Jemand braucht das

Der Soziologe Aleksei Levinson vertritt in diesem Artikel die Meinung, dass die russische Gesellschaft gelernt hat, sich mit dem Tschetschenien-Krieg zu arrangieren. ÄrztInnen, ProfessorInnen und andere Gruppen der Bevölkerung profitieren direkt oder indirekt von diesem Krieg.

Ich höre Lärm, aber der Lärm hört sich nicht.
A.K.

Die Aufschrift

Am Andrej-Sacharow-Museum in Moskau hängt ein Transparent: “Der Krieg in Tschetschenien dauert seit 1994. Es reicht!” Nichts. Tausende Autos fahren täglich vorbei. Niemand bleibt stehen, um zu widersprechen und das Spruchband herunterzureißen. Niemand bleibt stehen, um es zu unterstützen.

Seit langer Zeit treten viele Russen für die Einstellung der Kriegshandlungen und den Übergang zu Verhandlungen ein. Zur Zeit sprechen sich etwa sechs von zehn erwachsenen russischen Bürgern für den Verhandlungsweg aus. Drei von zehn sind nach wie vor Anhänger der Fortsetzung der kriegerischen Handlungen. Aber der “unpopuläre Krieg” geht weiter; und wird nach Meinung der Mehrheit nicht so bald zu Ende gehen.

Die grundlegende Antwort

Ich werde mich auf die von mir durchgeführten Gruppendiskussionen stützen, in deren Verlauf die Frage gestellt wurde, warum der Krieg in Tschetschenien weitergeht und kein Ende findet. Die Struktur der Reaktionen beeindruckt durch ihre Stetigkeit. Als erste gibt in der Regel eine belesene, ältere Person Erklärungen. Es ist eine Antwort im Zeitgeist, d.h. eine “geopolitische”: Erdöl, Pipeline usw. Aber es zeigt sich sofort, dass diese Ursachendeutung den anderen Teilnehmern nicht passt; derartige Fragen kann man auch ohne Krieg lösen. Dann findet sich jemand, der andere Zeitungen liest und gerne über geheime Triebfedern spricht: Geldwäsche, Waffenhandel, Drogenschmuggel. Er nennt Interessierte: sich am Krieg bereichernde Oligarchen, hohe militärische Ränge, die Regierung.
Die Enthüllungen beeindrucken einen Moment lang. Aber dann zeigt sich, dass sie nicht dazu ausreichen, um die wahren Gründe eines Phänomens zu nennen, welches einen so großen Platz in unserem Leben einnimmt. (Nach den Umfragen zu urteilen war dieser Krieg viele Monate hindurch das Problem Nr. 1 für die Russen).

Und dann ertönt die grundlegende Antwort. Sie klingt fast immer gleich: das heißt wohl, jemand braucht das. Diese Formel wird akzeptiert als Ausspruch des Wichtigsten, Geheimsten und allgemein Anerkannten. Mit diesem Schluss stimmen sofort alle überein, und es hat keinen Sinn mehr, die Diskussion fortzusetzen. Nachzufragen – wer, warum? – bringt für gewöhnlich kein Ergebnis. Es ist alles gesagt.

Diese Antwort weckt dadurch, dass sie zwar weit verbreitet und stereotyp und gleichzeitig verschlossen und nicht transparent ist, die Aufmerksamkeit des Forschers. Verehrter Leser, wer braucht diesen Krieg wirklich?

Es ist klar, dass im Ausdruck jemand ein mächtigeres Subjekt als ein Oligarch oder ein Minister mitschwingt. Sie werden übrigens nie mit Namen genannt. Die Erfahrung aus den Testgruppen zeigt: die heutigen Russen fürchten sich nicht davor, eine Person oder eine Behörde einer noch so schweren Sünde zu beschuldigen. Deshalb ist diese Weigerung der Nennung einer konkreten Instanz oder Figur bemerkenswert. Denn wenn der Krieg böse ist und es Schuldige gibt, müssen sie die Verantwortung dafür tragen. Aber die absichtliche Unbestimmtheit des Pronomens lässt verstehen, dass man diesen Schuldigen nicht nennen, d.h. nicht bestrafen will.

Falsch geraten!

Was ist denn das nun für ein Subjekt, das vom Massenbewusstsein in Schutz genommen wird? Es reizt einen zu sagen: wir kennen es, wir kennen diesen Menschen. Die Schuld für den ersten Tschetschenienkrieg wurde öffentlich und mit gesellschaftlichem Rückhalt dem ersten Präsidenten Russlands angelastet1. Es wäre logisch anzunehmen, dass die Öffentlichkeit die Schuld für den zweiten Krieg dem zweiten Präsidenten2 gibt. Man hat einzelne Erklärungen in diese Richtung auch gehört. Und dass sein Stern ohne den zweiten Krieg jedenfalls nicht so hoch aufgegangen wäre, bezeugen viele Meinungsforscher, darunter auch der Autor dieser Zeilen. Berücksichtigt man außerdem, dass der jetzige Präsident den Rückhalt des ganzen Volkes hat, kann man, so scheint es, zur Lösung des Rätsels kommen. Die öffentliche Meinung hält den Präsidenten für am Krieg interessiert, aber um sich selbst nicht in Verlegenheit zu bringen, tabuisiert sie seinen Namen und ersetzt ihn durch ein unbestimmtes Pronomen.

Klingt schön. Aber diese Erklärung geht nicht auf. Das sattsam bekannte “Rating Putins” ist bei all seiner Höhe und Stabilität nicht Merkmal seines Charismas. Im soziologischen Verständnis ist Charisma eine Situation, in welcher die Gesellschaft Macht und Fähigkeiten eines Führers voraussetzt, die, wie Weber sagte, “eine über die Grenzen des Alltäglichen hinausgehende” Herkunft und Kraft haben. Und deshalb werden sie nicht in Zweifel gezogen. Hier ist der Fall anders gelegen.
In Umfragen des Allrussischen Zentrums für Meinungsforschung (WCIOM) weisen dieselben Befragten, die mit einer sie selbst erschütternden Einhelligkeit und Stetigkeit die “Tätigkeit W. Putins als Präsident der Russischen Föderation” gutheißen, von Mal zu Mal durchaus unerschrocken auf das Scheitern seiner Tschetschenien-Politik hin. Wie im März 2002, als die Zahl der Befürworter seiner Tätigkeit 72% betrug, antworteten fast genauso viele: 67%, dass W. Putin im Verlauf der letzten zwei Jahre das “Problem der Zerschlagung der Kämpfer in Tschetschenien” “ohne besonderen Erfolg” oder “völlig erfolglos” angegangen ist. Dieselben 66% meinten, dass er ebenso erfolglos mit dem “Problem einer politischen Regelung in Tschetschenien” fertiggeworden ist.

Das heißt wohl, dass mit der Person, die den Krieg braucht, nicht der Präsident gemeint ist. Es geht um ein Subjekt noch größeren Maßstabs. Wer ist bei uns mächtiger als der Präsident selbst? Vielleicht jene Schmiede, die ihn zum Kader machte.

Als wär’ nichts passiert

Der Gesellschaft ist ja, allgemein gesagt, eine derartige Version, zumindest was die Gründe für den Kriegsbeginn betrifft, nicht fremd. Nur 6% sind zu behaupten geneigt, dass “die Explosionen der Häuser in Moskau und Wolgodonsk” von russischen Geheimdiensten organisiert worden waren, aber 37% haben die Antwort gewählt, dass “die Beteiligung der Geheimdienste an diesen Explosionen nicht bewiesen ist, aber man sie nicht ausschließen darf”, fast ebenso viele wie jene, die “jegliche Beteiligung der Geheimdienste an diesen Explosionen ausschließen” (38%). Die Mehrheit der Russen (53%) ist aber dafür, dass Berezowskijs Film3 im Zentralen Fernsehen gezeigt werden sollte (gegen 35%).

Die Anfänge der beiden Kriege waren tatsächlich so inszeniert worden, dass viele etwas gefunden haben, worüber es sich nachzudenken lohnt. Wir behandeln diese Sache jetzt aber von einer anderen Seite, wir sprechen über die Unmöglichkeit, den Krieg zu beenden. Hieran sind alle “Machtministerien” gleichermaßen interessiert, nehmen die Befragten an.

Die öffentliche Meinung neigt nicht dazu, die Föderationstruppen, die im Kaukasus kämpfen, nach Behörden aufzuteilen. Filme, in welchen versucht wird den Zuschauer davon zu überzeugen, dass er die “Wahrheit der Schützengräben” über diesen Krieg sieht, und deshalb den Helden in Tarnkleidung erlaubt wird, immer Wodka zu trinken und die “FSB-Leute”4 zu beschimpfen (nebenbei werden tschetschenische Mädchen, Alte und Kinder gerettet), werden bis ins Detail diskutiert.

Sie werden uns sie niemals besiegen lassen

Hinweise auf niedrige, verabscheuungswürdige Handlungsmotive, derentwegen der Krieg nicht beendet wird, befriedigen die Antwortenden selbst nicht. Es hat jedoch kein einziger Befragter mir gegenüber wohlmeinende Ziele wie etwa die Einhaltung der Verfassungsordnung oder die Unterbindung terroristischer Tätigkeit genannt. Wenn man über Ziele spricht, spricht man eher über die Aufgabe, die Ganzheit Russlands zu bewahren, sowie über Russlands Mission, dem Islam Widerstand zu leisten.

Aber auch für jene, die die historischen Ziele sehen, stellt sich die Frage, warum der Krieg andauert und wer an dieser Verzögerung Interesse hat. Man erzählt oft, dass jemand die föderalen Truppen jedes Mal dann aufhielt, wenn sie bereit waren, den ultimativen Schlag zu setzen; als ob von irgendwoher der Befehl mit dem Verbot kam, die wichtigsten Feldkommandeure zu fangen, obwohl alle wussten, wo sie sich befinden usw. Derartige Gespräche waren besonders häufig im ersten Krieg und nach dessen Beendigung. Die Vereinbarung von Chasawjurt zählen diese Leute ebenfalls dazu und sagen, dass hier jemand Verrat betrieben hat.

Ein Teil dieser Menschen möchte, dass der Gegner so schnell wie möglich besiegt wird. Sie sind mit der Verschleppung unzufrieden, was sie mit jenen zusammenbringt, die das sofortige Aufhören des sinnlosen Sterbens unserer Soldaten fordern, und mit jenen, die wollen, dass das Land aufhört, einen schändlichen Kolonialkrieg zu führen.

Man sollte sie alle…

Es gibt natürlich auch direkte Anhänger einer Verschleppung des Krieges, oder genauer, seiner Fortsetzung, wie sie sich ausdrücken, bis zum letzten Tschetschenen. Wie mir einer von ihnen erklärte, sei es besser und schneller, die Sache mit Massenvernichtungsmitteln zu erledigen, aber der Westen rüstet ab, und deshalb muss man die Kriegshandlungen mit dem Ziel führen, einfach alle tschetschenischen Männer auszurotten.

Die Anhänger dieser Meinung, mit welchen ich im Laufe der Interviews zu tun hatte, waren harmlose Spießbürger. Ihr Dürsten nach dem Genozid bleibt momentan vor allem ihr eigenes Problem. Auf den Kriegsverlauf haben sie keinen Einfluss. Es gibt möglicherweise Anhänger dieser Meinung auch unter den hohen Rängen, aber es ist bekannt, dass kein Stab allein aus “Falken” besteht, und ihren Plan zur Staatspolitik zu machen und die Politik jetzt auf ihren Plan zu reduzieren gelingt scheinbar nicht. Mit anderen Worten, es ist nicht möglich, hinter der Tendenz, den Krieg zu verlängern, den Willen eines bestimmten Einzelsubjektes zu sehen.

Stärker als alle

Und die Tschetschenen selbst, die Separatisten, Terroristen, Islamisten und Wahhabiten – zieht sich der Krieg nicht ihretwegen so lange?

Die Befragten weisen bereitwillig auf deren Jahrhunderte lange Feindschaft zu uns hin, darauf, dass sogar Jermolow fünfzig Jahre gebraucht hat (d.h., die heutigen Generäle brauchen mindestens hundert). Man weist darauf hin, dass auch die Amerikaner in Vietnam nichts ausrichten konnten. Die Autoren historischer Analogien wie auch praktisch alle anderen Diskussionsteilnehmer können letztlich nicht daran glauben, dass die russische Armee tatsächlich keinen militärischen Sieg über diesen Gegner erzielen kann. Die Frage, warum es nicht zu diesem Sieg kommt, bleibt für sie offen. Die einzige Antwort ist dieselbe, nämlich dass es einen “Geheimnisvollen” gibt, der das braucht.

Wer ist das, wer ist stärker als alle Behörden, alle Menschen? Wer ist der Wichtigste, wer ist der Grund für alles? Ich werde eine der möglichen Antworten vorwegnehmen. Unsere Öffentlichkeit ist heute, auch wenn sie das Gegenteil behauptet, in ihrer drückenden Mehrheit nach sowjetischer Art gottlos, zumindest was das Nachdenken über Gründe und Prinzipien betrifft. Die Idee etwa über den Krieg als eine von oben gesandte Strafe hat niemand erwähnt.

Lieber Leser, wir kommen daher zu einem äußerst enttäuschenden Ergebnis bei unserer Suche nach einer Antwort auf die Frage zum Thema: Wer ist gemeint, wenn der Krieg im Kaukasus damit erklärt wird, dass das irgendjemand braucht.

Cui prodest

Man meint uns damit. Dieser jemand sind wir. Aber darüber darf man nicht sprechen. Das ist unser Sozium, wie es sich sieht und sich nicht sehen will. Versteht doch die russische Gesellschaft (erlauben Sie, lieber Leser, hier über Sie als über ein mit Bewusstsein behaftetes Wesen zu sprechen), dass sie einen ungerechten Krieg führt, dass eine verabscheuungswürdige Sache gemacht wird.

Ja, sie versteht, aber sie klagt sich selbst nicht an.
Darin besteht die Ähnlichkeit zwischen dem Tschetschenien- und dem Afghanistankrieg in seinen ersten Jahren. Darin besteht auch der Unterschied zum Afghanistankrieg in seinen letzten Zügen,
nachdem Andrej Sacharows heftiger Auftritt von der Tribüne erklang und gehört wurde. Es geht nicht um eine Friedensbewegung der Masse. Aber die Gesellschaft wandte dem Krieg ihren Rücken zu. Die gesellschaftliche Zustimmung für jene, die sich dem Wehrdienst zu entziehen versuchten, wuchs. Diejenigen, die “nach der Erfüllung ihrer internationalen Pflicht” zurückgekehrt sind, erhielten in der Öffentlichkeit weder Ehrungen noch Achtung. Selbst in den Behörden, bei welchen sie die versprochenen oder sie erwartenden Vergünstigungen zu erhalten versuchten, sagten ihnen die Beamten: “Ich hab’ dich nicht dahin geschickt.”

Den Tschetschenienveteranen steht das vielleicht noch bevor. Momentan ist die Einstellung zum Krieg eine andere, nämlich gar keine. Sie wird am besten durch die von uns lange erörterte Geste des Nichtnennens von Namen, der Figur des Verschweigens, ausgedrückt.

Wodurch war Kiseljows Team der obersten Macht nicht genehm? Nach Meinung des Publikums dadurch, dass er den Tschetschenienkrieg in einer Form zeigte, in welcher die Machthaber ihn nicht sehen wollten. Wie hat die Gesellschaft auf die Schließung von TV-6 reagiert? Mit Schweigen. Was begleitet den Krieg? Schweigen. Das Transparent am Museum hängt immer noch.

Mutterland

Wenn wir diese Geschlossenheit, die Rätselhaftigkeit der Antwort weiter erörtern, finden wir, dass hier die Beurteilung in einem Wertekonflikt begründet ist. Er besteht darin, dass ein übles Mittel für einen guten Zweck herhält. Der Krieg erweist sich als funktionell, instrumental, d.h. nützlich für die Gesellschaft. Nicht ein “heiliger” Krieg, ein Krieg des “Volkes” und sogar kein “kleiner siegbringender”, sondern ein schändlicher, erfolgloser und schmutziger Krieg. Darüber hinaus muss er ein solcher sein, der einige gesellschaftspolitisch annehmbare Ziele bedient, und nicht ein Krieg, in welchem zu kämpfen, es edle Herzen zieht.

Ich möchte unterstreichen, dass diese Idee über die Instrumentalisierung des Krieges nicht in politischen oder ethischen Diskursen auftaucht, sondern in Gesprächen zu Alltagsthemen, in denen nicht die Kategorien des Guten und des Bösen aufscheinen, sondern die Begriffe “besser-schlechter”.
Spricht man über die Offiziere, die freiwillig nach Tschetschenien wollen, gibt es folgende Bemerkungen der Befragten: Wo sollen sie denn noch Geld verdienen? Sie machen das um einer Wohnung willen, um einer Auszeichnung willen. Das wird gewöhnlich in Gesprächen über die Wirtschaftskrise gesagt, über das schlechte Verhältnis der Regierung zur Armee usw.
Befragte aus Rüstungsbetrieben könnten auch sagen: Gott sei Dank, es gibt jetzt Aufträge für Tschetschenien, die Fabrik ist wieder lebendig geworden. Der Kontext sind Erzählungen darüber, dass alle Betriebe in der Stadt stillstehen, darüber, dass in den 90ern alles zerstört wurde, wie jetzt, so scheint es, alles etwas besser wird.

Mehr Burschen in den Krieg

Sie, verehrter Leser, haben einmal studiert. In den Studiengängen überwogen zahlenmäßig die Mädchen. Hochschulbildung, v.a. geisteswissenschaftliche, zog Frauen mehr an als Männer. In einigen Instituten führte man Vergünstigungen für junge Männer ein, um deren Anteil etwas zu erhöhen.

Nach dem Beginn des Afghanistankrieges zog es die männliche Hälfte in jene Lehranstalten, die die Möglichkeiten gaben, nicht in die Armee zu müssen. Damals wurde eine Anweisung zur Einschränkung der Aufnahme männlicher Studenten ausgegeben.

Der Afghanistankrieg war zu Ende. Er endete mit dem “Afghanistan-Syndrom”. In der Gesellschaft entstand die hartnäckig negative Reaktion auf die Idee, unsere Burschen (Lehnübersetzung aus dem Englischen, Journalistensprache) oder unsere Buben (die Sprache der “Soldatenmütter”) irgendwohin zu schicken, um wer weiß wofür zu kämpfen. (Das Syndrom hielt sich übrigens den ganzen ersten Tschetschenienkrieg hindurch und wurde dann zum “Tschetscheniensyndrom”. Wenn es jemanden gab, der den ersten und dann den zweiten Krieg entfesseln wollte, so musste er auf übermächtige Mittel zurückgreifen, insbesondere wegen dieses Syndroms).

Parallel begann in der Armee ab Beginn der 1980-er die Dedowschtschina5 zuzunehmen, und seit Ende dieses Jahrzehnts begann die öffentliche Angst vor ihr zu wachsen. Die Armee ist zum Schreckgespenst für die meisten Mütter geworden, welche Söhne im Alter von 1 bis zu 28 Jahren haben. Und auch für sehr viele Söhne.

Ergebnisse der Umfrage

Warum wollen viele junge Männer Ihrer Meinung nach jetzt nicht in der Armee dienen? (WCIOM, Februar 2002. Zahl der Befragten: 1600. Repräsentative Auswahl der Bevölkerung: 18 Jahre und älter. In Prozentzahlen beträgt die Summe mehr als 100% der Anzahl der Befragten, da man mehr als eine Antwort auswählen konnte.)

Zustimmungsraten zu ausgewählten Verweigerungsgründen

1. Dedowschtschina, Verspottung seitens der “Langgedienten” und der Offiziere 60
2. Gefahr, nach Tschetschenien oder an andere gefährliche Orte geschickt zu werden 51
3. Schwierige Lebensbedingungen, schlechte Ernährung 26
4. Verweichlichung, Angst vor Belastungen und Prüfungen des Armeelebens 17
5. Fehlendes Bewusstsein der Pflicht gegenüber dem Vaterland 16
6. Diskreditierung der Armee durch die Massenmedien 11
7. Verlust von zwei Jahren für Studium und berufliche Weiterentwicklung 9
8. Isolierung von zu Hause, von den Freunden und den Nächsten 6
9. Verbreitung pazifistischer Vorstellungen innerhalb der Gesellschaft 6
10.Isolierung von der weiblichen Gesellschaft, den Freundinnen und Bräuten 3
11. Anderes 4
12. Weiß keine Antwort 6

Bei der Analyse dieser Daten muss man zuerst darauf aufmerksam machen, wie wenig Schwierigkeiten diese Frage in der Gesellschaft antraf (Zeile 12). Man sieht, dass die vorgeschlagenen Antwortmöglichkeiten praktisch alle in der Öffentlichkeit existierenden Meinungen umfasst (Zeile 11).

Man kann weiters sagen, dass die Sehnsucht nach dem Zuhause und noch mehr die Sehnsucht nach der Freundin nichtige Faktoren sind (Zeilen 8, 10). Wenig bedeuten auch ideologische Umstände, “Tendenzen” (Zeilen 6, 9). Erklärungen im Geiste der Armeeführung werden ebenso von weniger als einem Fünftel der Russen angenommen (Zeilen 4, 5, 6). Die Belastungen des Alltags und die bekannte Armut des Armeelebens werden als nicht so wichtige Faktoren gesehen (Zeile 3), der Verlust von zwei Jahren noch weniger (Zeile 7).

Weiß man das alles, kann man jene zwei Antworten (Zeilen 1 und 2, in Summe 111 Punkte) richtig bewerten, welche mehr Punkte bringen als alle anderen zusammen (Zeilen 3 – 10, in Summe 99 Punkte). Diese zwei Faktoren genügen also vollauf, um den Unwillen “vieler junger Männer” zum Armeedienst zu erklären. Nach Meinung der Mehrheit der Russen bedeutet Armeedienst entweder Dedowschtschina oder Tschetschenien plus Dedowschtschina. Dedowschtschina heißt, dass, wird man nicht moralisch zertrampelt, man umgebracht oder zum Krüppel gemacht wird. Tschetschenien heißt, dass, sogar wenn man nicht umgebracht oder zum Krüppel gemacht wird, man sowieso als komplexbehafteter seelisch beeinträchtiger Mensch zurückkommt. Also ist dieser Krieg doch ein schmutziger.

Der Tschetschenienkrieg selbst, Faktor Nr. 2, wurde von mehr als der Hälfte der Russen markiert. Wem nützt es denn, dass der Krieg in Tschetschenien die jungen Männer vom Armeedienst abschreckt?

Viel Geld

Am Beginn des Tschetschenienkrieges kam es in jenen Höheren Lehranstalten, die die Möglichkeit gaben, den Militärdienst zu verschieben, zu einem bis dahin ungesehenen Überhang an Männern. (Es gibt jetzt keine Aufnahmebeschränkungen.) Wie erfahrene Eltern erklärten, die zu diesem Anlass interviewt wurden, kostet die Aufnahme in eine Hochschule viel Geld, aber das ist noch immer billiger, als im Wehrkommando die Befreiung oder Verschiebung vom Grundwehrdienst zu erhalten.
Es sei zu bemerken, dass jene, die mit Plätzen in Hochschulen handeln, viel gerade an jenen Burschen verdienen, denen die Einberufung droht. Sie verstärken die Konkurrenz und erhöhen die Preise, auch für die anderen Abiturienten.

Das erste Schmiergeld wird oft schon bis zu 12 Jahre vor den Aufnahmeprüfungen gezahlt, wenn der Bub gerade erst in einer “guten” Schule untergebracht wurde (d.h. mit Aussicht auf die Hochschule). Aus Interviews mit jungen Müttern ist bekannt, dass man manchmal zahlt, damit Fünfjährige aufgenommen werden – er wird dann ein Jahr mehr haben, um die Aufnahme zu schaffen, denn sonst bleibt nur die Armee.

Das meiste Geld fließt jedoch im Jahr der Aufnahme, und beinahe das meiste in die Taschen der Hochschulbeschäftigten oder auf Spezialkonten der Hochschulen. Nach Berechnungen von Experten des Bildungsbereichs werden 1,5 Milliarden Dollar von den Familien nur für die Gewährleistung der Aufnahme der Kinder in Hochschulen ausgegeben6.

Auf Grundlage dieser Daten kann man überschlagen, wieviel Geld die besprochene “Kriegsgefahr” den Hochschulen bringt. Machen wir ein Gedankenexperiment. Der Krieg ist zu Ende, die Armee funktioniert nach Vertragsprinzip. Jene, die in eine Hochschule ausschließlich deswegen eingetreten sind, um dem Wehrdienst zu entgehen, entkommen dem Markt. Der Anteil der männlichen Abiturienten fällt auf die vorherige Norm. Es kommt zu einer Abnahme der Nachfrage um etwa 5%. Die Gesamtzahl der Plätze in den ersten Studiengängen in den Hochschulen entspricht nach Auskunft von T. L. Kljatschko jetzt ungefähr jener der Abiturienten. Folglich geht die Nachfrage unter das Angebot. Wer wird dann die anderthalb Milliarden zahlen?

Weiter: von den zwei größten Schreckgespenstern kommt auf den Tschetschenienfaktor etwas weniger als die Hälfte. Man kann also sagen, dass der Krieg in Tschetschenien, solange er den Druck auf die Aufnahmekommissionen der Hochschulen schafft, ungefähr siebenhundert Millionen Dollar im Jahr bringt. Davon sollen dreihundert Millionen in die Taschen der im Bereich der Hochschulbildung Beschäftigten und deren Familienmitglieder gelangen. Ungefähr 1,5 Millionen Köpfe frühstücken, essen zu Mittag und zu Abend, ernähren ihre Kinder und kaufen gute Bücher um dieses Geld. Anderthalbtausend Dollar im Jahr für eine Familie sind – bei unserer Armut – ein wichtiges Zubrot.

Alles wird besser

Neben den Lehrern nährt der Krieg auch die Ärzte. In erster Linie jene, die im Jahr der Wehrpflicht in Spitäler einweisen, Diagnosen stellen, damit man befreit wird oder aufschieben kann. Aber die Bestätigungen, so erklärten die Mütter, muss man tatsächlich von Kindheit an vorbereiten. Schicksalsschläge, Infektionen. Das muss man haben oder kaufen.

Wieviel die Mitarbeiter der Wehrkommandos davon haben, weiß ich nicht. Die Eltern behaupteten in den Testgruppen, dass das System eingefahren und die Sätze bekannt seien. Sie sprachen sogar vom guten Einverständnis. Der Leiter des Wehrkommandos sagte mir: “Warum sollen wir einen so guten Burschen nach Tschetschenien schicken, warum?!”

Es kommt heraus, dass dasselbe auch hier, am sozialen Ort, wirkt, der wie ein dem Krieg und der Armee entgegengesetzer Pol aussieht. Wehrkommandoleiter, Ärzte, Pädagogen, Ihr wurdet in diese Abhängigkeit gebracht. Hochschulbildung, deine gesellschaftliche Bedeutung wurde mit diesem schrecklichen Hebel gehoben. Und doch kann man diese Maßnahmen nicht überflüssig nennen: wir müssen diesen Berufsgruppen ohnedies die Löhne erhöhen, wir müssen ohnedies den Wehrdienst verkürzen und die Hochschulbildung auf alle Schulabgänger ausweiten. Es folgt, dass der Krieg nicht umsonst ist und Menschen nicht umsonst sterben.

Drei Wege der Sozialisierung

Aber nicht alle Burschen sind in die Hochschulen gegangen. Wo sind die übrigen?
Ein Teil der jungen Männer im wehrfähigen Alter, die ihren Militärdienst aufgeschoben haben, arbeiten. Das ist ein kleiner Teil. Ein Teil arbeitet nicht und versteckt sich vor den Wehrkommandos. Ein Teil ist in Banden, ein Teil im Strafvollzug, ein Teil ist drogensüchtig. (Den Drogenkonsum als Massenproblem hat uns der Afghanistankrieg gebracht. Die Rolle des Tschetschenienkriegs am Anwachsen der Kriminalität werden wir nicht erörtern.)

Letztendlich sind einige zum Wehrdienst eingezogen worden und ein Teil von ihnen ist nach dem ersten oder zweiten Jahr, so sagt man, freiwillig nach Tschetschenien gegangen. Die einen haben überlebt, andere haben sich nicht daran gewöhnt – sie sind zurückgekommen. Wohin sollen sie jetzt? Sie können an die Hochschule, dort haben sie – ein Dankeschön dem Krieg – Vergünstigungen. Sie können zur Miliz, zu Wachdiensten. Kampferfahrung wird von dem einen oder anderen Chef geschätzt. Es gibt jedoch in der Miliz und den Wachdiensten nicht genug Plätze für alle. Dann gibt’s keine Arbeit. Das heißt, dass man in jene Strukturen gehen muss, vor welchen die Wachstrukturen schützen. Dort werden die in der Armee und im Krieg erworbenen Fähigkeiten auch geschätzt, ein Dankeschön dem Krieg. Wie junge Männer, die Arbeit suchten, erzählten, sei manchmal kein Unterschied zwischen den genannten Strukturen erkennbar.

Die drei Magistralen der Sozialisierung der jungen Männer sind geprägt vom Krieg. Von einem Krieg, den keiner von ihnen begonnen hat und welchen, so denken sie, sie nicht beenden können. Das bedeutet, man muss mit ihm leben.

Vielleicht ist es doch genug?

Das kämpfende Russland erwirbt eine eigentümliche Autorität: Unter meinen Befragten waren welche, die sich freuen, dass, drehe man’s wie man’s wolle, wir dank dieses Krieges mit Amerika auf gleich gekommen sind (wir können ihnen auf die Schultern klopfen, haben sie doch endlich verstanden, was Terroristen sind). Und Israel versteht uns, zur Zeit bringen wir Israel Achtung entgegen.

Auch ein geistiges Wachstum ist zu bemerken. Meine Befragten aus dem Militär sagen gerne, dass die Armee Knaben zu Männern macht. Es sieht so aus, als ob sich die Gesellschaft mit diesem Krieg heranwachsend gefühlt hat. Wie ein Minderjähriger nach der ersten richtig vollendeten Sache. Es ist Krieg, und uns macht das nichts aus.

Der Krieg (wenn er verstanden wird, wohl gemerkt) macht die Menschen und die Gesellschaft wirklich erwachsen. Von E. Solowjow dürfte der Gedanke stammen, dass für das Heranreifen des gesellschaftlichen Geistes und der Seele es besonders wichtig sei, sich einer Niederlage bewusst zu werden. Nach dem Afghanistankrieg gab es eine solche Chance. Man hat jedoch die Tschetschenienfeldzüge zu schnell begonnen. Die Chance gab es auch nach dem ersten Feldzug, aber da wurde bereits der zweite begonnen.

Es wird die Zeit kommen, angestrengt darüber nachzudenken. Aber bis dahin bleibt die Frage: Haben wir uns nicht zu gut um den Herd dieses “Haus”-Krieges eingerichtet?

Boris Jelzin (A.d.Ü.)

Vladimir Putin (A.d.Ü.)

Der in London lebende Oligarch Boris Berezowskij hat vor kurzem einen Film vorgestellt, der die Version der Beteiligung des russischen Geheimdienstes FSB behandelt. (A.d.Ü.)

FSB - Föderaler Sicherheitsdienst, Nachfolgeorganisation des KGB (A.d.Ü.)

Dedowschtschina: systematische Erniedrigung der "neuen" Grundwehrdiener durch ältere und Offiziere. Die Folgen sind seelische und körperliche Beeinträchtigungen, in vielen Fällen Selbstmord der Betroffenen. (A.d.Ü.)

Otetschestwennye zapiski, 2002, Nr. 2, S. 14.

Published 5 August 2002
Original in Russian
Translated by Susanne Macht

Contributed by Neprikosnovennij Zapas © Neprikosnovennij Zapas eurozine

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Read in: EN / DE / FR / RU

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