Dutschkes ungarischer Freund

Ein Gespräch mit Gábor Révai

Gábor Révai, Sohn des führenden kommunistischen Politikers und Theoretikers Jószef Révai, war von 1966 bis zu dessen Tod eng mit dem westdeutschen Studentenführer Rudi Dutschke befreundet. Gábor Révai über seine Freundschaft mit einem “besessenen Denker”.

Der folgende Text handelt nicht vom Fragenden. Trotzdem ist dieses Interview nicht wirklich verständlich, wenn wir im Vorhinein nicht erwähnen, unter welchen Umständen er den Befragten kennen lernte und welchen Einfluss dieser auf das Erwachen seines Geistes in der späten Pubertät hatte.

Wir befinden uns im Jahre 1966, die Russischlehrerin (ungebrochener Glaube, 40 MunkásStarke filterlose Zigaretten, zu deutsch: Arbeiter. am Tag, vielleicht Kossuth,Ebenfalls filterlose Zigaretten, weniger stark als die Munkás. abgetragener Kittel, die Hymne des Weltjugendtreffens am Anfang der Stunde) lädt Schüler der 3. Klasse des Rákóczi-Gymnasiums zum damals erstmals stattfindenden Selbstbildungszirkel, den man – ungewöhnlicherweise – Marxistischer Zirkel nennt. Das Ganze hat etwas Geheimnisvolles, denn der Sohn von RévaiJószef Révai (1898-1959), ein führender Kommunist (Wien, Berlin, Moskau) der Zwischenkriegszeit und Chefideologe der ungarischen kommunistischen Partei von 1945 bis 1956. wird ihn leiten, der gerade maturiert hat und Philosophie studiert. Zuhause frage ich nach. Meine Eltern haben Gábors Vater persönlich gekannt: “Er war ein Hardliner, unglaublich gebildet, ein scharfer Geist. Wir hatten großen Respekt vor ihm, er beschämte einen ständig”, meinten beide übereinstimmend. Braucht es mehr, um Interesse zu wecken? Das pubertäre Revoltieren regt sich ohnedies bereits (Warum wohnen wir am Rosenhügel?Budapests eleganteste und teuerste Wohngegend, ein Villenviertel. Wozu der Fahrer, der Urlaub in Balatonöszöd?Urlaubsort am Balaton/Plattensee, der der Nomenklatura vorbehalten war.), während man – trotz vernachlässigbarer Gewissensbisse – fröhlich den Rosenhügel bewohnt, samt Fahrer, samt Balatonöszöd.

Ich war gespannt, was der Kreisleiter zu meinem Dilemma sagen würde. Ähnliches dachten sich auch meine Schulkameraden, denn bald fanden sich etwa zehn Jugendliche zusammen, die meisten aus Kader-Familien.
Ein gut aussehender, lässiger Typ betrat den Raum, sein Lächeln war spöttisch, er sah aus wie Mick Jagger, was damals unglaublich gut ankam. Die Mädchen waren sofort hin und weg, die Jungs bekamen Magenkrämpfe vor Eifersucht. Wir hatten älteren Jungs gegenüber ohnehin keine Chance, aber als sich herausstellte, dass Gábor in einem Atemzug Dinge wie “Diequellendesmaterialismusundempiriokritizismusimantidühring” aussprechen konnte, fühlte ich, das war das Ende. In diesem Zirkel würde man sich ohne Wissen nicht herausreden können wie in den Schulstunden, keine Chance, man musste lesen. Sehr bald stellte sich heraus, dass Gábor sich nicht damit zufrieden gab, dass wir mit leninschen Wortfetzen glänzten, die wir von unseren Eltern gehört hatten (wer sind die Volksfreunde, der Renegat Kautsky etc.), oder dass wir den Klatsch und Tratsch aus dem Innenleben der Nomenklatur wiederkäuten. Nein, er wünschte uns zu den “reinen Quellen” zurückzuführen, er wollte keinen Salon für Kader, aber seltsamerweise auch keine Gruppe junger Verschwörer, die ihre Eltern hassten. Er hetzte nicht und rekrutierte nicht, obwohl er – wie wir später erfuhren – zu dieser Zeit bereits in die maoistische Konspiration involviert war. Warum er uns davor bewahrte, haben wir bis heute nicht diskutiertŠ

In den vergangenen vierzig Jahren begegneten wir uns hie und da, doch ein längeres Gespräch ergab sich zuletzt im Sommer 1968, kurz nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei. Er hatte seinen Prozess1968 wurde eine so genannte “maoistische” Gruppe, sieben Studenten verschiedener Budapester Universitäten, wegen staatsfeindlicher Verschwörung angeklagt, Gábor Révai wurde zu sieben Monaten bedingter Haftstrafe verurteilt. bereits hinter sich. Ernüchtert versuchte er, meinen Freund GrischaSohn von András Hegedüs, ungarischer Ministerpräsident von 1955 bis 1956. In den Sechzigerjahren wurde Hegedüs zu einem der führenden Soziologen Ungarns. 1968 demonstrierte er gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei. und mich auf den Straßen des Rosenhügels spazierend (wo sonst?) davon zu überzeugen, dass es keine andere Lösung gäbe, dass der proletarischen Revolution notwendigerweise eine bürgerlich-demokratische Ordnung vorausgehen müsse. Ich erinnere mich, dass diese Aussage in meinen Ohren viel zu “sozialdemokratisch” klang. Es mussten einige Wochen vergehen, bis ich diese kühne These annahm. Kurze Zeit, nachdem Dubcek aus Moskau wieder nach Hause durfte, doch noch lange bevor er nach Ankara verbannt wurde, konnte ich nicht mehr nicht Révais Meinung sein. Wir lebten schnell.

2008 brachte uns der Jahrestag von 1968 erneut zusammen. Wir sprachen über Rudi Dutschke, seinen Freund, den er – aus Bescheidenheit oder aus Vorsicht? – damals nie erwähnt hatte.

János Mátyás Kovács

János Mátyás Kovács: Wie hast du Rudi Dutschke kennen gelernt?

Gábor Révai: Es war im Jahr 1966. Dutschke bereitete an der Berliner Freien Uni gerade seine Dissertation über die linken Theoretiker der zwanziger Jahre vor, über Korsch, Gramsci, Lukács und so weiter, bis hin zu meinem Vater. Im Frühjahr kam er nach Budapest, um mit Lukács zu sprechen. Ihn durfte damals schon jeder aus dem Westen besuchen. Rudi wohnte bei Ferenc Jánossy, Lukács’s Adoptivsohn, aber Ferkó1 und seine Frau Mária Holló waren ihm zu alt, er war gerade 26. Sie wohnten unweit von uns, im 12. Bezirk, und offensichtlich hatte er am Abend Lust, ungarische Jugendliche kennen zu lernen. Da war ich als junger Linker bei der Hand.

JMK: Der nebenbei mit der Familie Lukács befreundet warŠ

GR: Später habe ich viel Lukács übersetzt, aus dem Deutschen ins Ungarische, und auch umgekehrt, für Luchterhand. Damals jedoch kannten sie mich nur, weil meine Mutter mich an meinem achtzehnten Geburtstag zu Lukács mitgenommen hatte, der mir als Geschenk Die Eigenart des Ästhetischen signierte. Mit Ferkó spielte ich häufig Schach, damals konnte ich das ganz gut, ich war ein ebenbürtiger Gegner. Wahrscheinlich machte es unter den Budapester Intellektuellen die Runde – und ich verheimlichte das auch nicht –, dass ich ein junger Linker war. Ich ging zu den Jánossys hinüber und wir begannen uns mit Rudi zu unterhalten, der dann sofort ins Haus meiner Familie übersiedelte. Er wohnte ein paar Tage bei uns, und wir diskutierten unentwegt. Unsere Ansichten den Marxismus betreffend stimmten absolut überein, aber er bewegte sich auf einem beeindruckenden Niveau. Ganz davon zu schweigen, dass er Dinge über meinen Vater wusste, von denen ich bis dahin nie gehört hatte. Ich bat ihn, mir die Schriften meines Vaters zu schicken, was er auch tat. Als er 1967 zum zweiten Mal nach Ungarn reiste, kam er bereits als Freund.

JMK: Wenn ich richtig rechne, warst du damals schon in die maoistische Konspiration involviert. Es würde mich interessieren, ob du ihm das verraten hast.

GR: Um Missverständnissen vorzubeugen, 1966 gab es noch nichts zu konspirieren.

JMK: Aber du hast schon den Marxistischen Zirkel abgehaltenŠ

GR: Ja, wir veranstalteten auch vietnamesische Sonntage [eine Variante des “kommunistischen Samstags², das dabei eingenommene Geld ging – so hofften wir – an den Vietkong. Anm. JMK], die Bewegung existierte bereits als loser Kern. Es kann auch sein, dass bereits konspiriert wurde, doch das wurde auch vor mir geheim gehalten. Unsere Bewegungen waren denen der Deutschen sehr ähnlich, man denke nur an die Proteste gegen den Vietnamkrieg.

JMK: Habt ihr auch darüber gesprochen, wie man eine Jugendbewegung mobilisiert? Über die politischen Techniken des Widerstandes?

GR: Ich glaube, es ging ausschließlich darum. Wir politisierten heftig. Mein ganzes Wesen war durchdrungen von Politik, seines sowieso. Ich zeigte ihm nicht die Sehenswürdigkeiten von Budapest auf Spaziergängen im Burgviertel, sondern wir saßen nachts im Zimmer und diskutierten. Und ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir uns gestritten hätten.

JMK: In eurem späteren Briefwechsel2 sehe ich keine Spur eines StreitsŠ

GR: Das siehst du richtig. Das gemeinsame “revolutionäre Feuer” hatte uns derart ergriffen, dass Unterschiede in unseren Ansichten nicht deutlich wurden. Wären wir jedoch näher darauf eingegangen, was wir und was die Westberliner APO an China schätzten, hätten sich die grundsätzlichen Unterschiede gezeigt. Uns gefiel die antisowjetische Haltung, die radikale Orthodoxie, ihnen imponierte eher die “Hundert-Blumen-Bewegung” der Kulturrevolution. Sie und wir haben die chinesischen “Genossen” unterschiedlich verstanden und missverstanden.

JMK: Aus den Briefen gewinnt man den Eindruck, dass hier ebenbürtige Partner ihre Gedanken austauschen, Dutschke schreibt sogar das weisst du Gábor wahrscheinlich besser. Du aber hattest Dutschke als “Ersatzvater” auserkoren (obwohl euer Altersunterschied lediglich sechs oder sieben Jahre beträgt). Das geht aus einem Brief hervor, den du an Dutschkes Mentor Helmut Gollwitzer geschrieben, aber nie abgeschickt hast. Du sahst in ihm den Hüter deines linken Gewissens, als du Anfang der siebziger Jahre einen anderen Weg einschlugst.

GR: Der Gollwitzer-Brief zeigt, dass alles, was ich überhaupt von meinem Links-Sein bewahrte, an Dutschkes charismatische Persönlichkeit gebunden war. Der Anschein von Ebenbürtigkeit kommt wahrscheinlich daher, dass ich offenbar unheimlich überheblich war, und er ein unglaublich guter Mensch. Trotz seiner revolutionären Art verströmte er eine christliche Liebe. Später hat er auch seinem Attentäter verziehen. Aber es bestand ein erheblicher Bildungsunterschied zwischen uns beiden, auch in der Form, wie uns unsere Bildung zuteil wurde. Bei mir wurzelte diese jugendliche politische Verirrung einerseits in meinem väterlichen Erbe, das es ganz selbstverständlich weiterzuführen galt. Ich formuliere das einmal so – und ich schäme mich dafür auch im Nachhinein noch: Mein Vater wurde in mir wiedergeboren. Auf der anderen Seite gab es diesen Freundeskreis, heute würde ich ihn als Gruppe Andersdenkender bezeichnen, der aus älteren und klügeren jungen Männern bestand, für die ich jenseits meiner bescheidenen geistigen Fähigkeiten am ehesten deshalb wichtig war, weil ich der Sohn meines Vaters war. Ich würde nicht sagen, dass sie mich bewusst als Schutzschild benutzten; aber für sie war es jedenfalls eine Bestätigung, dass auch der Sohn Révais dabei war. Das war objektiv so, ich hatte keine eigene Überzeugung, sondern ein ererbtes und von außen bestärktes Weltbild. Außerdem war, sagen wir, auf der abstrakten Ebene von “Staat und Revolution” alles an seinem Platz, mein Weltbild konnte sich auf Vorgegebenes beziehen, und wenn nicht, dann “umso schlimmer für die Tatsachen” [deutsch im Original – Anm. d. Übers.]. Für mich fiel dieser geistige Überbau später in sich zusammen, bei Dutschke war das ganz anders. Ich möchte ihn nicht nachträglich idealisieren, wahrscheinlich war seine marxistische Überzeugung schon damals überholt, aber Cohn-Bendit beispielsweise war ein unbedeutender Anarchist gegen ihn. Dutschke hatte ein echtes marxistisches Wissen.

JMK: Wusstest du damals, dass er ein gläubiger Mensch war, der Sohn eines evangelischen Pastors? Wie passte das zu deinem atheistischen Wesen?

GR: Ja, ich wusste es. Seine Frau und er haben beide Theologie studiert. Mich hat man zwar atheistisch erzogen, aber auch tolerant. Meine Attitüde, die Welt retten zu wollen, war – besonders aus heutiger Sicht – viel eher leerer Glaube als eine evangelisch inspirierte Überzeugung.

JMK: Als Freunde habt ihr euch gegenseitig auch unterstützt: Du hast ihn für deine Korsch-Arbeit um Fachliteratur gebeten, er hat dich über deinen Vater ausgefragt. Hat diese “geschäftliche” Beziehung nicht euer Verhältnis beeinträchtigt?

GR: Nein, sie war ein Teil davon. Ich hatte nie das Gefühl, dass er mich ausnutzen würde. Ganz im Gegenteil, später, als auch ich schon in den Westen reisen konnte, habe ich ihn ausgenutzt, er hat mir durch sein unglaubliches Beziehungsnetz sehr viel geholfen.

JMK: Inwieweit hast du sein Interesse für den realen Sozialismus als ehrlich empfunden? Wollte er überhaupt wissen, was auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs passierte?

GR: Ihm als ehemaligem Ostdeutschen lag Ost-Europa im Blut. Er ging nicht als Zweijähriger nach West-Berlin, sondern als Student; wenn ich mich nicht irre, wurde kurze Zeit danach die Mauer errichtet. In der DDR hat er alles viel intensiver miterlebt als wir im Paradies der Kádárschen Konsolidierung. Vermutlich machte er mehr und bitterere Erfahrungen im real existierenden Sozialismus als ich.

JMK: Wollte er nie ein internationales Netzwerk der Revolutionsbewegung gründen, mit einem ungarischen Ableger?

GR: Was in Ungarn passierte hat ihn sicher interessiert, aber ich glaube nicht, dass er derartige Pläne hatte. Allerdings konnte er 1966, 1967 keine Ahnung haben, was in Ungarn oder in Paris ein Jahr später geschehen würde. 1967 haben ihn die Studenten in Prag ausgepfiffen. Obwohl er bezüglich des Sozialismus wirklich keine Illusionen hatte, verpackte er seine Rede – natürlich – in marxistische Phraseologie, und das war damals genug, um das Missfallen der Prager Studenten zu ernten.

JMK: Beim Lesen eures Briefwechsels fand ich merkwürdig, dass die Großen der Frankfurter Schule darin gar keine Erwähnung finden, obwohl dies nicht nur euer beider Forschungsarbeiten, sondern auch die Rhetorik der damaligen deutschen Bewegung verlangt hätten. Kein Adorno, kein Marcuse. Lediglich den Nicht-Frankfurter Bloch, seinen guten Freund, erwähnt Dutschke einmal…

GR: Wenn ich mich recht entsinne, habe ich von ihm zuerst gehört, wie Bloch auf den kapitalen Blödsinn von Lukács reagierte, wonach der schlechteste Sozialismus besser sei, als der beste Kapitalismus. Er schrieb ihm: Die kleinste Lüge derer, die berufen sind die Wahrheit zu verkünden, ist schlimmer, als die größte Lüge der Falschen. Wahrscheinlich ist aber die Frankfurter Schule nicht zur Sprache gekommen, weil mein lückenhaftes Wissen die Gespräche beschränkte. Ich las sie erst später; zuerst las ich den jungen Lukács, den jungen Révai, nicht zuletzt deshalb, weil Rudi mein Interesse geweckt hatte.

JMK: Als er zum zweiten Mal nach Budapest kam, wohnte er auch bei dir? Wie hat das Innenministerium auf eure Verbindung reagiert?

GR: Damals muss ich, als Révais Sohn, wohl noch eine geschützte Person gewesen sein. Ich habe nichts Verdächtiges bemerkt. Vielleicht haben sie uns verwanzt, ich weiß es nicht, denn als ich kurz nach 1989 um Einsicht in meine Akte aus dem Historischen Archiv bat, tauchte nach langem Suchen nur das Gerichtsurteil unserer maoistischen Verschwörung auf, das sowieso in meiner Schublade lag. Vielleicht bekäme ich heute mehr Material. Später, während des Prozesses, wurde ich sehr auffällig beobachtet, manchmal verfolgte mich eine ganze Armee, die gar nicht versuchte, unentdeckt zu bleiben, im Gegenteil, vielleicht wollten sie mich eher erschrecken. Aber 1966, Anfang 1967 noch nicht.

JMK: Es wäre interessant zu untersuchen, wie die ungarischen Behörden Dutschke bespitzelten, und die ungarischen Dokumente mit denen der Stasi und der Westdeutschen Geheimdienste zu vergleichen. Ich nehme an, auch die waren interessiert daran zu erfahren, was Dutschke in Budapest machte. Öffentliche Quellen gab es nicht, nachdem es keine Diskussion an der Universität gab wie in Prag, und auch mit uns hast du deinen Freund nicht bekannt gemacht. Ich erinnere mich auch an keinen einzigen Satz, der mit den Worten begonnen hätte: “Bei den Dutschkes in Berlin ist das so…” Hast du ihn mit Miki Haraszti3 oder mit Pór4 bekannt gemacht?

GR: Nein, ich glaube sie sprachen nur Russisch. Dutschke und ich unterhielten uns ständig über “lebenswichtige” theoretische Fragen, darin bestand unsere persönliche Beziehung.

JMK: Was hast du von ihm gelernt während eurer “lebenswichtigen” Diskussionen?

RG: Eine der Stützen meines unerschütterlichen Glaubens an unsere Wahrheit war, dass wir nicht allein waren. Unsere “Führer” im Untergrund haben darüber auch stets dunkle Anspielungen gemacht. Wir lebten in dem perfekten Irrglauben, dass wir in Ungarn nur eine von vielen “revolutionären Zellen” waren. In der Freundschaft mit Dutschke ging es auch darum, dass in einem großen Land jenseits des Eisernen Vorhangs (wohin man damals nicht einmal – wie später – alle drei Jahre reisen konnte) die Revolutionäre, die die Welt retten wollten, das gleiche dachten wie wir. Über Vietnam haben wir einiges gewusst, aber über das Regime im Iran z.B. habe ich erstmals von Dutschke gehört. Für einen Berliner war es ebenso wichtig, gegen den Schah zu demonstrieren, wie gegen die Amerikaner.

JMK: Dutschke entschied sich gerade dann für radikalere Schritte, als auf der Demonstration gegen den Schah in Berlin Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde.

GR: Ja, leider haben Dutschkes eigene Erfahrungen all den Blödsinn bestärkt, den wir hier in Budapest damals von der Welt dachten.

JMK: War es dir nicht klar, dass Dutschke und seine Genossen etwas ganz anderes machten: Sie riefen eine außerparlamentarische, aber offen und spontan agierende Opposition ins Leben, während ihr illegale kommunistische Zellen organisiertet? War die fehlende Demokratie in Ungarn ein ausreichender Grund für diese Unterschiede? Haben dir die bereits 1967 auf den Straßen Berlins wogenden Massen nicht imponiert, wie auch Dutschkes angrifflustiges (basis)demokratisches Auftreten?

GR: Eigentlich zeigten sich die zwischen uns existierenden Unterschiede nicht. Ich habe bereits erwähnt, dass die Sympathien für die Chinesen sich auf unterschiedlichen Illusionen gründeten. Außerdem war ich, als ich Rudi kennen lernte, noch nicht in der Untergrundbewegung. Als ich aber für die Aufnahme für “würdig befunden” wurde, habe ich sofort akzeptiert, dass ich über alles schweigen muss. Ich habe die Regeln diszipliniert eingehalten, deshalb konntet auch ihr nichts über die Tätigkeit unserer illegalen Gruppe wissen.

JMK: Um wen wolltest du die Gruppe erweitern?

GR: Ich hatte keine ausgesprochenen Absichten oder Aufgaben, die Gruppe zu erweitern. Ich werde nie vergessen, wie ich einmal in meiner Gruppe vorgeschlagen habe, einen Freund aufzunehmen…

JMK: …der allerdings schon aufgenommen war, nur in einer anderen Gruppe.

GR: Ja, von deren Existenz ich gar nichts wusste. Es ist zwar richtig, dass ich in dem Glauben lebte, es existierten viele ähnliche Gruppen, aber ich wusste nichts Genaues darüber. Ich habe also vehement für die Aufnahme unseres Freundes argumentiert, Pór und die anderen brauchten all ihre geistige Energie, um mich zu überzeugen, warum er kein Mitglied der Bewegung werden konnte. Die beiden Gruppen konspirierten gegeneinander, deshalb konnten sie mir nicht verraten, dass er schon Mitglied einer anderen Gruppen war.

JMK: Mich berührt auch heute noch die – westliche – Freiheit, die Dutschkes Briefe verströmen. Jetzt kann ich mich nicht mit dir treffen, weil ich mit meiner Frau einige Monate nach Amerika gehe, aber auch danach nicht, weil ich in Mexiko Betriebswirtschaft studiere, dann fahre ich nach Amsterdam, um zu forschen… – er fliegt von einem Ort zum anderen, lebt später in einer Kommune…

GR: Du meinst, warum ich ihn nicht beneidete? Rückblickend denke ich auch, dass ich das hätte bemerken müssen: Er lebt in einem freien Land und ich nicht. Aber ich war hier mit meinem eigenen kleinen revolutionären Sendungsbewusstsein sehr glücklich. Ich war jung, verliebt, wollte die Welt retten, und ich hatte dazu alle Chancen, das dachte ich zumindest. Ich war so kurzsichtig, dass ich mich durch die Frage, wie es sein konnte, dass ich nicht nach West-Berlin zu Dutschke fahren, sondern nur er hierher kommen konnte wann es ihm beliebte, nicht beirren ließ.

JMK: Bei eurem zweiten Treffen warst du bereits in der Bewegung organisiert. Ich kann es mir nur schwer vorstellen, dass du dich damit kein bisschen brüsten wolltest.

GR: Vielleicht habe ich angedeutet, dass in Ungarn sehr ernste Dinge in Vorbereitung waren, aber mehr nicht. Er verstand genau, was wir hier riskierten, deshalb fragte er nicht. Was haben wir riskiert? Schließlich war es Dutschke, der angeschossen wurde. Die Unterschiede waren riesengroß, auch zwischen Ungarn und der Sowjetunion, wo es für unsere kleinen illegalen Spielchen mindestens 15 Jahre Sibirien gegeben hätte. In Ungarn hat man uns ein wenig gerügt und wir durften einige Zeit nicht an die Universität.

JMK: Man sieht, dass er dich schützen wollte. Aus einem seiner Briefe geht hervor, dass er, als es dir endlich gelang ihn zu besuchen, die Treffen mit seinen Freunden so organisiert hatte, dass sie keine Spuren hinterließen. Im selben hochkonspirativen Brief bezeichnet er komischerweise die Machtorgane offen als “die Schweine bei uns in der NATO”. Aber bleiben wir im Jahr 1968. Hast du dich nach ihm erkundigt, als du von dem Attentat hörtest?

GR: Vergiss nicht, wir steckten damals mitten in unserem Prozess. Außerdem kannte ich damals außer ihm noch niemanden aus seinem Umfeld. Ich wusste, dass er im Koma lag, und die große Frage war, welches Land ihn für die Therapie aufnehmen würde. Er war gefürchtet, und zu Recht. Schließlich kam er nach England. Ich hätte keinen Kontakt mit ihm aufnehmen können, außerdem war ich – muss ich zugeben – sehr mit mir selbst beschäftigt. Das war eine unglaublich intensive Zeit für meine geistige Entwicklung. Meine Kameraden wurden verhaftet, es gab Verhöre ohne Ende, und mein Weltbild fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das alles musste ich irgendwie verarbeiten. Vor dem Prozess hatte ich keine Angst, aber ich schämte mich über alle Maßen. Die Offiziere des Innenministeriums, die die Verhöre leiteten, empfingen mich mit den Worten: “Gáborlein, du warst noch so ein kleiner Junge, als ich dich zum letzten Mal sah.” Und weil das großteils sehr kluge Menschen waren, konnten sie mich davon überzeugen, dass wir in gewissem Sinne auf derselben Seite standen. Das frustrierte mich zutiefst. Zudem stellte sich heraus, dass von meinen Kampfgenossen, die ich damals für meine besten Freunde hielt, mindestens jeder zweite seit Jahren ein Polizeispitzel war, oder bereits nach dem ersten Verhör bereit war, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Das war eine Enttäuschung, die mich dazu zwang, in mich zu gehen, auch wenn ich später bei einigen verstand, was sie motivierte. Für mich, ein so genanntes Sonntagskind, war es einfach, die Polizei zum Teufel zu schicken, als sie mich rekrutieren wollte.

JMK: Hast du vor dem Attentat auf Dutschke im April 1968 daran gedacht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, um durch ihn der Welt kund zu tun, wie schlimm die Unterdrückung in Ungarn war? Ihr wurdet im Januar 1968 festgenommen…

GR: Daran habe ich nicht gedacht. Zum Teil deshalb nicht, weil im Frühjahr, als Rudi in den Kopf geschossen wurde, unser Fall noch nicht vor Gericht war. Zum Teil deswegen, weil wir, die den real existierenden Sozialismus von links kritisierten, offensichtlich keinen Wert auf die Unterstützung durch die “Imperialisten” legten.

JMK: In Budapest gab es Verhaftungen, in Berlin ein Attentat. Vor kurzem lebte in Deutschland die Diskussion wieder auf, ob Dutschke ein Vorreiter des Terrorismus war. Hat er Gewalt bis zu einem gewissen Grad gut geheißen? Er hat ja auch Aktionen auf der Straße angezettelt. Manche sagen, wäre er nicht verwundet worden, hätte er Ulrike Meinhof von ihrer mörderischen Strategie abgebracht. In einem der Briefe an dich zitiert er das marxsche Wortspiel von der Kritik der Waffen und den Waffen der Kritik. Gab es zwischen euch Diskussionen über das noch erlaubte Maß an Gewalt, allein schon aus Anlass von Lukács’ berühmt-berüchtigten Schriften (“Taktik und Ethik” usw.)?

GR: Rudi war kein Freund der Gewalt, nicht nur wegen seiner friedliebenden Persönlichkeit, sondern weil sie auch nicht in seine Strategie der Bewegung gepasst hätte. Denk nur an die Losung vom “langen Marsch durch die Institutionen” [deutsch im Original – Anm. d. Übers.] – ich kann mir nicht vorstellen, dass jemals ein Terrorist aus ihm geworden wäre. Doch als orthodoxer Marxist hat er theoretisch nicht ausgeschlossen, dass Gewalt mitunter notwendig sein kann. War das, was wir hier in Ungarn gemacht haben, in gewissem Sinn nicht auch gewalttätig? Es war vielleicht noch in Ordnung, dass wir Häuserwände beschmierten, Flugblätter druckten…

JMK: Das Ausmaß an Gewalt, wie es im Eifer einer Versammlung oder Demonstration vorkommen kann, hat er sicherlich in Kauf genommen, ähnlich vielleicht wie Joschka Fischer, der sich auf der Straße mit Polizisten prügelte. 1967 stürmte Dutschkeden Weihnachtsgottesdienst in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, um eine Diskussion über den Vietnamkrieg zu erzwingen.

GR: Ein Revolutionär wie er braucht keine Gewalt, solange er glaubt, dass seine Bewegung immer stärker wird und immer mehr Anhänger bekommt. Ich weiß nicht, was er über die Ereignisse in Paris im Mai 68, kurz nach seinem Attentat, gedacht hätte.

JMK: Erinnerst du dich, ob du mit Dutschke jemals über Paris oder euren Prozess gesprochen hast? 1971 habt ihr einander in Dänemark wiedergesehen.

GR: Dieses Treffen war teilweise sehr anders als die früheren, und zum Teil genauso. In der Zwischenzeit hatte sich meine gesamte Weltanschauung grundlegend verändert, was auch bedeutete, dass ich der Politik den Rücken gekehrt hatte. Er aber machte nach dem Attentat genau dort weiter, wo er aufgehört hatte. Er blieb bis zu seinem Tod ein Revolutionär. Wenn wir uns trafen oder einander Briefe schrieben, verwandelte ich mich wieder in den Politiker, der in mir begraben war. Mit Rudi konnte man über nichts anderes reden, weil er ein durch und durch politischer Denker war. Auch ich war nicht der Ansicht, dass im Westen alles so toll war, deshalb wandte ich mich auch nicht von ihm ab, nur weil er die Gesellschaft kritisierte. Es mag irrational sein, aber mir schien, dass mein früheres revolutionäres Wesen in Rudi weiterlebte, weil er ein so authentischer Mensch war.

JMK: Gut, du hast ihn nie kritisiert, aber wie hat er ertragen, dass du liberal und selbst ein Kleinunternehmer geworden bist. Hat er dich nicht verdächtigt? Er hat dich in seinen Briefen weiterhin “Genosse” genannt.

GR: Nein, er verdächtigte mich nicht, weil die Gespräche mit ihm immer wieder den einstigen “Revolutionär” in mir hervorgeholt haben. Meines Erachtens verdächtigte er überhaupt nie jemanden. Trotz seines außergewöhnlichen Wissens war er arglos naiv. Außerdem hatten sich inzwischen auch seine Ansichten geändert. Es gab den Terrorismus, die Grünen erwachten bereits …

JMK: Er hatte bestimmt keine Einwände, als du zum Beispiel meintest, dass das Mehrparteiensystem auch in Ost-Europa von Vorteil wäre. Aber was meinte er zu Privateigentum? In seinen Briefen bewahrt er die marxistische Terminologie bis zum Schluss: Ausbeutung, Verdinglichung, Fall der Profitrate usw. Du aber hast als selbstständiger Tischler Profit kalkuliert. Warst du in seinen Augen etwa der marxsche “einfache Warenproduzent”?

GR: Es war offensichtlich, dass er in marxistischen Termini dachte. Hättest du ihn getroffen, würdest du mir zustimmen: Es gibt Menschen, denen zuzuhören ein Erlebnis ist – auch wenn sie manchmal dummes Zeug reden. Es mag schon sein, dass ich zu bestimmten Themen anderer Meinung war, aber das ist nebensächlich im Verhältnis dazu, wie gut es war, ihm zuzuhören.

JMK: Hat das Attentat an seiner überwältigenden Persönlichkeit etwas geändert?

GR: Nein, aber es war keine Rede davon, dass ich Rudi und sein Umfeld ganz ohne Kritik betrachtet hätte. Ich erinnere mich gut, dass es mich vor der Kommune am Meer schauderte, wo er anfangs in Dänemark wohnte. Davor, wie sie die Kinder behandelten. Wir saßen alle um einen riesigen Tisch herum, die zweijährigen Kinder schmierten sich das Essen ins Gesicht und kein Schwein half ihnen, weil “sie es nur so lernen würden”. Ich vertrat im Vergleich dazu stark “bürgerliche Ansichten”. Trotzdem denke ich nicht, dass diese Eltern ihre Kinder nicht geliebt haben. Später habe ich aber all das, was mir an der Kommune in der László-Rudas-Straße,5 die ich gut kannte, nicht gefiel, auf solche Eltern projiziert. Allerdings blieb auch Dutschke nicht lange in der Kommune.

Was seine Kapitalismusfeindlichkeit und meine Meinung dazu betrifft: Ich habe zu diesem Zeitpunkt mit immer größerer Sympathie auf den Westen geblickt. Im Verhältnis zu den Unterschieden, die ich zwischen dem real existierenden Sozialismus und dem real existierenden Kapitalismus in Hinblick auf Wohlstand, Menschenrechte usw. wahrnahm, schien mir Dutschkes Kritik am Kapitalismus irrelevant. Nichtsdestoweniger bin ich seither irgendwie schizophren: Die Menschen, mit denen ich im Westen befreundet bin, mit denen ich mich gut unterhalten kann, das sind eigentümlicher Weise immer Linke, die ich durch Dutschke kennen gelernt habe.

JMK: Die Kommune erwähnst du in einem deiner Briefe. Zunächst hast du einen Artikel der Philosophin Ágnes Heller kritisiert, die die Lebensform in der Kommune um 1968 idealisierte und dabei die ernüchternde Wirklichkeit der Wohnungssituation in Ungarn ganz außer Acht ließ. Damals warst du “von links” wütend auf sie, als ungebetener Fürsprecher jener Menschen, die sich keine Wohnung leisten konnten, die in Arbeiterwohnheimen dahin vegetierten, zur Untermiete, als unfreiwillige Mitbewohner, was fast schon einer Parodie der Kommune gleichkam.

GR: Wahrscheinlich vollzog sich der Wandel meiner politischen Überzeugungen langsamer, als ich das jetzt wahrhaben will. Ich war eklektisch, mit allerlei linken Zügen. 1968 hatte ich László Bertalan6 kennengelernt, den ich sehr ins Herz schloss, eine Weile wohnte er sogar mit seiner Familie bei uns. Er, der damals ebenfalls Marxist war, hatte großen Einfluss auf meine geistige Entwicklung. Den Marxismus als solchen hatte ich noch lange nicht aus meiner Gedankenwelt verbannt. Auch in meiner Kritik an Heller wird der Einfluss von Bertalan sichtbar.

JMK: Du warst 1971 und 1979 bei Dutschke zu Besuch.

GR: Ja, wir verbrachten je zwei Tage miteinander, endlos diskutierend. Es ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, ihn Fahrrad fahren zu sehen, da er in Folge des Attentats nicht gut sah. An 1971 erinnere ich mich kaum, an 1979 eher, ich könnte zum Beispiel genau das Badezimmer beschreiben, wo mein Freund wenige Monate später – in Folge eines epileptischen Anfalls – in der Badewanne ertrunken ist. Bei unserem letzten Treffen sprachen wir lange über die Grünen-Bewegung.

JMK: Er hat tatkräftig an der Vorbereitung des ersten Kongresses der Grünen mitgewirkt, er starb wenige Wochen vor der Gründung der Partei.

GR: Es ist eine große Frage, ob aus ihm ein deutscher Politiker geworden wäre. Ich glaub nicht, das deutsche politische Leben hätte er nicht ertragen. Ich kann ihn mir nicht als Diplomaten mit Anzug und Krawatte wie Joschka Fischer vorstellen. Aber er sagte, er wolle wieder nach Hause zurückkehren. Damals ließen sie ihn schon nach Deutschland einreisen, aber niederlassen durfte er sich noch nicht.

JMK: Hat er dir von seinen Krankheiten erzählt, von den gesundheitlichen Folgen des Attentats?

GR: Nie. Er war ein besessener Denker. Über so alltägliche Dinge wie sein Befinden konnte man mit ihm nicht sprechen. Die persönlichen Fragen, wenn sie einmal auftauchten, wurden von den Gedanken immer fortgeschwemmt.

JMK: Als Dutschke starb, hattest du das Bedürfnis, dich an Dutschkes alten Freund Gollwitzer zu wenden, den du gar nicht persönlich kanntest, um ihm über deine Trauer zu schreiben – auf Ungarisch. Man könnte das als Tagebucheintrag betrachten…

GR: Als ich diesen halbfertigen Brief nach drei Jahrzehnten kürzlich erneut las, war ich auch überrascht, er machte mich nachdenklich. Damals konnte ich mit niemandem darüber sprechen, dass ich mir durch Dutschke etwas von meinem früheren Ich bewahrt hatte. Du hast erwähnt, dass wir beide Dutschke sehr unterschiedlich wahrnehmen: du als schreienden Volkstribun und ich als innigen Freund.

JMK: Ja, aber meine gegenwärtigen Lektüren erschüttern das Bild von Dutschke als einem der Demagogen dieser Zeit. Ich bin auch nicht mehr davon überzeugt, dass Cohn-Bendit wegen seiner Frechheit und Selbstironie, die mir damals imponierten, der sympathischere von beiden ist.

GR: Vielleicht liegt es am Generationenunterschied zwischen uns, vielleicht ist in mir aber auch durch meinen Vater etwas von diesem Urkommunistischen erhalten geblieben. In dem Brief an Gollwitzer denke ich darüber nach, wie ich meinen Vater und den Kommunismus als solchen bereits in den 70er Jahren aus meinem Weltbild verbannt habe. Aber durch Rudi und meine Freundschaft zu ihm habe ich mir doch etwas von diesem Glauben der Urkommunisten, die Welt zu retten, bewahrt. Damit muss ich leben, selbst wenn das äußerst anachronistisch erscheint.

JMK: Wie meinst du das?

GR: Das kann ich nicht eindeutig formulieren, ich habe keine Patentantwort auf diese Frage. Was Anfang des letzten Jahrhunderts einen Teil der relativ wohlhabenden Intellektuellen zum Kommunismus brachte, war eine Art übergeordnete Moral. Das kommunistische Weltbild des Ervin Sinkó, des jungen Lukács und des jungen Révai unterscheidet sich stark von dem eines Gerös oder Farkas’.7 Aus dieser Moralvorstellung resultierte auch ihre Tragödie. Und das betrifft auch mich. Ich bin nie davon losgekommen, und jetzt will ich es auch nicht mehr. Das ist kein Verdienst, das ist Veranlagung. Obwohl du nur ein paar Jahre jünger bist, existiert in deiner Generation dieses “Gen, die Welt zu retten” nicht mehr, obwohl 1968 auch in eurer Generation noch eine Art Berufung erkennbar war.

JMK: Dieses Verlangen, die Welt zu retten, lebt in dir ohne zu wissen, wie die “schöne neue Welt” aussehen soll?

GR: Ich glaube nicht an eine “schöne neue Welt”, außer an die von Huxley. Dutschke, der nicht Révai zum Vater hatte, der in einer bigotten evangelischen Familie aufgewachsen ist, vertrat meines Erachtens diese weltretterische Moral noch authentisch und sympathisch. Durch seine Freundschaft bewahrte ich mein Linkssein auf, das ich mit der Muttermilch aufgesogen hatte.

JMK: Vater anstelle des Vaters…

GR: Als wäre in Dutschkes Person mein eigener Vater annehmbar geworden. Mit niemandem konnte ich so über meinen Vater sprechen wie mit Rudi. Ich erzählte ihm, zu welchen Ungeheuern und menschlichen Wracks diese Urkommunisten verkommen waren, und dass sie nicht zu gewöhnlichen Verbrechern wurden, wie andere kommunistische Mörder, sondern dass es sich um wahrhaftige persönliche Tragödien handelte.In meiner Familie war mein Vater nicht das einzige Beispiel dafür, es gab auch andere, zum Beispiel mein Onkel Zoltán Szántó.8

JMK: Dutschke berichtet in einem Brief aus dem Jahre 1966, wie viel Zeit er auf der Straße, in der Gesellschaft von wilden Jugendlichen in Paris und später in Amsterdam verbringt. Offensichtlich gefällt ihm die Gegenkultur, du aber kannst in dieser Hinsicht kaum Erfahrung gehabt haben. Die Springer-Presse denunzierte Dutschke regelmäßig als unordentlich und schmutzig, besonders häufig wurde er als “ungewaschen” [deutsch im Original – Anm. d. Übers.] bezeichnet, um dem deutschen Volk Furcht einzujagen.

GR: Über Hippies, Provos und ähnliches habe ich damals unglaublich wenig gewusst. 1966 war ich zum ersten Mal im Westen, ich arbeitete in Wien in der Druckerei der Kommunistischen Partei und wohnte beim Generalsekretär der Partei. Koplenig war ein sehr netter Onkel, ein alter Freund meines Vaters (viele meinten damals, dass Révai die österreichischen Kommunisten von Budapest aus lenkte). In Wien schaute ich mir My Fair Lady an, und der maoistische Revolutionär war verzaubert von den Farben des Westens. Und zwar nicht von Hair (das konnte es damals auch noch gar nicht sein), sondern von My Fair Lady.

JMK: Nur gut, dass du nicht zufällig die Tschardasfürstin gesehen hast… Aber genau darauf wollte ich hinaus: War denn für dich, den kommunistischen Bürgersohn, Dutschkes Erscheinung nicht sonderbar?

GR: Keineswegs. Auch Hobó9 trug damals schon lange Haare. Außerdem war Dutschke ein unglaublich schöner Mann, mit diesen Haaren und seiner riesigen Nase. Er war ein kleiner, untersetzter Typ, in seiner Jugend hatte er geboxt und war Zehnkämpfer. Und er war natürlich immer sauber.

Koseform von Ferenc (Jánossy).

Miklós Haraszti, einer der Organisatoren der linken Studentenbewegung zwischen 1969 und 1970. Gründungsmitglied der SZDSZ - Partei der Freien Demokraten. Er ist heute OSZE-Beauftragter für Medienfreiheit.

György Pór ­ ebenfalls eine Führungspersönlichkeit der Studentenbewegung zwischen 1969 und 1970.

Ein junger Architekt kaufte in der Budapester László-Rudas-Straße eine Wohnung, die lange Jahre als Kommune genutzt wurde, in der etwa 8 bis 10 Menschen zusammen lebten. Die ungarischen Sicherheitsbehörden verfolgten die Ereignisse in dieser Kommune sehr genau.

László Bertalan war Soziologe an der Wirtschaftsuniversität Budapest; er wandte sich von der Lukács-Schule ab und der analytischen Philosophie zu.

Ernö Gerö und Mihály Farkas waren in den Fünfzigerjahren vor der ungarischen Revolution kommunistische Apparatschiks im Politbüro.

Zoltán Szántó, führender Kommunist (Wien, Budapest, Prag, Moskau) in der Zwischenkriegszeit. Nach der kommunistischen Machtübernahme war er Diplomat in Belgrad und Paris. 1956 war Szántó einer der kommunistischen Führer der Revolution.

László Földes, genannt Hobó, ungarischer Musiker, Texter, Schauspieler und Sänger der Hobo Blues Band. Auch sein Vater war ein hoher Parteifunktionär.

Published 23 April 2009
Original in Hungarian
Translated by Edit Baranyai
First published by 2000/7-8/2008

Contributed by 2000 © János Mátyás Kovács / Gábor Révai / 2000 / Eurozine

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