Das Recht für die Solidarität mobilisieren

Die Verleihung des Wahlrechts an Migranten kann das demokratische Defizit überwinden, aber die ethnonationalistische xenophobe Idee der politischen Gemeinschaft erfordert eine politische und keine juristische Lösung, argumentiert die Sozialanthropologin Shalini Randeria.

Anna Wójcik: Schärfere Grenzkontrollen sind zu einer der wichtigsten Forderungen in der europäischen Politik geworden. Doch ist es möglich, die Durchlässigkeit von Grenzen zu eliminieren?

Shalini Randeria: Grenzen sind ambivalente Institutionen. Sie sind dafür gemacht, die Bewegungen von Menschen und Gütern zu kontrollieren, aber scheitern daran oder vermögen ihre Aufgabe nur auf partielle Weise und selektiv zu erfüllen. Unter dem Druck der lauter werdenden öffentlichen Forderung nach mehr Sicherheit und staatlicher Grenzkontrollen sehen wir höhere Mauern, größere Zäune und teurere Überwachungstechnologie, die an den Grenzen zwischen den USA und Mexiko, zwischen Indien und Bangladesch oder an der italienischen Küste eingesetzt werden. Doch bleiben dies zum Großteil kosmetische, populistische Maßnahmen, die hauptsächlich darauf abzielen, die öffentliche Wahrnehmung zu beeinflussen. Sie sind nicht dazu in der Lage, Menschen, die vor Not, Bürgerkrieg und Hoffnungslosigkeit fliehen, davon abzuhalten, auf der Suche nach einer besseren und sichereren Existenz zwischenstaatliche Grenzen zu überqueren.

Die rechtliche Unterscheidung zwischen Migranten und Flüchtlingen ist schon längst obsolet geworden. Die Durchlässigkeit der Grenzen zeigt auch die Nachfrage nach billiger Arbeitskraft in der Wirtschaft an, ob es um Hausarbeit, den Pflegebereich, den Niedriglohnsektor in der Landwirtschaft oder stigmatisierte Sexarbeit geht. Während sich also der Staat darum bemüht, die Illusion einer souveränen Grenzüberwachung aufrechtzuerhalten, zieht die in allen westeuropäischen Ländern bestehende Nachfrage nicht nur nach ungelernter Arbeit, sondern auch nach Fachkräften, seien es Klempner oder Elektriker, Ärzte oder Ingenieure, Spitzenmanager und Akademiker oder Experten im IT- und Bankensektor Arbeitskräfte von innerhalb und außerhalb der Europäischen Union unter sehr verschiedenen Bedingungen an. Man kann im Allgemeinen sagen, dass die, die besser abgesichert sind, das geringste Risiko beim Grenzübertritt eingehen, während die, deren Leben in ihrer Heimat und auf der Reise am stärksten bedroht sind, überhaupt keine Absicherung irgendeiner Art genießen.

Warum bewegen sich Güter und Menschen nicht auf die gleiche Weise frei umher?

Die Grenzen heute regulieren die Bewegung von Menschen und Gütern auf sehr asymmetrische Weise. Die ganze rechtliche und ökonomische Architektur der neoliberalen Politik ist errichtet worden, um die freie grenzüberschreitende Bewegung von Waren, bestimmten Dienstleistungen und des Kapitals zu ermöglichen. Die Liberalisierung von Waren- und Kapitalflüssen gereicht größtenteils den mächtigen multinationalen Konzernen zum Vorteil, die sogar dazu in der Lage sind, Staaten für die Verletzung oder Behinderung ihrer Rechte als Investoren zu verklagen. Die Rechte der Bürger, ganz zu schweigen von denen der Migranten oder Flüchtlinge, werden nicht auf vergleichbare Weise geschützt. Sowohl Staaten als auch Konzerne haben sich selbst zunehmend von der Verantwortung gegenüber den Bürgern freigemacht.

Ist die Transnationalisierung des Rechts förderlich oder hinderlich für die Erreichung des Ziels globaler Solidarität?

Die Transnationalisierung des Rechts verläuft in verschiedenen Bereichen auf sehr verschiedene Weise, betrifft verschiedene Akteure und hat unterschiedliche Folgen. Viele Gebiete des Rechts werden mit verschiedenen Geschwindigkeiten und auf unterschiedliche Weisen transnationalisiert. So könnte beispielsweise der Kontrast zwischen dem Bereich des Handelsrechts und dem der Menschenrechte oder der Menschenrechtsgesetzgebung kaum größer sein. Die Transnationalisierung letzterer ist ein Bottom-up-Prozess, an dem nichtstaatliche Akteure, NGOs und die Aktivisten sozialer Bewegungen beteiligt sind, die die treibenden Kräfte des Wandels sind und die bestehende Architektur internationaler zwischenstaatlicher Vereinbarungen nutzen, um die Unterzeichnerstaaten an ihre eingegangenen Verpflichtungen zu erinnern. Aktivisten übertragen und assimilieren fundamentale Rechtsschutzstandards in beziehungsweise an den regionalen oder nationalen Kontext, machen aber auch transnationale Solidarität möglich. Dieser komplexe Prozess umfasst die Übertragung internationaler Menschenrechtsnormen und ihre Verankerung unter den lokalen Umständen innerhalb der einzelnen Nationalstaaten. Diese Rechte können allerdings durch die Transnationalisierung des Handels- oder Urheberrechts, die von internationalen Organisationen wie der WHO, aber auch von großen multinationalen Konzernen und Regierungen und deren bilateralen Abkommen vorangetrieben wird, gefährdet werden. Die Lobbyinteressen und die mangelnde Transparenz, die die gegenwärtigen Verhandlungen über CETA und TTIP umgibt, sind hier sehr deutliche Beispiele.

Die Visegrad-Länder haben kürzlich die Idee einer „flexiblen Solidarität“ als Antwort auf die Flüchtlingskrise aufgebracht, die eine Alternative zu Umsiedlungen und Migrationsquoten darstellen soll. In praktischer Hinsicht würde dies mehr humanitäre Hilfe und Unterstützung für Flüchtlinge in Lagern bedeuten, die in Ländern nahe von Konfliktzonen liegen. Kann Solidarität flexibel sein oder ist das ein begrifflicher Widerspruch?

„Flexible Solidarität“ ist ein Oxymoron. Es kann keine Solidarität der Bequemlichkeit geben. Jozef Tischners kompromisslose Aufforderung zur Solidarität in seinem Buch Ethics of Solidarity ist inmitten dieser Politik der Angst, des Ressentiments und der Feindseligkeit, die die vergeblichen Versuche der Errichtung von Mauern befeuert, mit denen wir uns selbst in enge nationale Territorien und Kulturen hineinzwängen sollen, wichtiger als je zuvor. Seine Ethik der Solidarität ist eine universalistische, obwohl von ihren Wurzeln her zutiefst christliche, und entspringt gerade aus der spezifisch polnischen Situation. Er fragt: Auf wen sollte sich Solidarität richten? Und seine Antwort lautet: Wir schulden eine besonders weitgehende und tiefe Solidarität denen, die verletzt, von anderen Menschen verwundet worden sind, und die deshalb vermeidbares, unnötiges und willkürlich zugefügtes Leid erfahren haben.

Es wäre eine Karikatur seiner Vorstellung von Solidarität, wenn sie zu einer Sache der Geopolitik erklärt und für Zwecke der Innen- oder internationalen Politik instrumentalisiert werden würde. Es ist nicht widersprüchlich, wenn die EU einerseits Unterstützung für die Lager in Konfliktgebieten bereitstellt und andererseits auch eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen direkt aus denjenigen Regionen aufnimmt, die vom Bürgerkrieg am schwersten betroffen sind. Dies würde den Druck auf die Flüchtlinge vergrößern, sich in die Hände skrupelloser Schlepper zu begeben. Und die EU müsste ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen nicht an die Regierung Erdogans auslagern. Größere humanitäre und Entwicklungshilfe für Flüchtlinge in Lagern aus Bildungs-, Gesundheitsversorgungs- und wirtschaftlichen Gründen ist eine exzellente Idee, die dringend in die Tat umgesetzt werden sollte. Denn es sind die ärmeren Länder in Afrika, Asien und dem Nahen Osten, die die Lasten der globalen Flüchtlingsbewegungen schultern.

Warum finden diese Diskussionen jetzt in Europa statt? Warum gibt es den Wunsch danach, der Solidarität Grenzen zu setzen?

Migranten und Flüchtlinge zu integrieren hat sich, trotz der relativ geringen Zahlen derer, die unsere Küsten erreichen, jedenfalls im Vergleich mit der Anzahl jener, die, wie auch schon in den Jahrzehnten zuvor, in Lagern vor Ort leben, als problematisch erwiesen. Paradoxerweise sind es zwei der größten europäischen Errungenschaften, die sich als Integrationshindernisse erweisen, nämlich die liberale Demokratie und der Wohlfahrtsstaat. Warum integrieren sich Migranten und Flüchtlinge in den USA ins Arbeitsleben und in Westeuropa in das Sozialsystem? Die europäischen Wohlfahrtsstaaten gewähren diesen Neuankömmlingen relativ großzügige Sozialleistungen, obwohl dies zunehmend weniger der Fall ist. Und komplizierte rechtliche Vorschriften, die Sprachbarriere und das Erfordernis formaler Qualifikationen sogar für Jobs im Niedriglohnsektor machen es für Fremde sehr schwer, auf den Arbeitsmarkt zu gelangen.

Im Vergleich zu den USA ist die Eingliederung von Einwanderern in den meisten europäischen Ländern ein schwerfälliger und langwieriger Vorgang. Dennoch können, wie Donald Trumps Wahlerfolg gezeigt hat, selbst in einem Einwandererland fremdenfeindliche Stimmungen erfolgreich geschürt werden. Das ist besonders einfach in einer Situation, in der die politischen Parteien und die Eliten das traurige Los der vielen Verlierer der neoliberalen ökonomischen Globalisierung lange ignoriert haben. Doch die gegen Einwanderer gerichtete Stimmung in Europa deutet auch auf die alarmierende Unterscheidung von „Liberalismus“ und „Demokratie“ hin. Liberale Prinzipien verlangen das Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und Bewegungsfreiheit. Die politische Praxis in illiberalen Demokratien schreibt hingegen eine Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und internationaler vertraglicher Vereinbarungen vor. Populistische Parteien, die sich selbst als die Hüter europäischer Werte und der christlichen Zivilisation ausgeben, propagieren überall in Europa eine Abkehr von liberalen Grundsätzen. Demokratie wird in vielen europäischen wie auch afrikanischen Ländern einfach auf Wahlen mit verschiedenen Parteien reduziert.

Können rechtliche Instrumente eingesetzt werden, um dem Anwachsen einer ethnozentristischen Solidarität entgegenzuwirken, die ein universalistischeres Verständnis von Solidarität schwächen?

Das Anwachsen des Ethnonationalismus mit seinem enggefassten xenophoben Bild von der politischen Gemeinschaft ist ein politisches Phänomen, das nach einer politischen und nicht nach einer juristischen Lösung verlangt. In einem demokratischen System kann man solche Parteien oder solche Propaganda nicht verbieten, obwohl die Verbreitung von Unwahrheiten im Wahlkampf, wie man es während der Brexit-Kampagne beobachten konnte, eine ernste Gefahr für die Demokratie darstellen. Das Gesetz kann dazu beitragen, die Rechte von Flüchtlingen und Migranten zu stärken. Durch die Erteilung staatsbürgerlicher Rechte können sie in die politische Gemeinschaft aufgenommen werden, wodurch sie eine Chance bekämen, in Prozesse kollektiver Deliberation eingebunden zu werden. Die europäischen Gesellschaften leiden heute ebenfalls unter einem demokratischen Defizit, da viele Migranten stimmlos sind und überhaupt keine politischen Rechte haben, obwohl sie Steuern zahlen. Dazu kommt noch, dass populistische Maßnahmen auch noch an ihren sozialen und ökonomischen Rechten rütteln.

Warum versagt das Recht dabei, sich an die ökonomischen und gesellschaftlichen Realitäten anzupassen?

Das Recht ist zwiespältig; es kann repressiv oder emanzipatorisch wirken. Es kann den sozialen Normen entweder hinterherhängen oder ihnen weit voraus sein. Es kann Veränderungen in der Gesellschaft widerspiegeln oder als Katalysator für den sozialen Wandel wirken. Und oft besteht eine Kluft zwischen dem Recht auf dem Papier, das heißt, den Normen, wie sie in die Form des Gesetzes gegossen sind, und dem Recht in der Praxis. In vielen Ländern gewähren Arbeits- und Antidiskriminierungsgesetze Frauen viel weiterreichende Rechte, als sie sie praktisch wahrnehmen können. Trotz der gesetzlichen Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit ist dies in kaum einem Land irgendwo auf der Welt in die Praxis umgesetzt worden. Oder nehmen wir den entgegengesetzten Fall: In vielen Ländern erlaubt das Gesetz keine gleichgeschlechtliche Ehe, aber dennoch gelingt es schwulen und lesbischen Paaren, ihr Zusammenleben zu organisieren. Das Gesetze definiert das Minimum, das gewährleistet sein muss, nicht das Maximum, das erreicht oder angestrebt werden kann.

Dieses Interview wurde während der 10th Conference on Solidarity/ 27th European Meeting of Cultural Journals geführt, die vom 4. bis 6. November 2016 in Danzig stattfand, geführt. Die Konferenz wurde gemeinsam von Eurozine, dem Institut für die Wissenschaften von Menschen in Wien, dem European Solidarity Centre in Danzig und der Stiftung Res Publica organisiert.

In Kooperation mit: Erste Foundation und dem Bürgermeister von Danzig

Mitbegründet durch:

Außenministerium der Republik Polen

Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit

Connected action for the Commons, Europäische Kulturstiftung

Das Projekt wurde durch das Außenministerium der Republik Polen mitfinanziert.

Published 12 July 2017
Original in English
Translated by Frank Lachmann
First published by in Res Publica Nowa, Special Edition 'Mobilizing for the Commons' 2016; Eurozine (English version); Transit online (German version)

Contributed by Transit online © Eurozine / Shalini Randeria / Anna Wójcik

PDF/PRINT

Read in: EN / DE

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