Was heißt enthüllt?

Bei den Anschuldigungen gegen Milan Kundera sollte man auf die Einzelheiten schauen

Wer die ersten Nachrichten darüber las, dass der tschechische Schriftsteller Milan Kundera im Frühjahr 1950 den Westagenten Miroslav Dvorácek bei der Polizei angezeigt haben soll, für den standen zwei Sachen von vornherein fest: Erstens würde dieses Ereignis in den Medien nach dem Strickmuster der Stasi-Enthüllung ausgewertet werden. Zweitens würden sich die Kommentatoren in irgendeiner Form Kunderas Buchtitel Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins zunutze machen.

In der Tat tauchten bald Schlagzeilen wie “Die Unerträgliche Leichtigkeit des Verrats” oder “Das unerträgliche Sein” auf, Kundera wurde als “Stasispitzel”, “Zuträger” oder “Agent der Geheimpolizei” bezeichnet. Das Opfer hingegen erhielt Epitheta wie “Regimegegner”, “antikommunistischer Aktivist”, “geflohener Soldat” und sogar: “ein Jugendlicher”. Dabei ist klar, dass das vom Prager “Institut für das Studium totalitärer Regime” gefundene Dokument einen für die Tätigkeit von Informanten völlig untypischen Tathergang schildert.

Dementsprechend erschien der damals 21-jährige Student Milan Kundera bei einer gewöhnlichen Prager Polizeistelle, um mitzuteilen: In dem Studentenheim Soundso habe der nach Westdeutschland geflüchtete und illegal nach Prag zurückgekommene 20-jährige Pilot Miroslav Dvorácek seinen Koffer zurückgelassen und würde diesen noch am selben Tag abholen. Über den Vorfall wussten außer ihm noch Dvoráceks ehemalige Freundin Iva Militká Bescheid, sowie deren neuer Freund Miroslav Dlask, ebenfalls ein Kommilitone auf der Prager Karls-Universität.

Obwohl das im Polizeirevier aufgenommene Protokoll den Schönheitsfehler aufweist, nur die Personenangaben, aber keine Unterschrift von Kundera zu tragen, ist es möglich, dass ein derartiges Dokument unter den angegebenen Umständen tatsächlich entstanden war. Jedenfalls wurde Dvorácek, der bereits auf der Fahndungsliste stand, noch am selben Abend im Studentenheim verhaftet und vor Gericht gestellt. Nachdem man ihn zunächst zum Tode verurteilt hatte, wurde er später zu zweiundzwanzig Jahren Freiheitsentzug “begnadigt”, von denen er vierzehn teilweise in einem der berüchtigten Uranbergwerke verbringen musste. Er war bis zuletzt davon überzeugt, dass ihn Militká verraten hatte.

Die Frau machte sich auch jahrzehntelang Vorwürfe, dass sie ihrem Freund und späterem Mann Dlask von dem Ankömmling erzählte und diesen dadurch ungewollt den Behörden ausgeliefert hatte. Dlask wiederum konnte den Besucher des Studentenheims als seinen Nebenbuhler betrachten, der zudem noch sie beide in Gefahr bringen konnte. Dlask habe dann angeblich Kundera um Hilfe gebeten.

Dvorácek lebt heute in Stockholm und will sich zu der Enthüllungsaffäre direkt nicht äußern. Kundera seinerseits gibt an, über die Vorkommnisse nichts gewusst zu haben und betrachtet die Veröffentlichung des Prager Instituts als “Mordversuch”. So erfahren wir einiges über das “Was”, aber nicht genug über das “Wie” und “Warum” in dieser tragischen Geschichte.

Das Jahr 1950 stand in der Tschechoslowakei ganz im Zeichen der erst beginnenden Welle des Großen Terrors. In die Atmosphäre der ursprünglichen Begeisterung für den Sozialismus, der bereits in der Vorkriegsdemokratie weit verbreitet war, schlich sich allmählich die Angst vor dem System ein. Sie schlug nach und nach in den Köpfen und Seelen der Gründergeneration Wurzeln und begründete ein paranoides Verhältnis zu der eigenen Partei. Die meisten kommunistischen Angeklagten der Schauprozesse, von dem slowakischen Kommunisten Vladimir “Vlado” Clementis bis zu seinem Kollegen Rudolf Slánsky wurden des Landesverrats und der geheimdienstlichen Tätigkeit bezichtigt und dafür hingerichtet. Fast alle von ihnen gerieten unter die Räder der Maschinerie, die sie selbst mit aufgebaut haben.

Die Zwanzigjährigen von damals ahnten von diesem Zusammenhang so gut wie nichts und mussten nicht einmal fanatisch sein, um jemanden, den sie als “Klassenfeind” zu erkennen meinten, zu denunzieren. Erschien in ihrem Kreis nun jemand, der offen zugab, von “drüben”, also von hinter dem Eisernen Vorhang, gekommen zu sein, dann war in ihren Augen unterlassenes Handeln gleichbedeutend mit Mittäterschaft. Nicht zuletzt konnten sie aber auch davon ausgehen, dass der plötzlich aufgetauchte, rätselhafte Bekannte ein agent provocateur der Geheimpolizei war. Die Absurdität ihrer Situation ist ihnen erst Jahre später bewusst geworden: Kundera selbst widmete dem Schicksal dieser unschuldigen Schuldigen seinen wahrscheinlich besten Roman, Der Scherz: Hier geht es genau um Verrat, Liebe und zerstörte Beziehungen – Grundmotive seiner späteren Werke.

Was den damals im Studentenheim verhafteten Miroslav betrifft, gibt es keinen Grund, aus ihm nachträglich einen Helden zu machen. Spionage gegen einen Staat der Unfreiheit wird nicht automatisch zum Freiheitskrieg, ebenso wie auch die “Aufklärung” eines Ostagenten in einem demokratischen Land keine Friedensmission war. Allerdings konnte der junge Pilot durchaus edle Motive gehabt haben, und sein Mut als Kurier des amerikanischen Geheimdienstes, ausgerechnet in jenem Frühjahr die Verhältnisse in der Heimat auszukundschaften, verdient sogar einige Bewunderung.

Es besteht jedoch die Befürchtung, dass er in seinem antikommunistischen Eifer ebenso ahnungslos handelte, wie seine Generationsgefährten von der gegnerischen Seite und dass sein Idealismus von den Auftraggebern in ähnlicher Weise missbraucht worden war. Einem offenkundig naiven und dilettantisch vorbereiteten jungen Mann einen derartigen Auftrag anzuvertrauen, bedeutete damals mit beinah hundertprozentiger Sicherheit, ihn in Todesgefahr zu bringen. Die drakonische Strafe und die barbarischen Verhältnisse an den Bestrafungsorten gehen selbstverständlich auf die Rechnung des Systems, das in diesen Jahren Hunderttausende – unter ihnen auch völlig Schuldlose – auf dem Altar seines ideologischen Wahns geopfert hatte.

Auf der einen Seite lässt sich der Fall Kundera mit der Agententätigkeit von Schreibkundigen und Künstlern kaum vergleichen. Dennoch schafft die Art und Weise der Veröffentlichung eine Gemeinsamkeit mit den seit 1990 nach und nach entlarvten intellektuellen Täter-Opfern der diversen sozialistischen Sicherheitsinstitute: STB, MfS, Securitate, Hauptverwaltung III./III. oder Derschawna Sigurnost. Aus der Liste dieser Menschen könnten wir unschwer eine crème de la crème der Intelligenzija zusammenstellen, wobei es äußerst wichtig ist, die Fälle auseinander zu halten und im Einzelnen zu prüfen.

Es handelt sich nämlich um eine aussterbende Generation, die nach den schwierigen Lehrjahren der KP-Herrschaft versucht hatte, sich vom Fluch der eigenen Vergangenheit frei zu machen. Das besonders Traurige an dem Werdegang vieler dieser Protagonisten war die Tatsache, dass sie ihr menschliches und moralisches Versagen immer wieder gutmachen wollten, ohne es zugeben zu können. Offensichtlich fiel es ihnen leichter, ehrlich zu handeln als aufrichtig zu sprechen.

Manches an den Vorfällen bedarf noch der weiteren Klärung: Nur die Prozessakten und die “Maßnahmenpläne” der Ermittlung könnten darüber Aufschluss geben, inwieweit die schlampig ausgestellte Anzeige im Polizeirevier eine tatsächliche Rolle im Verfahren spielte, ob zum Beispiel die drei jungen Menschen überhaupt als Zeugen vor den Richtertisch geladen waren und wenn ja, welche Aussagen sie dort gemacht hatten. Es wäre auch von einigem Interesse, die Namen der Verhöroffiziere, Staatsanwälte und Richter ausfindig zu machen – Fragen, die die Enthüllungspublizisten auffällig kalt lassen. Es kann aber auch so kommen, dass die Suche der entsprechenden Unterlagen selbst bei ernsthaften Recherchen entweder erfolglos endet oder aber einige Zeit in Anspruch nehmen wird.

Bis dahin sollte man auf einen vertrauen, der in den schwierigen Jahren damals auf das Prinzip setzte, “in der Wahrheit zu leben” und für diese Haltung schwere Opfer auf sich nahm: Václav Havel mahnte die jungen Historiker in der Beurteilung der Jugendsünden der kommunistischen Generation, der er selbst nie angehört hatte, Vorsicht walten zu lassen. Er sieht den Autor des Scherz plötzlich in die kunderaeske Welt seiner eigenen Romane hineingezwungen. Gleichzeitig ermuntert er seinen Schriftstellerkollegen, mit dem ihn eher Streit als Freundschaft verbunden hatte, in bewegenden Worten: “Milan, erheben Sie sich darüber! Es gibt im Leben viel Schlimmeres, als von der Presse diffamiert zu werden.”

Published 24 October 2008
Original in English
First published by Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung 43/23.10.2008 (German version)

© György Dalos / Freitag / Eurozine

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