1968: Zwischen März und Mai

1971 bin ich aus Polen ausgereist. Nach einem Jahr Gefängnis und erfolgloser Arbeitssuche habe ich nicht nur das Land verlassen, sondern auch meine Freunde und mein Milieu, das immer noch unter dem Eindruck der März-Ereignisse von 19681 stand. Wir waren erschöpft, mancher war gebrochen, führende Vertreter der Opposition nach wie vor inhaftiert. Über Polen lag der Schatten eines Einmarschs wie in der Tschechoslowakei, die Wunden des Dezember 19702 waren noch frisch.

Mein erstes Jahr in der Fremde verbrachte ich in Bologna. Die damals von der Linken geprägten Universitäten Italiens hatten ihrerseits Unruhen erlebt. Andere Länder, andere Unruhen. Es ging reichlich nostalgisch zu mit Diskussionen über die Revolution und die Theorien Maos. Man sang “La violenza”. Gewalt wurde nicht nur in Liedern idealisiert. Die Studenten skandierten: “Das System stürzen, nicht verändern!”, “Wo Gewalt herrscht, hilft nur Gewalt”. Es waren die Anfänge des Terrorismus.

Ich ging dann nach Paris, für lange Zeit. Immer noch hing die Erinnerung an ¹68 über der Stadt. Eine ganze Generation schwelgte in jenem Mai, in ihren Revolutionen, dieser “schöne Krankheit”, um mit Leszek Kolakowski zu sprechen. Die Unruhen waren hier anders als im Osten, ästhetischer, fast fröhlich, heroisch. Bernard-Henri Lévy, ein post-Mai-Star, hat das Jahr 1968 gar als einen der wichtigsten Momente in der Geschichte Frankreichs bezeichnet.

Im erlauchten liberal-konservativen Kreis um Raymond Aron, dem anzugehören ich das Glück hatte, gab es weder Revolutionshelden noch -witwen. Der große Humanist und kritische Freigeist wurde damals von Studenten und einem Großteil der akademischen Welt boykottiert. Jean-Paul Sartre, sein Jugendfreund, rief zum “Sturm auf die Bastille Aron” auf – eine Folge der Reaktion Arons auf den Mai, den er als “Karneval” und “Psychodrama” bezeichnet hatte, als Gefahr für das fragile Fundament der demokratischen Ordnung. Sicher, eine Zeit lang sah es danach aus, als würde die Macht auf der Straße liegen. Zehn Millionen streikende Arbeiter hatten sich den Protesten angeschlossen. Die Kommunisten, die den Streik steuerten, setzten jedoch alles daran, sie von den Studenten zu trennen. Moskau, das damals eine Verbesserung der Beziehungen zum Westen anstrebte und bereits mit dem Prager Frühling zu kämpfen hatte, war an einer Destabilisierung Frankreichs nicht interessiert.

Die westliche 68er-Generation wollte mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit, sie forderte die Anerkennung des individuellen Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung. “Jouissez sans entraves” (Genießt ohne Schranken) war eine beliebte Parole an den Häuserwänden von Paris. Die Jugend, die an die Öffentlichkeit drängte, stellte die bestehende Ordnung des Kalten Krieges und den Wiederaufbau der Nachkriegszeit in Frage. Teilnehmer und auch Gegner erinnern sich an den Mai als eine Zeit des großen Gesprächs (Aron sprach von Geschwätz). Die Menschen öffneten sich, man ging schnell zum Du über. Die Revolutionäre von ’68 wandten sich enttäuscht von der konservativen Arbeiterklasse ab, sie sahen das Subjekt der Geschichte in den “neuen Proletariern” der dritten Welt und in den Studenten, der neu entdeckten revolutionären Kraft. Ein unerhörter Fortschritt war bei der Emanzipation der Frauen zu verzeichnen. Noch 1965 benötigte eine Frau die Einwilligung ihres Mannes, um ein Bankkonto zu eröffnen. Zahlreiche junge Frauen waren im Mai aktiv, spielten aber noch die Rolle der von dem berühmten Delacroix-Bild her bekannten Marianne mit der entblößten Brust, die das Volk auf die Barrikaden führt – die Frau als Allegorie, als Maskottchen. Doch das änderte sich sehr rasch. Eine echte gesellschaftliche und kulturelle Revolution löste 1967 die Pille aus; das Sexualleben war nun von der Fortpflanzung abgekoppelt, die Frauen wurden unabhängig. Das Jahr 1968 brachte die populäre Sprache der Emanzipation.

Einige unmittelbare Ursachen für die Eruption von 1968 waren von Anfang an offensichtlich. Die Babyboomgeneration sprengte die Universitäten – Hörsäle, Bibliotheken und Wohnheime platzten aus allen Nähten. Die Studenten hatten Zukunftsangst. Im Zuge des Öffnungs- und Demokratisierungsprozesses der Universitäten wurden die akademischen Standards gesenkt. Die Absolventen, die bis dahin die gesellschaftliche Elite bildeten, mussten sich nun auf einem unsicheren Arbeitsmarkt zurechtfinden.

Die Revolte verlieh auch dem Protest gegen die Dominanz Amerikas eine Stimme. Es war die Zeit des Vietnamkriegs, der die USA selbst und ihr Verhältnis zur Welt in eine tiefe Krise stürzte. In einem Anfang 1968 angefertigten Bericht für den US-Kongress schrieb der damalige Verteidigungsminister Robert McNamara: “Während der sechziger Jahre begann die Bipolarität, wie wir sie aus den Nachkriegsjahren kannten, zu zerfallen. Es ist schwieriger geworden, jemanden als engen Freund oder unversöhnlichen Feind zu klassifizieren”3; es sei fragwürdig geworden, mit Begriffen wie “Freie Welt” oder “Eiserner Vorhang” zu operieren.

1968 war ein gewaltiger Triumph für die Massenmedien, besonders für das Fernsehen. Jerry Rubin, damals Hippie-Aktivist und später ein bekannter Yuppie, verkündete während der blutigen Demonstrationen in Chicago: “Die ganze Welt schaut zu.” Und er hatte Recht. Wichtiger war aber, dass über das Fernsehen die ganze Welt die Tet-Offensive der kommunistischen Guerilla in Südvietnam mitverfolgen konnte. Zum ersten Mal bekam das entsetzte Amerika Live-Bilder gefallener amerikanischer Soldaten zu sehen. Es half nichts, dass der Vietcong stark dezimiert wurde, die USA hatten den Krieg nun verloren, wenngleich erst sieben Jahre später ein Friedensabkommen unterzeichnet wurde.

Die Studentenbewegung des Jahres 1968 war von Berkeley bis Tokio, wenn auch nicht in Osteuropa, vereint im Protest gegen diesen Krieg. Ein neuer Pazifismus entstand. In seinem Gewand zeigte sich in Deutschland zum ersten Mal seit dem Krieg wieder ein Nationalismus, diesmal in einer linken Variante. Amerika wurde mit dem Nazismus gleichgesetzt, das geteilte Deutschland mit Vietnam. Rudi Dutschke drohte den amerikanischen Besatzern: Wenn ihr die imperialistische Politik nicht aufgebt, werfen wir euch aus dem Land. Die neuen Deutschen wollten sicher den Frieden, sie begannen aber auch, andere den Frieden zu lehren. Die extremen Protestformen der Studenten weckten Ängste, riefen in Deutschland die schlimmsten Erinnerungen wach. Nicht nur rechte, auch linke Intellektuelle wie Jürgen Habermas oder Max Horkheimer warnten vor einem neuen Totalitarismus: vor totalitärer Sprache, vor dem Hang zur Gewalt, vor der Verachtung der bürgerlichen Kultur mit ihren liberalen Werten und ihrem Pluralismus.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Jahres 1968 war in Deutschland der Protest gegen die “schweigende Generation”, die Abrechnung mit den Eltern, denen ihre Verantwortung für die Verbrechen der Nazizeit vorgehalten wurde und ihre Feigheit, sich dazu zu bekennen. In dieser Zeit begann die deutsche “Erinnerungsarbeit”, eine tiefgehende Reflexion über die kollektive Verantwortung der Deutschen. Ähnliches geschah in Frankreich, wenngleich die Frage der Kollaboration erst viele Jahre später mit voller Wucht zutage trat.

Ich war fasziniert vom Westen, der durch 1968 umgepflügt worden war, fühlte mich dort aber zugleich einsam und fremd. Viele Menschen, denen ich in Bologna und Paris begegnete, standen mir in Alter, Sensibilität und literarischem Geschmack nahe, doch gleichzeitig trennten uns Welten. Das begann schon mit der Sprache. Für die westlichen 68er war das grundlegende Kriterium die Revolution. Milan Kundera stellte dem Pariser Mai und seiner “Explosion des revolutionären Lyrismus” den Prager Frühling mit seiner “Explosion des postrevolutionären Skeptizismus” gegenüber. Was er über Tschechen und Slowaken gesagt hatte, betraf auch die Polen. Nur hatte die polnische Intelligenz die Hoffnung auf einen “Sozialismus mit menschlichem Antlitz” bereits begraben. Die westlichen Geiseln der Semantik – Marxisten, Leninisten, Trotzkisten, Maoisten, Situationisten, Anarchisten, und selbst die Sozialisten – beschrieben die Welt in einer Sprache, deren sich auch Breschnew und Gomulka bedienten. Schon dadurch war die Möglichkeit eines Gesprächs blockiert, ganz zu schweigen von einer Verständigung.

Natürlich meinten die Revolutionäre des Westens etwas anderes als die Kommunisten im Osten. Ihre Ideale waren freiheitlich, individualistisch und oft bewusst antisowjetisch, sie verurteilten die Omnipräsenz staatlicher Gewalt, die “sowjetische Bürokratie” und die “rote Bourgeoisie”. Aber Sprache ist eben nicht unschuldig. Ihre Sprache war belastet durch den Geist der Unterdrückung, die wir aus eigener Erfahrung kannten. Leszek Kolakowski ließ seinerzeit den Frankfurter Studenten, die dagegen protestierten, dass ihm der Adorno-Lehrstuhl für Philosophie angeboten wurde, ausrichten: “Ich werde nicht stören bei eurem Klassenkampf gegen die Professoren.”

Die Sprache der westlichen 68er wirkte aus polnischer Perspektive nicht nur bedrohlich, sie war auch fürchterlich langweilig. Der polnische Philosoph und Priester Jozef Tischner gab gern die Unterhaltung zweier Goralen4 nach dem Krieg zum Besten: Sagt der eine: “Die Roten werden kommen und uns verhungern lassen.” Darauf der andere: “Verhungern lassen werden sie uns schon nicht, aber zu Tode langweilen.” In den sechziger Jahren war das kommunistische Idiom schon mausetot, sogar für die Machthaber.

Das Gefühl der Langeweile war nicht nur bei uns verbreitet. Der glänzende französische Journalist Pierre Viansson-Ponté schrieb wenige Wochen vor den Mai-Unruhen hellsichtig: “la France s¹ennuie” (Frankreich langweilt sich). Die jungen Leute wollten einen Wandel der Politik und der Nachkrieggesellschaft, einer hierarchischen, eher geschlossenen Gesellschaft, die von den Gaullisten reichlich autoritär regiert wurde. Die Sprache, die für uns Bedrohung und Langeweile symbolisierte, versuchten die Revolutionäre von ’68 mithilfe von Propheten vom Schlage eines Herbert Marcuse zu erneuern, dessen Name in eine Reihe mit Marx und Mao gestellt wurde.

Noch in ihren edelsten Regungen waren die Mai-Revolutionäre Geiseln dieser Sprache. Sie hatten keine andere, in der sie ihre Revolte hätten artikulieren können. Dies beeinflusste auch ihren Blick auf unser Europa, auf den Prager Frühling genauso wie auf den polnischen März. Ihre Haltung war hier uneindeutig, überwiegend gleichgültig, oft feindselig. Wir waren ex definitione Konterrevolutionäre. Waren die kommunistischen Regime auch das Ergebnis einer “verratenen Revolution”, so doch immerhin einer Revolution. Und war es auch ein “bürokratischer Sozialismus”, so war es doch Sozialismus. Den französischen Kommunisten war die revoltierende Jugend ein Dorn im Auge. Ihre ungezügelte, revolutionäre Sprache bedrohte das gesamte Establishment, und damit auch sie. Sie bedrohte auch ihr ideologisches Monopol auf die Linke. Gemeinsam mit den Gaullisten konnten die Kommunisten die Mai-Bewegung politisch vernichten. Dem Himmel sei Dank. Auch wenn einem bewusst sein sollte, dass dies damals im Interesse Moskaus lag.

Die westlichen radikalen Kräfte und die Jugendlichen in Polen oder der Tschechoslowakei hatten grundsätzlich verschiedene Freiheitsbegriffe. Unser Freiheitsverständnis war traditionell, liberal – Freiheit von Gewalt. Sie dagegen betrachteten jegliche Einschränkung als Nötigung. Von den westlichen Rebellen unterschied uns darüber hinaus das Verhältnis zur Demokratie. Sie träumten von “direkter Demokratie”, die westliche Demokratie sahen sie als rein formal an, als Betrug. Sie lehnten eben die Institutionen ab, die unser Ideal waren. Sie kritisierten den Markt und die Konsumgesellschaft, nach denen sich bei uns alle sehnten.

Das Jahr ’68 brachte im Westen eine direkte Konfrontation mit den geltenden Normen. ’68 war bestimmt vom Widerspruch gegen das Gesetz – das Gesetz im juristischen Sinne, das Gesetz gesellschaftlicher Konventionen, das moralische Gesetz der Tradition, ja sogar das marxistische Gesetz der Geschichte. Auf den Mauern war zu lesen: “Sei Realist, fordere das Unmögliche!” oder “Verbieten verboten”.

Der polnische März und der Prager Frühling hatten nicht die Abschaffung sämtlicher Regeln und Beschränkungen im Sinn. Im Gegenteil, im Kampf um Freiheit wollte man rechtlich und moralisch begründete Beschränkungen erzwingen, vor allem für das Regime, um so dessen Willkür einzuschränken. Und das östliche ’68 hatte auch nicht die Dimension einer moralischen Revolte.

In Polen deutete sich in der 68er-Bewegung bereits die demokratische Opposition der 70er und 80er Jahre an. 1964 hatten Jacek Kuron und Karol Modzelewski den Offenen Brief an die Partei verfasst, ein antibolschewistisches Revolutionsprogramm, gehalten in der Sprache des Marxismus. Am 30. Januar 1968, bei der Abschlussvorstellung von Mickiewiczs Dziady (Totenfeier)5, skandierten wir Modzelewskis Parole: “Unabhängigkeit ohne Zensur”. Zum ersten Mal entstand, fast zufällig, eine antipolitische Sprache als Instrument zum Kampf gegen das Regime. In ihrem Protest gegen die Zensur, ihrer Forderung nach Meinungsfreiheit und ihrem Eintreten für die Repressalien ausgesetzten Freunde beriefen sich die Studenten auf das Recht, auf die Verfassung. Die Sprache der Grundrechte und -freiheiten wurde schnell zu einem wichtigen Kampfinstrument der entstehenden demokratischen Opposition. Ihr Ziel war nicht, ja, konnte es nicht sein, die Macht zu erlangen und die bestehende Ordnung zu stürzen, sondern sie zu beschränken, die Diktatur an die Kandare zu nehmen.

Aus heutigem Abstand ist die freiheitliche, antiautoritäre, antibolschewistische und antietatistische Dimension der westlichen 68er-Bewegungen deutlicher sichtbar als damals. Es ist auch kein Zufall, dass so viele ihrer Führungsfiguren später mit der Opposition in unserem Europa sympathisierten und sich für sie einsetzten. Auf dem Feld der Politik sind die bekanntesten Beispiele Joschka Fischer, der mehrmals nach Warschau reiste, um bei seinen Altersgenossen Polnisch zu lernen, Bernard Kouchner, der vor der polnischen Botschaft gegen die Verhängung des Kriegsrechts protestierte, und Daniel Cohn-Bendit, der überall war, wo es die Freiheit zu verteidigen galt. Häufig waren westliche 68er in der ersten Reihe derer, die das KOR6, die Solidarnosc, die Charta 77 oder russische Dissidenten unterstützten. In diesen Kreisen fanden die Ideen der antiautoritären Linken Verbreitung, eine Faszination für Mitteleuropa wurde geweckt, vor allem durch den berühmten Aufsatz von Milan Kundera über den “gekidnappten Westen” (1983)7. Nicht zuletzt dank der Opposition in unseren Ländern wurden die Menschenrechte weltweit zu einem Kampfinstrument gegen staatliche Unterdrückung und Willkür. Auch die Idee der Bürgergesellschaft, ein weiteres wichtiges Element des mitteleuropäischen Glaubensbekenntnisses, diffundierte von hier aus in die westliche antipolitische Politik. In diesen Zusammenhang gehört auch die Einsicht Rudi Dutschkes kurz vor seinem Tod, nicht Paris sei das entscheidende Ereignis des Jahres 1968 gewesen, sondern Prag.8

Vor wenigen Jahren erschien ein Buch über das Phänomen der “neuen Reaktionäre”, das eine heftige Debatte auslöste, in Frankreich gar einen Skandal.9 Der Autor Daniel Lindenberg, selbst ein 68er, behauptet darin, dass viele seiner Altersgenossen, etwa Alain Finkielkraut, André Glucksmann, Marcel Gauchet oder auch Jüngere, wie der Schriftsteller Michel Houellebecq, sich von den Idealen des Jahres 1968 entfernt hätten und heute konservative Standpunkte einnähmen. Nicht zufällig haben sich viele von ihnen für den Irakkrieg ausgesprochen, so wie zahlreiche ehemalige Oppositionelle aus den Ländern Mitteleuropas auch: der amtierende französische Außenminister Bernard Kouchner ebenso wie Václav Havel, Adam Michnik oder György Konrád. Ich konnte ihre Entscheidung damals verstehen, wenn auch nicht akzeptieren.

Was ist geblieben vom westlichen 1968? Als Utopie ist es längst tot. Es hat aber beigetragen zur inneren Demokratisierung der Gesellschaften im Westen. Die kulturelle, gesellschaftliche und moralische Revolution von damals ist in den Konflikten und öffentlichen Debatten von heute immer noch präsent. Damals entstandene Bewegungen, die sich für Frauen-, Verbraucher- oder Schwulenrechte oder für Umweltschutz und regionale Belange stark machten, sind auch heute noch lebendig. Im Wahlkampf um die französische Präsidentschaft kritisierte Nicolas Sarkozy harsch den Geist von ’68: “Diese Leute wollten, dass die Opfer weniger zählen als die Täter. Sie haben behauptet, es gebe keine Wertehierarchie, alles sei erlaubt.” Der spätere Präsident sagte dies in Anwesenheit André Glucksmanns, eines der führenden Intellektuellen des Mai ’68, der sich erstmals in einem Wahlkampf engagiert hatte, noch dazu für den Kandidaten der Rechten. Er stand neben Sarkozy, zaghaft lächelnd und offensichtlich gedemütigt.

Glucksmann antwortete mit einem Buch, das er gemeinsam mit seinem Sohn schrieb, und das im Februar 2008 erschien: Der Mai ’68 für Nicolas Sarkozy erklärt.10 Darin erklären die Autoren, dass Sarkozy eigentlich ein Erbe von ’68 sei. Wie hätte denn ein Bürger wie er, teils ungarischer, teils jüdischer Abstammung, ein Politiker, der seine Familienverhältnisse vor aller Augen “neu ordnet”, Präsident Frankreichs werden können ohne die Revolution von 1968? Alain Finkielkraut wiederum, ein weiterer Star jener Generation, findet heute kaum noch rechtfertigende Worte für den Mai ¹68, den Angriff auf jegliche Hierarchie, ohne die doch Kultur und Erziehung unmöglich seien. Den Kult, den seine Altersgenossen um die 40 Jahre zurückliegenden Ereignisse machen, bezeichnet er als “großen Zirkus”.

Vom polnischen März ist weit weniger geblieben. Er war gleichzeitig Teil und Negation Volkspolens und ist gemeinsam mit diesem Atlantis untergegangen. Ähnliches widerfuhr dem Prager Frühling, dessen Hoffnungen und dessen Tragik den polnischen März bei weitem übertrafen. Damals ist Wichtiges geschehen, aber geprägt haben jene Ereignisse unsere heutige Zeit wohl kaum. Was geblieben ist, sind die Achtundsechziger, die im öffentlichen Leben noch eine Rolle spielen.

Wie ist dann zu erklären, dass in Polen die vierzigste Wiederkehr des März so pompös gefeiert wird? Der Präsident meldet sich wiederholt zu Wort, Ausstellungen werden organisiert und Filme produziert, zahlreiche Konferenzen und Vorträge sind dem März gewidmet. Erschöpft von jahrelangen Transformationen und im Konflikt mit der eigenen Identität wendet sich Polen schon seit einigen Jahren der Vergangenheit zu. Eindrucksvoll wurde der 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands begangen, ähnlich groß der 25. Jahrestag der Solidarnosc. Der März fügt sich harmonisch ein in diese Atmosphäre der Reflexion über die Vergangenheit und der Neuformierung der nationalen Identität. Als Protestbewegung betrachtet, ist der März klar und verständlich, er tritt für den Schutz von Werten ein, was nichts Neues ist. Von den Ereignissen des Jahres 1956, die für Nachkriegspolen von ungleich größerer Bedeutung waren, ist hingegen kaum die Rede.11

Für die Bedeutung, die dem März beigemessen wird, sind meiner Ansicht nach die Schwierigkeiten der Polen mit den Juden mit ausschlaggebend. Zu beobachten ist eine eigenwillige Mischung aus Beunruhigung, Irritation, Gewissensbissen und Widerwillen. Seit 1989 markieren die Konflikte um die Kreuze vor dem Vernichtungslager Auschwitz12 und die Diskussion über Jedwabne, ausgelöst durch die Bücher Nachbarn und Angst von Jan Tomasz Gross13, die Etappen eines virtuellen polnisch-jüdischen Bürgerkrieges.

Es ist schwierig, diese Probleme nach dem christlichen Modell zu lösen: Schuldbekenntnis, Reue, Vergebung und Versöhnung. Hier hilft ein “wir vergeben und bitten um Vergebung” kaum weiter. Aus einem einfachen Grund: In Polen gibt es Juden als Individuen, doch die polnischen Juden als Volk existieren nicht mehr. Noch tragischer als im 15. Jahrhundert die jahrhundertelange Geschichte der spanischen Juden zu Ende gegangen war, endete im 20. die Geschichte der polnischen Juden. Daher zeugt der häufig erhobene Vorwurf, Gross¹ Angst erschwere den polnisch-jüdischen Dialog, von einer Verkennung der Realität. Einen solchen Dialog gibt es nicht und kann es auch nicht geben, schließlich gibt es keinen jüdischen Gesprächspartner. Man kann mit Israel in Dialog treten oder mit jüdischen Verbänden in den USA, ein polnisch-jüdischer Dialog in Polen ist nicht mehr möglich. Polen befindet sich vielmehr im Dialog mit sich selbst. Die Emotionen, die Gross¹ Buch ausgelöst hat, verdeutlichen, wie schwierig dieser Dialog ist.

Polen hat Schwierigkeiten mit seinen Nachbarn, aber keiner der gegenwärtigen Kriege um das historische Gedächtnis bedroht die polnische Identität. Niemand wird behaupten wollen, die Deutschen seien Opfer der Polen gewesen, auch wenn diese Aussicht Jaroslaw Kaczynski in Angst und Schrecken versetzt. Und niemand wird den Beweis erbringen, dass die Russen Opfer der Polen waren. Selbst das (beiderseitige) Schuldeingeständnis von Polen und Ukrainern stellt kein unerreichbares Ziel dar, da es die polnische Identität nicht bedroht.

Schwierig aber ist es mit den Juden. Denn die Bilder aus Jedwabne und Radzilow, Episoden während des Krieges, und die Pogrome in Kielce und Krakau nach dem Krieg setzen ein Fragezeichen hinter das in der Romantik verwurzelte kanonische Polenbild: Polen, der Christus der Völker, das leidende, heroische Polen, das stets auf der Seite des Guten ist und für Freiheit und Würde streitet.

Und hier, in diesem polnisch-polnischen Gespräch über das Verhältnis zu den Juden, taucht nun der März auf. Alle sind sich darüber einig, dass die Abscheulichkeiten jener Zeit “ihnen”, “den Roten”, “den Kommunisten” anzulasten sind. Eine solchermaßen zugewiesene Verantwortung gestattet es den Bürgern des postkommunistischen Polen, reinen Gewissens vom tragischen Schicksal der verbliebenen polnischen Juden zu sprechen. Leider ist die Sache so einfach nicht. Schließlich hatte das Regime die “Säuberung der Volksrepublik Polen von den Juden” ins Werk gesetzt, weil es auf die Popularität einer solchen Politik spekulierte. Und die Rechnung ging auf.

Abschließend noch ein Wort zu den Juden, die 1968 eine entscheidende Rolle spielten. Der März der Studenten, der März der Protestbewegung und der Solidarität der Intelligenz hatte ganz Polen erfasst, auch Milieus weitab der Politik. Das war die schönste Dimension des polnischen März. Diese Bewegung hatte nichts Jüdisches an sich, wenngleich das Regime die Juden ins Scheinwerferlicht rückte. Und doch gibt uns auch die antisemitische Kampagne der damaligen Regierung keine hinreichende Antwort auf die Frage, warum sich unter den Initiatoren der 68er-Bewegung so viele Juden, jüdische Polen, Polen jüdischer Herkunft, Polen mit jüdischen Wurzeln (ach, welche Schwierigkeiten bereiten die Juden dem Polnischen!) befanden. Nicht nur in Polen, auch im Pariser Mai oder in der amerikanischen 68er-Bewegung, vielleicht auch noch anderswo. Ich denke nicht, dass diese Frage verfehlt oder trivial ist, selbst wenn sie nur zweitrangig sein mag, da ja auch ohne die Beteiligung von Juden diese Proteste ihrem Charakter nach identisch verlaufen wären.

Viele Akteure der ersten März-Phase stammten aus privilegierten Kreisen. Sie waren weniger Nomenklatura-Kinder als Kinder von Akademikern, Journalisten und Künstlern. In zahlreichen Diktaturen (so zum Beispiel in Francos Spanien) kam ja den Kindern der regierenden Elite eine entscheidende Rolle bei der Erhebung gegen die Macht der Eltern zu. Auch in Polen waren sie gut informiert und fühlten sich in ihrem Milieu relativ sicher, was naiv war, wie sich zeigen sollte. Sie machten die Erfahrung, dass die Ideen, die zu Hause gepflegt wurden, in krassem Widerspruch zur Regierungspraxis standen. Die Protesthaltung jüdischer Jugendlicher in Polen wurde durch die zunehmenden antisemitischen Tendenzen der Regierung in den 60er Jahren weiter genährt.

Der März war in gewissem Maße auch eine Rebellion der Kinder gegen die kommunistische Subkultur der Elterngeneration, auch wenn diese sich oft weit davon entfernt hatte, er war eine Rebellion gegen die für die Diktatur verantwortlichen Eltern – ähnlich wie in Deutschland und Frankreich die Revolte gegen die “schweigende Generation”.

Am Ende möchte ich noch eine Hypothese wagen, die weit über den Fall Polens hinausweist. Die jüdische 68er-Generation war die erste Nachholocaust-Generation. Sie verspürte nicht mehr die innere Angst, die noch viele nur wenige Jahre ältere quälte, Angst vor Demütigung und Selbsterniedrigung. Nicht nur Antisemiten haben die Frage nach den Gründen für die Passivität der Juden angesichts des drohenden Todes gestellt, sie findet sich auch bei Hannah Arendt oder dem bedeutenden Holocaust-Forscher Raul Hilberg. Mir scheint, dass ’68 unterbewusst auch eine Revolte der Nachholocaust-Generation gegen die enorme Last der Geschichte war, welche die Elterngeneration trug. Ein anderer Weg, sich dieses Erbes zu entledigen, war die Identifizierung mit dem Sieg Israels 1967 über die arabischen Staaten und indirekt über die UdSSR.

Vielleicht schloss sich 1968 ein Kreis in der Geschichte der Juden, der in der Französischen Revolution seinen Anfang hatte. Sie verließen ihre Ghettos, hielten Einzug in die Geschichte Europas und erhielten nach und nach volle Rechte, gleichzeitig erhoben sie sich gegen jegliche Erscheinungsform von Diskriminierung und Ungerechtigkeit. Die Schwierigkeiten ihrer Lage und den Schmerz der Entwurzelung und Assimilierung brachten sie in der Sprache universeller Werte und häufig mit radikalem Engagement zum Ausdruck. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs fühlten sich die Juden in der westlichen Welt zunehmend zu Hause, sie rückten politisch weiter nach rechts und bewegten sich von den aufgeklärten Ideen eines Universalismus, Internationalismus oder Kosmopolitismus hin zu einem Partikularismus der Identifikation mit Israel und dem jüdischen Schicksal.

Begonnen habe ich mit einem Blick auf den polnischen März aus westlicher Perspektive, um gleichzeitig seine Größe und seine bescheidenen Ansprüche zu beleuchten. Geendet habe ich paradoxerweise mit der jüdischen Dimension des Jahres ’68. Vielleicht, weil dieser Artikel unbeabsichtigt auch sehr persönlich geworden ist.

Dieser Artikel ist ein Vorabdruck aus der nächsten Ausgabe der Zeitschrift Transit (Nr. 35, Sommer 2008).

Die März-Unruhen 1968 in Polen begannen mit Studenten-Demonstrationen gegen das kommunistische Regime, u.a. in Warschau, Danzig und Krakau, die schnell eskalierten. Die Repressionsmaßnahmen der Regierung gipfelten in einer antisemitischen Kampagne, in deren Folge Tausende aus der Partei ausgeschlossen bzw. aus den Apparaten entfernt und bis 1971 mehr als zehntausend Bürger, vorwiegend aus der Elite des Landes, emigrierten. Vgl. den Artikel des Leiters des Instituts für das Nationale Gedenken (Instytut Pamieci Narodowej, IPN, Warschau), Jerzy Eisler, über "Die Märzereignisse 1968", www.goethe.de/ges/ztg/prj/akt/wlt/oeu/pol/de3018778.htm. Der Journalist Jan Skorzynski schreibt in seinem Artikel "The Other Europe¹s 1968": "After 1968, Western student protestors gradually entered their countries¹ political and intellectual establishments. The Polish dissidents found themselves in prison or exile. Several thousand were expelled from universities, and 80 were imprisoned following political trials. The authorities also sacked prominent professors who had influenced and supported the students. The regime¹s darkest response, an anti-Semitic purge, resulted in an exodus of more than 10,000 people, who were also deprived of their citizenship." www.project-syndicate.org/commentary/skorzynski1/English

Am 14. Dezember fanden in Gdansk und Szczecin Arbeiteraufstände gegen massive Preiserhöhungen statt. Während der Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und Polizei bzw. Militär kamen mehrere Menschen ums Leben. Gomulka musste seinen Posten für Edward Gierek räumen.

Robert S. McNamara, Die Sicherheit des Westens. Bedrohung und Abwehr, Wien 1969, S. 23.

An der polnisch-slowakischen Grenze lebende ethnische Gruppe.

Das Werk entstand im Exil in Paris zur Zeit der Polnischen Teilungen, als der polnische Staat von der Landkarte verschwunden war. Der Schluss zeigt die Vision eines freien, neu erstandenen Polens. Das Stück wurde schon damals als Appell zu Patriotismus und Widerstand gegen die Besatzungsmächte verstanden.

Das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (polnisch: Komitet Obrony Robotników) entstand als Reaktion von Intellektuellen auf die Repressionen der polnischen Regierung gegen die Teilnehmer an den Arbeiterprotesten im Juni 1976. Hauptziel war die materielle Unterstützung und die Bereitstellung eines Rechtsbeistands für verfolgte Arbeiter. Das KOR war eine der Keimzellen der Solidarnosc.

Deutsch: "Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas", in: Kommune. Forum für Politik und Ökonomie 2 (1984), Nr. 7, S. 43-52.

Daniel Lindenberg, Le rappel à l'ordre. Enquête sur les nouveaux réactionnaires, Paris 2002.

André und Raphaël Glucksmann, Mai 68 expliqué à Nicolas Sarkozy, Paris 2008.

"Drei Jahre nach dem 17. Juni 1953 kam es am 28.6.1956 in Posen zu einem Streik der Arbeiter der Stalinwerke. Es ging um höhere Löhne und um bessere Versorgung. (...) Im Verlauf der dem Protest folgenden Straßenkämpfe, in denen die Staatsmacht mehr als 10 000 mit Panzern ausgerüstete Soldaten aufbot, starben 74 Menschen und einige hundert wurden verletzt. Wie 1953 in der DDR, wurden auch, beginnend im September, in Polen Prozesse gegen 'Provokateure' durchgeführt und die Angeklagten zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Im Unterschied zur DDR konnte die Lage nicht befriedet werden. Bis zum Ende des Sommers entstanden in vielen Großbetrieben Arbeiterräte zur Selbstverwaltung der volkseigenen Betriebe. Unterstützt von Teilen der Partei und mit ihr verbundener Intellektueller trat diese 'Selbstverwaltungsbewegung' dafür ein, dass die Belegschaften die reale Kontrolle über die Tätigkeit der Betriebe übernehmen. Die Systemkrise in Polen führte im Oktober zu Veränderungen an der Spitze der kommunistischen Partei (PVAP). Eine der ersten Handlungen des neuen PVAP-Chefs Wladyslaw Gomulka war eine Neubewertung des Streiks in Posen. Zuvor war er, wie in der DDR der 17. Juni, in der offiziellen Propaganda als Werk ausländischer Agenten diffamiert worden. Gomulka trat dieser Lüge schroff entgegen. (...) Nach der gewaltsamen Niederschlagung der ungarischen Revolution konnte Gomulka die Macht der PVAP wieder befestigen. Zu den sozial- und wirtschaftspolit. Zugeständnissen der PVAP an die Arbeiter gehörten die Erhöhung der Löhne und die Anerkennung der Arbeiterräte. Sie verloren aber bald jegliche Bedeutung." (FDGB-Lexikon, Funktion, Struktur, Kader und Entwicklung einer Massenorganisation der SED (1945-1990), hg. von Dieter Dowe, Karlheinz Kuba und Manfred Wilke, bearb. von Michael Kubina, Arbeitsversion, Berlin 2005. http://library.fes.de/FDGB-Lexikon/texte/sachteil/p/Polen_1956.html)

Gemeint ist der anhaltende Konflikt zwischen Vertretern der katholischen Kirche und jüdischen Organisationen in Polen um die Aufstellung zahlreicher Kreuze in unmittelbarer Nähe des Vernichtungslagers Auschwitz. Auslöser des Konflikts war ein Holzkreuz, das Papst Johannes Paul II. 1979 auf dem drei Kilometer entfernt gelegenen Lagergelände Auschwitz-Birkenau weihte. Anschließend wurde es von Angehörigen eines Karmeliterinnen-Klosters vor dem Lager von Auschwitz aufgestellt. Sowohl das Kreuz selbst, als auch das Karmel und die nach dem Krieg erbaute Kirche neben dem Lager Birkenau interpretieren zahlreiche jüdische Organisationen und Vertreter der polnischen Juden als Versuch, Auschwitz-Birkenau zu christianisieren. Für sie, denen Auschwitz als Höhepunkt christlich-abendländischer Judenfeindlichkeit gilt, ist das Kreuz ein Symbol der Täter, eine Auslegung, die wiederum für die polnischen Katholiken unannehmbar ist. (nach Berliner Zeitung vom 11. August 1998)

Jan Tomasz Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, aus dem Englischen von Friedrich Griese, München 2001; ders., Fear. Anti-semitism in Poland after Auschwitz. An essay in historical interpretation, Princeton 2006.

Published 26 May 2008
Original in Polish
Translated by Thomas Weiler
First published by Transit 35 (2008)

Contributed by Transit © Aleksander Smolar / Transit / Eurozine

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