondenz des 15. Jahrhunderts ist voller Hinweise auf die Unsicherheit des Briefverkehrs, auf verlorene und gefälschte Informationen. In den Nürnberger Archiven hat sich der Geheimcode erhalten, der in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts für den Austausch von Informationen zwischen der Reichsstadt und ihren Gesandten verwendet wurde. Die dringliche Beschaffung neuer Nachrichten hieß «Jagdhund», eine Lüge oder Unwahrheit wurde mit «Fuchs» wiedergegeben. Ein besonderes Wort hatten die Diplomaten für eine manipulierte, nur zur Täuschung des Gegners ausgestellte Nachricht parat: Sie hieß aff.2

Der immer intensivere schriftliche Nachrichtenaustausch am Ende des 15. und am Beginn des 16. Jahrhunderts machte aus den Informationen selbst ein gezielt eingesetztes Instrument zur Täuschung, eine Waffe. «Bläschen» nannte der venezianische Chronist und Tagebuchschreiber Marino Sanudo solche Nachrichten unklarer Herkunft, die er selbst wie besessen festhielt, oft viele Dutzend pro Woche. Seine Zeitgenossen hatten für diese rasante mediale Beschleunigung – immer mehr, immer schnellere Nachrichten – ein anderes Wort: «Praktick». Mittellateinisch practica bezeichnete eigentlich juristische und medizinische Verfahren; im Italienischen hieß pratticare Verhandeln oder Aushandeln, praticha meinte Vorgehensweise, Gebrauchsanweisung. Im Deutschen am Ende des 15. und am Beginn des 16. Jahrhunderts wurde der Begriff zum Schimpfwort. Die Stadt Bern klagte 1507 über französische Diplomaten, die betrügerisch und in geschwindigkeit practicierent, also täuschende Informationen verbreiteten. Die 1513 in Straßburg gedruckte Flugschrift Welsch Gattung beschrieb practick (übrigens zusammen mit einem anderen neuen Wort, vinantz – spekulative Geldgeschäfte) als italienische, vor allem venezianische, und französische Kunst der Täuschung. Wie die Korruption und die Sodomie (gemeint war der Sex zwischen Männern) komme sie aus Süden, wo man gepracticiert vil jar und tag. Diese bösen ausländischen Simulationen führten dazu, dass man nicht mehr zwischen wahr und falsch unterscheiden könne. Die gedruckten Propagandaschriften zur Kaiserwahl 1519 warnten ihre Leser, die Franzosen wollten die Wahl durch ihre geschwinden practicken manipulieren, und Reformatoren wie Luther und Melanchthon warnten in ihren Schriften eindringlich vor den prackticken der Katholiken, deren manipulierten Nachrichten man niemals trauen dürfe. «Ich habe diesem Brief mein Siegel aufgedrückt», klagte Erasmus von Rotterdam 1535 in einem Schreiben, «weil manche Leute begonnen haben, meine Handschrift so kunstvoll zu imitieren, dass die Fälschungen kaum entdeckt werden können.»

So sah der Medienwandel am Anbruch der Neuzeit – immer mehr und immer schnellere schriftliche Kommunikation, immer mehr und immer aktuellere gedruckte Flugschriften – aus der Sicht der zeitgenössischen Kommentatoren aus. Angesichts des overloads an Information hat Martin Luther 1527 versucht, den Gläubigen den richtigen Umgang damit beizubringen. Es gebe drei Arten von Nachrichten, erklärt er. Die ersten kämen von den Schutzengeln, die zweiten von Gott persönlich. Leider seien die aber vermischt mit denen des Satans, des Meisters der Verstellung und Nachahmung, so dass es wust durcheinander gehe und (man) nichts unterschiedlich erkenen kann. Wie die guten von den teuflischen Nachrichten unterscheiden? Ganz einfach, schreibt Luther. Der Teufel traue nämlich seinen eigenen Zeichen nicht, weil Gott seine Pläne immer wieder durchkreuze. Daher mache der Teufel seine Zeichen und Verheißungen mit solchen wankelnden worten heraus / das es, so geschehe oder nicht / er dennoch war habe. Und daran, an seinem doppeldeutigen Reden, könne man ihn erkennen.

Nachrichten sind also im Wortsinn Glaubenssache – nicht nur im 16. Jahrhundert. Nachrichten, hat der Literaturwissenschaftler John Carey 1989 geschrieben, glichen insofern religiösen Ritualen der Vormoderne, als sie ihren Konsumenten eine temporäre Ablenkung von alltäglichen Routinen verschafften und die Illusion einer Begegnung mit Ereignissen, die sehr viel größer, authentischer und relevanter erschienen als die des eigenen Lebens. Wie religiöse Traktate und Predigten früherer Jahrhunderte versorgten Nachrichten ihr Publikum mit einer konstanten Folge dramatischer Geschichten, die sich jenseits des unmittelbaren Alltags- und Wahrnehmungshorizonts abspielten.3 Und wie die Schreckbilder der vormodernen Religiosität seien diese Nachrichten gerade dann beruhigend, wenn sie von Schrecklichem berichteten; denn dieses Bedrohliche lasse das Vertraute des eigenen Alltags umso spürbarer werden, und lasse sich obendrein dazu gebrauchen, der eigenen Gruppe den Status eines bedrohten Opfers zuzuschreiben.

2.

Als zwei Jahrhunderte später, am Beginn des 19. Jahrhunderts, neue Drucktechniken und das billig gewordene Papier eine neue Medienrevolution auslösten, die der Zeitungen, waren ebenfalls nicht alle Zeitgenossen von der raschen Zunahme verfügbarer Informationen begeistert. «Die täglich an fünfzig verschiedenen Orten erscheinenden kritischen Blätter», so Johann Wolfgang von Goethe 1824 streng, erzeugten nur «eine Art Halbkultur der Massen»; für Talentiertere seien sie «ein böser Nebel, ein fallendes Gift». «Veloziferisch» nannte Goethe die neuen Medien, weil angesichts ihrer teuflischen Geschwindigkeit zwischen wahr und falsch nicht mehr unterschieden werden könne.4Ihren Erfolg hat das nicht verhindert: Neunzig Jahre später, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, erschienen alleine im Deutschen Reich mehr als 10 700 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von etwa fünf Milliarden Exemplaren pro Jahr. England, Frankreich und die Vereinigten Staaten hatten noch höhere Auflagezahlen. War alles, was darin stand, wahr und verlässlich?

Googles ngram-viewer verspricht seinen Benutzern, mit Hilfe eines (geheim gehaltenen) Algorithmus die Häufigkeit jedes Begriffs in digitalisierten englischsprachigen Texten zwischen 1800 und dem Jahr 2000 herauszufinden. Wer «Fake News» eingibt, erhält eine interessante Kurve, die hinter einigen kleinen Rundungen nach 1810 (Goethes Besorgnisse?), 1850 und 1900 mit dem Ersten Weltkrieg steil nach oben weist, um 1920 kurz absinkt und dann am Beginn der 1930er-Jahre erneut dramatisch steigt. Ihren absoluten Höhepunkt erreicht die Häufigkeit von «Fake News» 1939, um dann rasch wieder zu sinken. Zwischen 1950 und 1960 wäre der Begriff dann etwa so häufig wie zum Beginn des Ersten Weltkriegs gebraucht worden; nach 1990 geht es wieder leicht aufwärts, ohne aber je mehr als ein Drittel der Höchststände vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu erreichen.

1938, kurz vor dem Höchststand von Googles «Fake News»-Kurve, erschien Evelyn Waughs Roman Scoop.5 Ein etwas verträumter Lyriker wird wegen einer Namensverwechslung im Auftrag einer großen britischen Tageszeitung als Kriegsreporter in das exotische Land Ishmaelia geschickt. Auf dem Weg wird ihm über seinen berühmten Kollegen Wenlock Jakes berichtet. «Bekommt tausend Dollar die Woche. Wenn der irgendwo auftaucht, können sie bombensicher sein, dass es der Brennpunkt aller Neuigkeiten ist – solange er dort bleibt. Einmal fuhr Jakes los, um über die Revolution in einer Balkanhauptstadt zu berichten. Er fuhr Schlafwagen, wachte auf dem falschen Bahnhof auf, merkte es aber nicht, stieg aus, ging geradewegs ins Hotel und kabelte einen Bericht von tausend Worten über Straßenbarrikaden, brennende Kirchen, Maschinengewehre, ein totes Kind, das auf der menschenleeren Straße unter seinem Fenster wie eine zerbrochene Puppe mit gespreizten Gliedern dalag, und so weiter. In seinem Büro waren sie natürlich überrascht, dass der Bericht aus dem falschen Land kam, doch sie glaubten ihm und spritzten es in sechs landesweiten Auflagen mit Schlagzeilen heraus. Am gleichen Tag erhielten alle Sonderberichterstatter Europas Anweisung, sich auf die neue Revolution zu stürzen. Sie kamen in Scharen. Alles schien ganz friedlich zu sein, aber wenn sie das gesagt hätten, wären sie ihren Posten los gewesen, wo doch Jakes täglich tausend Worte Blut und Kanonendonner kabelte. Also sangen sie mit. Die Staatspapiere fielen, Panik an der Börse, der Ausnahmezustand wurde erklärt, das Heer mobilisiert, Hungersnot brach aus, es kam zum Aufstand, und in weniger als einer Woche war die prächtigste Revolution im Gange – genau, wie Jakes es geschrieben hatte. Das nenn’ ich Macht der Presse, bitteschön.»

Die Kriege des 20. Jahrhunderts waren Nachrichtenkriege, und die Zeitgenossen der Blütezeit der Massenpresse im Ersten und Zweiten Weltkrieg hatten viele Gründe, über Fake News nachzudenken. Die industrielle Verwertung von Pferdekadavern auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs durch besondere Apparate auf deutscher Seite inspirierte englische Kriegsberichterstatter 1917 zu der Meldung, die Deutschen stellten aus den Leichen der gefallenen feindlichen Soldaten Seife und Glycerin her. Erst 1925 gab die britische Regierung zu, dass es sich um eine Erfindung handelte. Die Geschichte kommt Ihnen vielleicht bekannt vor – aber woher? Bereits am Beginn der streng geheimen Ermordung von Juden im Rahmen der «Aktion Reinhardt» in Polen im Frühjahr 1942 kursierten Gerüchte, dass in den Osten Umgesiedelte dort umgebracht und zu Seife verarbeitet würden. In den ersten Nachrichten über den Holocaust, die im Herbst desselben Jahres in die USA gelangten, war von der Verwertung von jüdischen Kindern zu Seife, Leim und Düngemitteln die Rede: «Es gehört zur Wirkungsgeschichte der Seifenlegende», schreibt Joachim Neander in seinem 2005 erschienenen Aufsatz über die moderne Sage von Seife aus Judenfett, «dass sie dazu beigetragen hat, dass man auf alliierter Seite erst dann des Holocaust bewusst gewahr wurde, als es für ein Eingreifen schon zu spät war» – denn alliierten Militärs war das Motiv aus der Kriegspropaganda des Ersten Weltkriegs natürlich bekannt.

Dass die Geschichte von der Verwandlung menschlicher Körper in Seife das verzerrte Echo einer noch viel schrecklicheren realen industriellen Vernichtung war, der Versuch, unbeschreibliche Gewalt durch ein vertrautes Erzählmotiv auszudrücken, konnte sich im Herbst 1942 auf der anderen Seite des Atlantiks niemand vorstellen. Nach Kriegsende hat die Legende von der Seife aus Toten eine umso größere Verbreitung erlebt. «Aus den Körpern stellt man Seife her», sagt in Alain Resnais’ Film über die Vernichtungslager, Nuit et brouillard von 1955, die Stimme des Sprechers aus dem Off, «aus der Haut – …» Dann bricht er ab. Die von der deutschen Militärverwaltung im Rahmen der Kriegsrationierung bis 1945 hergestellte «Einheitsseife» mit dem Stempel RIF für «Reichsstelle für Industrielle Fette» hat in Museen und Gedenkstätten für die Geschichte des Holocaust ein lebhaftes Nachleben gehabt: Sie wurde dort als «Seife aus Judenfett» in Vitrinen schaudernden Besuchern vorgeführt, bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts.

3.

«The Daily Beast», der Name des Sensationsblatts aus Evelyn Waughs Roman, gibt es mittlerweile wirklich; es ist eine 2008 gegründete US-amerikanische Nachrichtenplattform im Netz. Es sieht ganz so aus, als wäre die Geschichte der Nachrichten von Anfang an auch gleichzeitig die Geschichte der Besorgnis über die Ununterscheidbarkeit zwischen Echtem und Gefälschtem angesichts der immer größeren Beschleunigung der verfügbaren Informationen – inklusive besonderer Verbeugung vor dem Meister der Verstellung, Verkehrung und Simulation, dem Teufel persönlich, der von Luther bis Goethe (und Evelyn Waugh) seine verlässlichen Auftritte im Nachdenken über Medien und die Wahrheit hat. Vielleicht, so könnte man als Historiker der Vormoderne vermuten, ist die Beschwörung des Teuflischen weitergewandert ins Reden über die technischen Möglichkeiten des jeweiligen Mediums. Klaus Honnef war sich jedenfalls 1987 im Katalog der Ausstellung «Blow Up» im Württembergischen Kunstverein Stuttgart ganz sicher, dass sich die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion endgültig aufgelöst hätten in der zeitgenössischen Flut an Bildern, die den Betrachter manipulierten, täuschten und überwältigten – nämlich denen der kommerziellen Werbung.

Die Nachricht als Ware des neuen Mediums Zeitung hatte schon im 19. Jahrhundert einen erfolgreichen Doppelgänger bekommen, nämlich die Werbung – nicht nur als deutlich kenntliche bezahlte Anzeige, sondern auch in der Form der als Nachricht getarnten «Réclame». Der Pariser Karikaturist Grandville hat 1844 die Vermählung von Massenpresse und Schleichwerbung als unanständige, aber profitable Hochzeit auf einem kolorierten Holzschnitt satirisch dargestellt. Die Zeitung ist als canard, als Ente personifiziert – ein Ausdruck für Falschmeldungen, der sich bis ins 20. Jahrhundert gehalten hat. Und im Hintergrund seines Bildes erscheint eine der ältesten Darstellungen des neuen Mediums für Werbung im öffentlichen Raum, die überhaupt erhalten ist: die Litfaßsäule – damals nur mit gedruckten Anzeigen und noch ohne Bilder, die kamen erst vierzig Jahre später mit neuen Vervielfältigungstechniken.

Die Werbung ist das Unbewusste der Medien; ihr weicher, weißer Bauch, ihre obszöne Unterseite, die von ökonomischer Abhängigkeit kündet. «Fake News? Nicht in der Schweizer Presse» – ich habe es oben schon zitiert. Was in der Neuen Zürcher Zeitung und im Zürcher Tages-Anzeiger im April 2017 als Nachricht aufgemacht war, war aber selbst eine Anzeige, platziert zwischen bezahlter Werbung für Kultur- und Kabarettprogramme und jenen kleingedruckten Anzeigen, in denen selbstverständlich nichts als die Wahrheit steht: «Heisse Stunden bei Beauty Latinas, Lilly 18, Kim 25» und «Privat & exklusiv, Schweizerin verwöhnt den Gentleman».

Glauben wir alles. Denn Werbung sagt immer die Wahrheit: Nicht unbedingt über die Produkte, die sie anpreist, aber über den Informationskanal, den sie nutzt. Es waren die Einnahmen aus der Werbung, die im 19. Jahrhundert die neuen Medien erst billig und damit massentauglich machten – eine Geschichte, die dem Internet-Benutzer des 21. Jahrhunderts eigenartig bekannt vorkommt. Das Fazit unseres Rückblicks ist also vielleicht recht schlicht. Verlässliche Information hat einen Preis. Wenn sie sehr billig oder umsonst daherkommt, hat schon jemand anderer diskret bezahlt. Wer von den teuflischen Mächten der Manipulation, Simulation und Täuschung redet, die dem Medium angeblich inhärent sind, hat vielleicht einfach keine Lust, vom Geld zu reden.

4.

Aber was am Lügen ist denn eigentlich so schlimm? «Die Natur», so Immanuel Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, habe «den Hang, sich gerne täuschen zu lassen, dem Menschen weislich eingepflanzt.» Der «gute ehrliche Anstand», so der Philosoph trocken, sei ohnehin äußerer Schein, und «alles, was man Wohlanständigkeit nennt, von derselben Art» – nämlich Simulation, Flunkern. Der Philosoph David Nyberg hat das zwei Jahrhunderte später, 1996, noch ein bisschen positiver formuliert: Die bewusste Manipulation sei ein wesentlicher Teil unserer Fähigkeit, die Welt zu organisieren, Koordinationsschwierigkeiten mit Andersdenkenden zu lösen und mit Unsicherheit und Schmerz umzugehen. Der Zürcher Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach hat unlängst dem Bildungsbereich als Ganzem attestiert, auf systematischer wechselseitiger Täuschung zu beruhen, auf systematischer Unaufrichtigkeit zum Wohl von Lehrern und Schülern.6

Jedes Unterhaltungsmedium stellt deswegen mit besonderem Stolz seine «special effects» aus – die Fähigkeit, seine Benutzer das Fiktive glauben zu machen. Das betrifft nicht nur Literatur, Filme und Fernsehen. 1983 formulierte Ben Bagdikian in The Media Monopoly, dass fünfzig Konzerne die gesamte westliche Medienindustrie kontrollierten; bei der vierten Auflage seines Buches, 1993, waren es weniger als zwanzig. Inzwischen kann man sie an einer Hand abzählen. Das Ergebnis sind geschlossene Kreisläufe und Cross-Marketing, thematische Konzentration und endlose Repetition von Themen, die dem Publikum schon vertraut sind und deswegen verlässlich für hohe Einschaltziffern sorgen, um die eigenen Werbekunden bei der Stange zu halten. «Monoform» hat der Regisseur Peter Watkins das 2003 in seinem Buch Media Crisis genannt. Was dabei als Neuigkeit erscheint, muss zur Herstellung von vertrauten Ängsten taugen: Deswegen all die Superschurken, Mordkomplotte und bedrohlichen Zukunftsvorhersagen, mit denen jeder Nachrichtenkanal seine eigene Wichtigkeit bestätigt. Verscheucht werden soll gleichzeitig damit ein ganz anderer, unaussprechlicher ennui – der Überdruss des Zuschauers an seinem eigenen Alltag und an seinem eigenen Körper.

Dagegen hilft natürlich auch, erst einmal den eigenen Facebook-Account zu checken. Der Siegeszug des Smartphones als dauerhaft am Körper getragenem Kommunikationsapparat hat einen alten Traum der Medienindustrie wahr gemacht. Der «Aus»-Knopf ist endgültig abgeschafft: Immer online sein, überall. Die Hälfte der Zeit, die man in den digitalen Kanälen verbringt, ist dabei umsonst, verschwendet. Man weiß aber nie vorher, welche Hälfte. Das ist natürlich ein Zitat, aber leicht gefälscht: David Ogilvy hat es 1963 formuliert, über die Werbung.

Aber Netz ist Werbung – und in den letzten zwanzig Jahren vermutlich das beeindruckendste Beispiel für die Fähigkeit der Werbung, in jeden neu entstandenen öffentlichen Raum einzudringen und ihn zu formen. Alle Informationsgewinnungskosten, so die Verheißung, werden abgeschafft, wenn Du nur die richtige Maschine hast und auf der richtigen Plattform bist. Soziale Netzwerke sind so gesehen eine sich selbst immer neu bestätigende Feedback-Schlaufe von Wünschen. Das Versprechen, das sie formulieren – mit allen verbunden sein, aber immer in der eigenen Gruppe geborgen; nach außen wirksam und ins Unendliche vervielfältigt, aber immer daheim, home – ist so anschmiegsam, wolkig und polymorph, dass es gar nicht entkräftet werden kann. Auch wenn es vielleicht ein bisschen gelogen ist.

5.

Die digitalen Kanäle sind bei all ihren wunderbaren Qualitäten ein Aufmerksamkeitsraum, den man mit vielen anderen teilt: Das macht den Einzelnen zur besser informierten Person, vermindert aber nicht die hypnotische Wirkung, die erfolgreiche Zeigegesten auf ein solches Kollektiv von Zuschauer-Nutzern haben. Wie bei professionellen Zauberkunststücken passieren die entscheidenden Handlungen nicht im geheimen Hinterzimmer, sondern sichtbar vor aller Augen – nur schauen wir nicht hin. Also nicht Unsichtbarkeit (denn die vermittelt ja selbst eine deutliche Botschaft, nämlich Dunkelheit, no signal, «Du siehst nichts»), sondern Zerstreuung, Ablenkung und Werbung. Jede Menge Werbung. Ein erfolgreicher Praktiker hat 2012 geschätzt, dass mindestens 40 Prozent der in Blogs und sozialen Netzwerken kursierenden Informationen nicht von Privaten, sondern von Firmen zu Marketingzwecken erzeugt würden. Trust me, I’m Lying heißt sein Buch: Confessions of a Media Manipulator.

Vielleicht ist die Aufregung über die «Fake News» also eine richtig gute Nachricht. Nach den Netzfantasien der 1990er-Jahre, dass gegenseitige Verkabelung und ununterbrochenes Online-Sein der einzige Weg zur politischen Befreiung, Selbstverwaltung und Vergesellschaftung seien, erinnert die Panik über die drohende Herrschaft der Simulation heute daran, dass die kollektive Wahrnehmung auch ihre Schattenseiten hat. Vor allem dann, wenn sie umsonst ist.

Und das bringt uns ganz am Schluss noch einmal in das kleine Land in den Alpen zurück. Dort wollten am 26. April 2017 ziemlich viele Leute den Schweizer Zeitungsverlegern lieber doch nicht glauben, dass die Nachrichten bei ihnen in den besten Händen wären. Gratis wollten sie auch nichts. Im Gegenteil, sie bezahlten: eine Million Schweizer Franken innerhalb von 12 Stunden, um ein werbefreies Online-Magazin zu starten, von dem die Freiwilligen nicht viel mehr wussten als den Namen. Der kommt – woher denn sonst? – natürlich ebenfalls aus der Vergangenheit: Republik.

Zur Belohnung hat die Neue Zürcher Zeitung, emsig auf der Suche nach der Wahrheit, die Unterstützer des Projekts am folgenden Sonntag erst einmal mit denen von Donald Trump verglichen. Da ist er wieder, der Teufel, der große Manipulator: Schon lange war er nicht mehr so nötig wie heute.

«Angriff der Meinungsroboter», in: SZ, 7. April 2017.

Fritz Wagner: «Nürnbergische Geheimschrift im 15. und am Beginn des 16. Jahrhunderts», in: Archivalische Zeitschrift 9 (1884), S. 15–62.

John Carey (Hg.): The Faber Book of Reportage. London: Faber and Faber 1989.

Zitiert nach Hanns Zischler und Sara Danius: Nase für Neuigkeiten. Wien: Zsolnay 2008, S. 84; Manfred Osten: «Alles veloziferisch» oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit. Frankfurt am Main: Insel 2003.

Auf Deutsch 1953 erschienen als Die große Meldung, 1988 als Der Knüller und 2014 unter dem Originaltitel.

Roland Reichenbach: «Tausch und Täuschung», in: Merkur 818 (Juli 2017), 61–68.

Published 6 November 2017
Original in German
First published by Wespennest 173 (2017)

Contributed by Wespennest © Valentin Groebner / Wespennest / Eurozine

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