Das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen

Die Herausbildung normativer Ordnungen ist das Oberthema eines großen Frankfurter Forschungsverbunds. Philosophen, Volkswirtschaftler, Politikwissenschaftler, Historiker, Ethnologen und Rechtswissenschaftler haben sich versammelt, um die Veränderung der Welt mit der Welt des Sollens in Verbindung zu setzen. Vier davon sind die Philosophen Rainer Forst, Stefan Gosepath und Christoph Menke sowie die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff. Anlass für einige Nachfragen zu Stand und Zukunft der Demokratie. Peter Siller im Gespräch mit der Neuesten Frankfurter Schule.

polar: Gehen wir von unten nach oben, beginnen wir mit einer Diagnose – sechzig Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes, zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer: In welcher Verfassung ist unsere Demokratie? Manche sprechen ja schon von einer “Postdemokratie”, also einem “nachdemokratischen Zeitalter”. Wie lässt sich die Entwicklung der Demokratie in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten beschreiben? Als Transformation mit Chancen und Risiken, in der sich die Demokratie in ihrer Gestalt und ihren Verfahren verändert hat? Oder – in guter Analyse-Tradition der “alten” Frankfurter Schule – als Demokratieverlust, als Abwärtsbewegung? Wie stehen die Zeichen heute für einen neuen Anlauf, die Demokratiefrage zu einem gesellschaftlichen Thema zu machen? An welchen Punkten müsste man ansetzen?

Forst: Man sollte sich meines Erachtens davor hüten, Demokratiemängel stets als “Verluste” zu bezeichnen, als ob früher alles oder vieles besser gewesen wäre. Jede Zeit hat ihre Herausforderungen, weil sie mit Demokratievorstellungen konfrontiert ist, die früher so möglicherweise gar nicht existierten, etwa die Zersplitterung des öffentlichen Raumes durch neue Medien. Wir machen heute insbesondere die Erfahrung, dass sich die politischen Räume und auch die Fragen der Politik den herkömmlichen Institutionen und dem eingewöhnten Denken entziehen. Es ist fraglich, welche Institutionen es sind, die etwa die Klimakatastrophe politisch verhindern und die Finanzkrise bewältigen könnten, national, inter- oder transnational, und wie diese demokratisch gestaltet werden könnten. Es fehlt für solche wahrhaft globalen Probleme auch der öffentliche Raum, sie zu diskutieren. Politische Handlungsanforderungen und politische Reflexionsräume und Erfahrungen passen immer weniger zueinander. Das Ergebnis ist allzu oft eine technokratisch legitimierte Politik jenseits wirklicher öffentlicher Rechtfertigung.

Menke: Auch und gerade die “alte” Frankfurter Schule hat das Erzählen von Verfallsgeschichten für konservative Rhetorik gehalten. Die Kritik daran allein rechtfertigt aber noch keine Fortschritts-, gar Erfolgsgeschichte der Demokratie. Wenn es in der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren fraglos weniger autoritär zugeht, so hat das wahrscheinlich weniger mit politisch erkämpften Erweiterungen von Partizipationsmöglichkeiten zu tun als vielmehr mit den bekannten Veränderungen sozioökonomischer Strukturen, die eine Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen ebenso ermöglichen wie verlangen. Die Frage nach der Demokratie ist aber eine ganz andere: die Frage nach der Teilnahme eines jeden an der Selbstregierung aller. Dazu braucht es zweierlei: die demokratische Macht, die Gesellschaft in ihren Grundstrukturen zu gestalten, und den demokratischen Streit darum, wie das richtigerweise geschehen soll. Von beidem ist nicht viel zu sehen.

Deitelhoff: Wir beobachten seit langem eine Bewegung innerhalb der demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozesse, die sich aus den formalen Körperschaften, insbesondere des Parlaments heraus- und zu neuen Formen des Regierens hinbewegen. Die erhebliche Zunahme von Runden Tischen, Politiknetzwerken oder dialogischen Bürgerbeteiligungsverfahren sind dafür beredtes Zeugnis. Politik soll konsensuell unter Beteiligung der Betroffenen und möglichst diskursiv gesteuert sein – im Grunde schiene damit prima facie also die alte Forderung der Frankfurter Schule nach einem Mehr an direkter Demokratie eingelöst. Das greift aber zu kurz, denn es mag zwar ein Mehr an direkter Beteiligung sein, aber keineswegs immer ein Mehr an Demokratie. Die Ergebnisse, die in oftmals kleinen, abgeschotteten Verhandlungsrunden erreicht werden, kommen häufig auf Kosten nichtanwesender Dritter zustande, die Repräsentationslogik führt bei Verbands- und Initiativenvertretern teils zu einem abwehrenden Verhandlungsstil, der Ergebnisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner produziert. Außerdem sind ressourcenstärkere Beteiligte aus dem Bereich der Ökonomie auch in partizipativen Verfahren faktisch privilegiert, verfügen sie doch häufig über eine überlegene Menge an Personal, Geld, Expertise und Zeit, die sie in die Verfahren investieren können. So wird das Mehr an “Bürger”-Beteiligung oftmals zum Placebo, um antizipiert umstrittene Politiken durchzusetzen. Ist damit also der Niedergang der Demokratie eingeläutet oder bereits die Postdemokratie erblüht? Wir sollten die Demokratie und ihre Institutionen nicht unterschätzen. Sie mögen zwar behäbig sein, bleiben aber wirkungsvoll. Oftmals reicht schon die Politisierung der Ergebnisse durch öffentliche Skandalisierung, das heißt eine Einbettung in starke Öffentlichkeiten bleibt unverzichtbar.

Gosepath: Die Lage der Demokratie in Deutschland scheint doch nach wie vor – verglichen mit der schwierigen Geschichte der liberalen und demokratischen Entwicklung unseres Landes – recht gut. Demokratie gilt als das akzeptierte Verfahren politischer Herrschaft. Gleichwohl lassen sich mindestens einige bedenkliche Probleme ausmachen: Da ist erstens das Problem, ob das Funktionieren einer Demokratie nicht auf einer demokratischen Kultur beruht, die vielleicht zu erodieren droht und dann – so die These von konservativer Seite – nicht allein aus der säkularen Organisationsform des demokratischen, liberalen Rechtsstaats erneuert werden kann. Da ist zum zweiten das Problem der Globalisierung. Denn mit ihr wurde spätestens deutlich, dass politische Entscheidungen in einem Land auch gravierende Folgen für Menschen außerhalb dieses Landes haben können, ohne dass sie die Möglichkeit hätten, an dem Zustandekommen der Entscheidung beteiligt zu sein. Drittens zeigt das faktische politische demokratische System immer wieder Ineffizienzen, sei es wenn es wegen Krisen schnell zu handeln gilt oder wenn die komplexen föderativen Strukturen und die sich immer mehr ausdifferenzierende Parteienlandschaft eine klare Entscheidungs- und Mehrheitsfindung erschweren.

polar: Welche Rolle können und sollten die Intellektuellen, die Philosophen und Theoretiker, in einer solchen öffentlichen Debatte spielen? Fehlen in der Bundesrepublik die “Public Intellectuals”, wie wir sie etwa aus dem angloamerikanischen Raum kennen? Befördert das bestehende universitäre Karriere-System diese Nicht-Einmischung? Und welchen Anteil hat der poststrukturalistische Turn der neunziger Jahre, der inzwischen auch tief in die kritische Theorie eingesickert ist? Müsste der politische Liberalismus, der die dritte Generation der “Frankfurter Schule” stark geprägt hat, hier nicht stärker in die Auseinandersetzung gehen?

Gosepath: Natürlich ist es wünschenswert, wenn mehr ðIntellektuelleÐ sich öffentlich politisch engagieren würden. Gerade in einigen Ländern im ðaltenÐ Europa, zum Beispiel in Frankreich, aber auch besonders in Deutschland mit der überragenden intellektuellen Gestalt Habermas haben wir einen kritischen, intellektuellen Diskurs, der es in die glücklicherweise vorhandenen öffentlichen Medien schafft und von einer noch immer breit gebildeten und interessierten bildungsbürgerlichen Schicht wahrgenommen wird. Die Kolleginnen und Kollegen in den USA können leider nur auf verschiedenen Kanälen zwischen ihren universitären Elfenbeintürmen hin und her funken, weil die Strukturen einer bürgerlichen Öffentlichkeit dort beinahe komplett fehlen. Aber dennoch: Die hiesige vergleichsweise gute Ausgangssituation gilt es zu nutzen, um eine kritische Öffentlichkeit lebendig zu halten und den demokratischen Impuls in der Bevölkerung zu stärken. Welche politische Philosophie, Poststrukturalismus oder Liberalismus, die bessere ist, muss sich dann in öffentlichen Debatten über konkrete politisch kontroverse Inhalte zeigen.

Menke: Die politische Funktion des Intellektuellen liegt dort, wo die demokratische Politik auf “Parteien” oder “Parteiungen” angewiesen ist. Denn Parteien sind Schnittpunkte von Partikularität und Universalität: Parteien repräsentieren bloße Teile des sozialen Ganzen, die aber Modelle des sozialen Ganzen entwerfen und durchzusetzen versuchen. Dieser spannungsvolle Zusammenhang von Partikularität und Universalität, der grundlegend für die demokratische Politik ist, bedarf des Intellektuellen – nicht notwendig als soziale Figur, aber als Tätigkeitsform. Die politische Kraft des poststrukturalistischen Denkens, die sich in einer Reihe wichtiger Publikationen in den letzten zehn Jahren erwiesen hat, liegt genau darin, dieses “politische” Verhältnis von Partikularität und Universalität, das sich nach keiner der beiden Seiten auflösen lässt, ins Zentrum zu stellen. Die Idee der Unparteilichkeit, wie sie im sogenannten “Politischen Liberalismus” artikuliert wird, hat dagegen die Tendenz, dieses Verhältnis zu verdecken und ist insofern unpolitisch.

Forst: Ich glaube nicht, dass es in der Bundesrepublik im Unterschied zu anderen Ländern einen Mangel an sich öffentlich äußernden Intellektuellen gibt. Und ich halte auch den Einfluss von institutionellen Bedingungen und Theorieströmungen für weniger ausschlaggebend dafür, dass sich das Bild der Intellektuellen etwas diffus darstellt. Eher schon führe ich das darauf zurück, dass sich angesichts der wahrhaft immensen politischen Herausforderungen unserer Zeit bisher kein deutlich definiertes progressives Projekt herausschält, das sich seine Fürsprecher und Vordenker suchte. Einige Beispiele: Wie soll eine konsequente Friedenspolitik aussehen, wenn ein Genozid droht? Wie sind die Imperative der Klimapolitik mit denen der Anhebung des Lebensstandards der ärmeren Regionen zu vermitteln? Wo sind die politischen Orte für die Diskussion und Legitimation von Regeln globaler Gerechtigkeit – eingedenk postkolonialer Überlegungen zu den Gefahren des “Demokratieexports”? Wie sieht eine fortschrittliche Form multikultureller Integration aus – mit oder ohne Kopftuch? Dies sind nur einige der zentralen Fragen. Ich will nicht so verstanden werden, als gäbe es darauf keine guten Antworten. Aber es wird aus dieser Gemengelage kein fortschrittliches Projekt, das politische und kognitive Energien bündelte wie zu anderen Zeiten gesellschaftlichen Aufbruchs. Wir leben in einer Zeit der Herausbildung neuer normativer Ordnungen, aber die Suchbewegung nach den entsprechenden Normen ist noch nicht gerichtet.

Deitelhoff: Natürlich ist die Einmischung der Intellektuellen zentral. Ihnen kommt die Aufgabe zu, Themen gesamtgesellschaftlicher Bedeutung aufzugreifen und Zusammenhänge herzustellen, wo diese im Klein-Klein der parteipolitischen Auseinandersetzung verloren gehen. Zugleich wird diese Aufgabe durch die Umstrukturierung des Wissenschaftsbetriebs immer weiter erschwert. Wenn ein Wissenschaftssystem die Anreizsysteme einseitig nur noch mit Blick auf wissenschaftsinterne Publikationen und Drittmitteleinwerbungen ausrichtet, fehlt sowohl die Zeit, sich in diesen im besten Sinne anspruchsvollen öffentlichen Diskurs einzuschalten, als auch überhaupt noch an Themen zu arbeiten, die als große Entwürfe gelten können, denn die Publikationspraxis hat zur Konsequenz, dass die Arbeiten immer kleinteiliger, immer arbeitsteiliger werden und darum auch bei den Philosophen und Theoretikern selbst die großen Zusammenhänge immer mehr in den Hintergrund treten.

polar: Hinzu kommt in jüngerer Zeit bei einigen der Zweifel, ob ausgeprägte demokratische Verfahren eigentlich in der Lage sind, auf die großen Krisen zeitnah zu reagieren – ob mit Blick auf die Finanz- oder die Klimakrise. Die Legislative spielte bei den Entscheidungen zu den staatlichen Konjunkturpaketen und Finanzhilfen nur eine marginale Rolle. Und auch zur Bewältigung der Bedrohung durch den Klimawandel werden Stimmen laut, die den befristeten Entscheidungshorizont der Parlamente und der Regierungen eher als Teil des Problems denn als Teil der Lösung begreifen. Wie kann sich eine starke Demokratie gegen diesen Effizienzdruck behaupten?

Deitelhoff: Zunächst einmal sollte man herausstreichen, dass die Verlangsamung von Entscheidungsprozessen, durch die sich Demokratien auszeichnen, eigentlich eine ihrer Qualitäten ist, denn zumindest idealtypisch sollen die aufwändigen Beratungs- und Beschlussverfahren ja gerade dazu führen, dass dadurch auch bessere Ergebnisse zustande kommen, in dem Zeit und Raum geschaffen wird, alle Argumente und relevanten Informationen in den Entscheidungsprozess einzuspeisen. Hinzu kommt, dass viele Krisen ja gar nicht so plötzlich aufkommen, wie dies teils suggeriert wird. Die Klimaproblematik ist ja seit langem bekannt. Die Frage ist doch, warum überhaupt nur so spät und so zögerlich reagiert wurde. Hier scheinen die Probleme weniger in den Entscheidungsprozessen von Demokratien zu suchen zu sein, Nichtdemokratien sind kaum proaktiver zu nennen, sondern eher in kulturell-politischen Unterschieden und zumindest mit Blick auf die Klimaproblematik wohl auch in der Art des Problems. Kostenträchtige Maßnahmen werden zu einem Zeitpunkt verlangt, von dem aus die Konsequenzen eines Unterlassens in der ferneren Zukunft liegen. Um auf die Grundfrage zurückzukommen: Eine starke Demokratie muss diesen Effizienzdruck nicht nur aushalten können, sondern sich mit guten Gründen gegen dessen Beschleunigungstendenzen stemmen. Das gilt insbesondere für die Parlamente, die sich ihre Gestaltungskompetenz nicht dauerhaft von den Exekutiven aus der Hand nehmen lassen dürfen.

Menke: Die Entwicklung kurzfristiger Lösungsstrategien für temporäre Krisen ist eine Sache effektiver Verwaltungen und sollte von ihnen auch gefälligst erbracht werden. Strukturelle Krisen dagegen verlangen Strukturveränderungen der Gesellschaft und bedürften insofern der Ausübung demokratischer Macht. Ich kann nicht sehen, was Verwaltungen prinzipiell zu einem Denken in längeren Fristen eher befähigen sollte als politische Akteure. Dass es so sei, ist eine Annahme aus der Mottenkiste der Demokratiekritik mit ihrer Verachtung der wankelmütigen Plebs.

Gosepath: Die gegenwärtige Finanzkrise zeigt sich meines Erachtens auch als momentane Krise aktualer Demokratien: Milliardenschwere “Rettungspakete” gerade für die Mitverursacher der Krise zu Lasten der jetzigen, aber vornehmlich der zukünftigen Steuerzahler wurden von einer kleinen Zahl von politischen Entscheidern weltweit geschnürt – ohne nennenswerte demokratische Beteiligung. Gleichzeitig wurde mit großer Mehrheit im Schnellverfahren in den Parlamenten abgestimmt. Dabei hat scheinbar keiner eine klare Erklärung, wie es zu der Krise kam und wie sie in Zukunft zu verhindern ist. Die jetzige Finanzkrise entlarvt damit auch die vermeintliche finanzpolitische Expertise. Umso bedenklicher muss es stimmen, dass finanzpolitische Experten die Krise meistern sollen. Vielleicht sollte man es stattdessen mit dem gesunden Menschenverstand des demokratischen Souveräns probieren. Dem demokratischen Souverän, sofern er sich wirklich in deliberativen Verfahren berät und aufklärt, ist da oft mehr zuzutrauen.

polar: Eine oft erhobene Forderung in der Tradition der kritischen Theorie ist der Ruf nach “unmittelbarer” Beteiligung, nach “radikaler” Demokratie. “Vordenker” finden sich von der antiken Philosophie über Rousseau bis zu Hannah Arendt. Ist das mit Blick auf die Herausforderungen, vor denen die Selbstbehauptung der Demokratie steht, der richtige Ansatz, der richtige Schwerpunkt der Kritik? Wenn die Analyse stimmt, dass demokratische Steuerung in vielen Fragen nur noch supra-, trans- oder international denkbar ist, heißt das doch, dass der Kreis der zu berücksichtigenden Subjekte und der damit verbundenen Interessen immer größer wird. Insofern müsste sich das Nachdenken doch eigentlich auf die Möglichkeiten einer demokratischen Interessenaggregation, auf demokratische Legitimation von und die Repräsentation in solchen Institutionen konzentrieren.

Menke: Der Gegensatz von Unmittelbarkeit und Repräsentation in der Ausübung politischer Macht ist naiv. Auch wenn sich jetzt wieder einige im Namen des Kommunismus für Rousseaus Dorfidylle – Volksfest statt Theater der Repräsentation – begeistern, ist der repressive Charakter politischer Unmittelbarkeit offensichtlich. Die Frage ist nicht das Ob, sondern das Wie der Repräsentation.

Deitelhoff: Beides muss sich ja nicht wechselseitig ausschließen. Es ist sicher richtig, dass viele der Regulierungsprobleme, vor denen die Demokratien heute stehen, nicht mehr nationaler, sondern transnationaler Natur sind und daher auch nach supra-, trans- und internationalen Regulierungsansätzen verlangen. Damit verbindet sich aus Legitimitätsgesichtspunkten zweierlei: Einerseits muss die Entmachtung der nationalen Legislativen, die nur noch die Entscheidungen ihrer jeweiligen Exekutiven auf dem internationalen Parkett post-facto abnicken können, rückgängig gemacht werden. Hier steht also die Stärkung der nationalen Demokratie im Fokus. Andererseits müssen den Entscheidungsprozessen auf der trans-, supra- und internationalen Ebene die demokratischen Legitimationsprozesse sozusagen nachwachsen. Ob das in analoger Form allein durch parlamentarische Willensbildungsprozesse erfolgen kann, ist fraglich. Die Probleme fangen bereits beim Europäischen Parlament an. Das Ganze multipliziert sich, wenn wir auf die globale Ebene blicken. Diese Probleme mögen nicht unüberwindlich sein, zumindest legen sie aber nahe, auch nach alternativen Formen der demokratischen Legitimation des Regierens zu suchen.

Gosepath: Je größer die politischen Einheiten werden, zumal in der postnationalen Konstellation, desto schwieriger werden Formen direkter Demokratie. In der Demokratietheorie wird gegenwärtig die Frage nach der Ausdehnung des Demos stark diskutiert. Galt der Demos eines Staates in der nationalen Konstellation noch als territorial, ethnisch oder kulturell vorbestimmt, so muss die Ausdehnung der Mitglieder nun erweitert werden, weil Entscheidungen einzelner Regierungen auch Mitglieder anderer Staaten betreffen. Gemäß dem Prinzip, dass alle von einer Entscheidung Betroffenen diese auch mitbeschlossen haben sollten, müsste bei politischen Entscheidungen zunächst geprüft werden, wer potenziell betroffen sein könnte, um sie dann mitbestimmen zu lassen. Beides – die Ermittlung der von der Entscheidung Betroffenen und das Mitbestimmen-Lassen – stellt die Demokratietheorie bisher noch vor enorme intellektuelle Probleme.

Forst: Es ist die erste Aufgabe, für Fragen wie die Bewältigung der Klima- oder Finanzkrise die geeigneten Institutionen zu finden oder zu schaffen. Dafür fehlt allzu oft der politische Raum, so dass technokratische Lösungen gesucht werden. Je komplexer und umfassender, je globaler die Probleme werden, desto mehr Demokratie und Beteiligung ist jedoch nötig, denn sonst gehen die Stimmen und Interessen der Betroffenen, aber allzu oft Marginalisierten, unter. Es gibt keine Legitimation ohne Demokratie – im globalen Zeitalter ist das die eigentliche Herausforderung.

polar: In wie weit ist die allseits angeführte Globalisierung eigentlich der Grund und nicht nur ein Vorwand, um die Steuerungsfähigkeit nationaler Demokratien in Frage zu stellen? Das skandinavische Sozial- und Wirtschaftsmodell beispielswiese hat doch vorgemacht, dass es auf nationaler Ebene durchaus nach wie vor einen großen eigenen Gestaltungsspielraum gibt. Ist in einigen Bereichen möglicherweise Re-Nationalisierung notwendige Voraussetzung für Re-Demokratisierung? Oder ist dies ein Irrweg, vor dem wir uns hüten sollten?

Forst: Nationale Regierungen haben in der Tat mehr an Entscheidungs- und Regelungsmöglichkeiten, als die Ideologie der eindeutigen Imperative des globalen Marktes, die nun herausgefordert wurde, es erscheinen lassen will. Aber es bleibt so, dass die wahrhaften Herausforderungen globaler Ungleichheit nach einem neuen Denken und neuen Institutionen verlangen. Die Politik der Zukunft muss global sozial gerechtfertigt sein, auch wenn dies die eingewöhnten Erfahrungsräume übersteigt.

Menke: Gerade das jetzt wieder so häufig gepriesene skandinavische Modell zeigt, dass die “Steuerungsfähigkeit nationaler Demokratien” bei Weitem nicht so unschuldig ist, wie es scheint. Hier werden demokratische Macht und Staatsmacht in eins gesetzt – als sei demokratische Macht nichts anderes als eine Benutzung der Staatsmacht zu anderen Zwecken, die sie aber in ihrer Form unverändert lässt. Überhaupt ist verwunderlich, wie gerade die so genannte undogmatische Linke zur Zeit in eine Verehrung des Staates zurückfällt, die alle guten Argumente der Staatskritik seit den siebziger Jahren vergisst.

Deitelhoff: Einerseits wird die Globalisierung gern von Exekutiven genutzt, um Entscheidungen in ihrem Sinne als “Sachzwang” in der Öffentlichkeit und gegenüber ihren Parlamenten zu verkaufen. Andererseits ist aber genauso richtig, dass sich die Problemlagen im Zuge der Globalisierung transnationalisiert haben und diese Transnationalisierung ist letzten Endes unwiderruflich oder zumindest je nach Sachbereich nur unter erheblichen Kosten für unsere Gesellschaften zu kompensieren. Das heißt, zumindest um den Versuch einer Transnationalisierung demokratischer Steuerung kommen wir nicht umhin.

Gosepath: Der klassische Nationalstaat hat ja nur einen Teil seiner Macht verloren, einen anderen wichtigen Teil jedoch behalten: Er ist eher zerfasert, als dass er sich aufgelöst hat. Hierzulande ist die Globalisierung von interessierten Kreisen dazu genutzt worden, das neo-liberale Projekt voranzutreiben und den Staat immer schlanker machen zu wollen. In der gegenwärtigen Finanzkrise zeigt sich nun, dass wir nach wie vor auf starke, auch finanzstarke Staaten angewiesen sind. Gleichwohl zeigt die Krise auch, dass wichtige politische Entscheidungen nur in konzertierten gemeinsamen Aktionen der Staaten beherrscht werden können.

polar: Blicken wir nochmals kurz auf die globale Ebene: Eigentlich war es doch bislang der Anspruch vieler Linker, nicht nur die Universalität von Menschenrechten, sondern auch die Universalität von Demokratie als unmittelbare Ausprägung des Gleichheitsgrundsatzes im Sinne gleicher politischer Freiheit einzufordern. Inzwischen nimmt auf dieser Seite die Betonung der kulturellen Grenzen von Demokratie zu – verbunden mit einem Imperialismusvorwurf an eine Politik der Demokratieförderung und eines entsprechenden Institutionenaufbaus. Davon zu unterscheiden ist ja dann die praktische Frage, ob, wie und um welchen Preis sich bestimmte Ansprüche an Demokratie mit Blick auf die reale Situation verschiedener Gesellschaften fördern lassen. Aber bleiben wir auf der normativen Ebene: Bis zu welchem Punkt ist sinnvoll verstandene Demokratie auf der Ebene des Sollens universalisierbar?

Menke: Auch mir scheint die Haltung der Linken zur Frage der demokratisch-revolutionären Veränderung autoritärer Regime häufig widersprüchlich. Einige “linke” Argumente etwa gegen das neokonservative Projekt des Demokratieexports bestanden in einem bloß umgekehrten Kolonialismus: zynischer Relativismus. Seit dem Zusammenbruch des Internationalismus fehlt ein linkes Konzept der Weltveränderung.

Gosepath: Auch wenn nach meiner theoretischen liberalen Auffassung Menschenrechte und Demokratie in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, das sich nur so auflösen lässt, dass die Garantie der Menschenrechte Vorrang vor der politischen Selbstbestimmung der Bürger und Bürgerinnen eingeräumt bekommt, so bedeutet das gerade nicht, dass Demokratie unwichtiger ist. Im Gegenteil ist das Recht auf politische Mitbestimmung ein wesentliches, unverzichtbares Menschen- und Grundrecht. Deshalb sollte die zunehmende Menschenrechtspolitik auch immer auf die Demokratisierung achten. Die Auseinandersetzung mit einer relativistischen Position, die Menschenrechte und Demokratie als imperiale westliche Zwangsimporte in andere Länder oder Kulturen sieht, betrifft beide, also Menschenrechte und Demokratie, gleichermaßen und verlangt auch die gleichen Antworten in beiden Fällen.

Forst: So berechtigt der Hinweis auf mehr oder weniger versteckte imperiale Politik unter dem Deckmantel der Freiheit und der Demokratie sein kann, so wird doch in ihm selbst wieder ein Anspruch auf politische Autonomie und Mitbestimmung erhoben, der in die Herausbildung fairer transnationaler Verfahren der politischen Rechtfertigung eingearbeitet werden muss. Es geht darum, Wege der reflexiven Demokratisierung auf transnationaler Ebene zu finden, die den Einspruch der Marginalisierten aufzunehmen vermögen. Demokratisierung darf kein Elitenprojekt sein.

Deitelhoff: Die Universalisierbarkeit von Demokratie entlässt uns aber nicht aus der Pflicht zu fragen, was politisch machbar ist und welche Folgen es zeitigen könnte. In den Außenpolitiken des Großteils der Demokratien wie auch internationaler Organisationen lassen sich die Ambivalenzen dieses universalisierten Sollens gut beobachten. Demokratisierung und Demokratieförderung sind elementar auf Zustimmung angewiesen und zwar derjenigen Gesellschaften, in denen sie aufgebaut werden sollen, wenn sie nicht als Oktroy im besten und Imperialismus im schlechtesten Falle empfunden werden sollen. Gerade diese Zustimmung wird aber zusehends vernachlässigt unter dem Vorwand, dass die Demokratie als solche doch gar nicht mit guten Gründen abzulehnen sei. Wie wollen wir Gesellschaften von der Vorzugswürdigkeit des Freiheitsversprechens der Demokratie überzeugen, wenn wir ihnen nicht die Freiheit gewähren, dies auch selbst für sich frei zu entscheiden? Die größte Diskreditierung der Demokratieförderung war aber sicher die gewaltsam gestützte Weltordnungspolitik der Bush-Administration, die ganz offensiv und entgegen der Idee demokratischer Selbstbestimmung regime change durch Krieg herbeizwingen wollte.

polar: Gehen wir nun den Berg vollends hinauf und fragen nochmals ganz allgemein: Warum eigentlich Demokratie? Was ist ihr normativer Status? Ein Fundament, auf dem alles weitere aufbaut – auch Gerechtigkeit, auch Freiheit? Das Element eines Fundaments, das in einem Spannungsverhältnis zu anderen Elementen stehen kann – zu Gerechtigkeit, zu Freiheit? Oder eine abgeleitete Kategorie, die in der realen Welt aus pragmatischen Gründen vorzugswürdig ist, also die berühmte beste aller schlechten Staatsformen?

Forst: Demokratie ist das politische Medium der Gerechtigkeit, und diese besagt im Kern, dass niemand gezwungen werden darf, unter Regeln und Institutionen zu leben, die ihm oder ihr gegenüber nicht angemessen gerechtfertigt werden können. So liegt dem ein basales moralisches Grundrecht zugrunde: das Recht auf Rechtfertigung einer jeden Person, als gleiche und freie “Rechtfertigungsautorität” anerkannt zu werden. Das gilt für den Raum der Gründe und für den sozialen Raum, in dem politische Legitimation erzeugt werden muss. Die Demokratie ist der politische Ausdruck dieses Rechts. Sie trägt den Einspruch derer, die übergangen wurden und werden, als Möglichkeit der Kritik und reflexiver Weiterentwicklung in sich und darf keine reifizierte Form der Herrschaft werden. Eine Theorie der Demokratie muss eine kritische sein.

Gosepath: Eine “liberale” Auffassung, die den Menschenrechten als in der Verfassung zu verankernden Grundrechten einen Vorrang und damit einschränkende Kraft vor der faktischen Selbstgesetzgebung einräumt, muss sich zu der Kritik verhalten, für das Ideal der Demokratie nicht richtig aufkommen zu können. Wie also lässt sich der intrinsische Wert der Demokratie aus der Perspektive der “liberalen” Auffassung eigentlich begründen? Als Lösungsstrategie bietet sich an, aus jener Quelle zu schöpfen, aus der sich Menschenrechte und Demokratie gemeinsam ableiten lassen. Die Ideen der Menschenrechte und der Demokratie müssen sich aus ein und demselben Prinzip der Moral der wechselseitig geschuldeten gleichen Rücksicht und Achtung ableiten lassen. Ich sehe nicht, wie ohne Bezug auf die Prinzipien der Selbstbestimmung und Autonomie ein echtes Verständnis der Grundlagen demokratischer Entscheidungsverfahren möglich werden sollte. Dieser Mangel liegt größtenteils an der unrealistischen Annahme eines friedlichen und vernünftigen Konsenses in der Gesellschaft. Eine egalitäre Demokratietheorie erkennt hingegen das Faktum des Pluralismus an, also die Verschiedenartigkeit von Konzeptionen des Guten und daraus hervorgehender tiefgreifender Interessenskonflikte. Wegen dieses Mangels an Übereinstimmung und Konsens verlangen egalitäre Theorien, dass jeder Person ein gleicher Anteil an der politischen Herrschaft zusteht. Demokratie ist das Verfahren, bei dem die Mittel, mit denen man an den Entscheidungen über soziale Güter partizipieren kann, gleich verteilt sind. Stimmen, öffentliche finanzielle Unterstützung des Wahlkampfes, freier Zugang zu Informationen sind wichtige Beispiele für die Ressourcen, die es im politischen Bereich gleich zu verteilen gilt. Das Ziel kann es allerdings nicht sein, Macht als solche gleich zu verteilen. Gleiche Machtverteilung ist, wenn überhaupt, ein Mittel zu dem Ziel, Interessen gleich zu berücksichtigen. “Politische Gleichheit” muss vielmehr als gleiche Verfügbarkeit politischen Einflusses konzipiert werden.

Menke: Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Sie ist deshalb die richtige politische Verfassung, weil nur in ihr zur Anerkennung kommt, was für alle politische Verfassung gilt: dass sie von uns gemacht sind. Diese Marxsche Einsicht besagt, dass die Demokratie nicht von irgendeiner anderen Norm abgeleitet und schon gar nicht allein funktional begründet werden kann, sondern aus dem richtigen Verständnis von Normativität selbst folgt. Für uns kann nichts als gut gelten, was wir nicht selbst aus guten Gründen einzusehen vermögen.

Das Interview führte Peter Siller.

Published 3 November 2009
Original in German
First published by Polar 7 (2009)

Contributed by Polar © Peter Siller, Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Stefan Gosepath, Christoph Menke / Polar / Eurozine

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