Von der Anti-Springer-Kampagne zum Facebook Boykott?

Die Abenteuer der europäischen Öffentlichkeit von analogen zu digitalen Zeiten

Geschichte

Die Jugendrevolte um 1968 war ein erstes großes transnationales Medienereignis – die Rebellen wussten und kalkulierten ein, dass „the whole world was watching“ (Todd Gitlin, Sprecher des amerikanischen SDS) und aus dieser medialen Aufmerksamkeit politisches Kapital zu schlagen war. Die Bewegung wirkte weit stärker als sie zahlenmäßig war, liberale Blätter der „bürgerlichen Presse“ standen ihr sympathisch gegenüber. Verleger und Herausgeber wie Rudolf Augstein, Henri Nannen und Gerd Bucerius traten als großzügige Spender auf. Das galt selbstredend nicht für rechtsgerichtete Medien und namentlich die Boulevardpresse. In Deutschland positionierte sich die BILD-Zeitung in Millionenauflage gegen die außerparlamentarische Opposition, deren Protagonisten, allen voran Rudi Dutschke, regelrecht niedergeschrieben und deren Mitglieder pauschal als „Gammler“ und „Krawallmacher“ denunziert wurden.

“Reden wir davon, welche Verbrechen an der Gesellschaft die Springer-Presse begeht, und warum Springer, den wir ja nicht eigentlich aufhängen, noch nicht einmal ins Gefängnis stecken, den wir ja nur in irgendeinem produktiven Beruf, beispielsweise als Herrenschneider, beschäftigt sehen möchten, warum Springer enteignet werden muss”, agitierte Peter Schneider, Sekretär einer gegen den Verleger der BILD (und Welt), Axel Springer, gerichteten Kampagne auf dem “Springer-Tribunal” am 1. Februar 1968 in der Freien Universität Berlin. SPIEGEL-Herausgeber Augstein witterte seine Chance und hatte schon in einem Kommentar am 25. September 1967 eine gesetzliche Regelung verlangt, wonach kein Verlag oder Verleger mehr als zwanzig Prozent aller Tages- oder Wochen-Zeitungen besitzen dürfe, auf dem Titel des Magazins wurde das vermeintliche, wohl nur in Berlin bestehende Pressemonopol des Springer-Hauses als “Gefahr für Deutschlands Zeitungen” angeklagt.

Unter dem Slogan „Enteignet Springer!“ führte der deutsche SDS seit Mai 1967 eine Kampagne, die nach der Ermordung von Benno Ohnesorg während einer Demonstration gegen den Schah von Persien und erneut nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968 an Fahrt gewann. Es kam zur Besetzung des Verlagshauses in Berlin und militanten Demonstrationen an anderen Druckhäusern unter Parolen wie „Haut dem Springer auf die Finger!“ und „BILD hat mitgeschossen“. Der damals noch in Ost-Berlin lebende Liedermacher Wolf Biermann schrieb in dem Song „Drei Kugeln auf Rudi“: „Die Kugel Nummer Eins / kam aus Springers Zeitungswald / Ihr habt dem Mann die Groschen / Auch noch dafür bezahlt / Ach Deutschland, deine Mörder!“ 14 Intellektuelle, darunter Theodor W. Adorno, sprachen in einer Erklärung von „systematischer Hetze“ und der „gezielten Diffamierung einer Minderheit“ durch den Springerkonzern.

Die Kampagne zur Enteignung des Springer-Konzerns wandelte und weitete sich in praktische Initiativen zur Demokratisierung der Presse, deren Resultate alternative Print-Medien von hektographierten Stadtzeitungen bis zur 1978 gegründeten tageszeitung waren und die die Medienlandschaft auch in anderen europäischen Ländern und den USA stark verändert haben. Den Springer-Boykott halten übrigens einige Autoren heute noch aufrecht.

Gegenwart

Die historische Kampagne zeigt exemplarisch, wie eine soziale Bewegung seinerzeit Kritik an den Produktionsmitteln der öffentlichen Meinung übte und im Verlauf der 1970er/1980er Jahre eigene zur Begründung einer Gegenöffentlichkeit schuf. Dazu zählt nicht zuletzt die Zeitschrift Transit, die im früheren SDS-Verlag Neue Kritik erschien und unter anderem eine unabhängige Analyse der Verhältnisse in Ostmitteleuropa anstieß, aber auch an der Entstehung von Eurozine beteiligt war und so in die Online-Welt vorstieß.

Zu fragen ist heute, ob sich eine zum Teil antikapitalistische Bewegung noch medienkritisch aufstellt, nicht nur im Blick auf das allgemeine Manipulationspotenzial der Massenmedien, sondern auch im Blick auf die Eigentumsverhältnisse großer Medienunternehmen, die heute immer noch Springer heißen, im Bereich der sog. social media aber vor allem Facebook, Google und Co. Hervorgegangen aus der techno-libertären Utopie einer staatsfreien Kommunikation aller mit allen in einem „Marktplatz der Ideen“, bilden sie heute nicht nur einen globalen Markt- und Spielplatz, sie sind auch aktiv involviert in politische Überwachung und Manipulation und nach Ansicht besorgter Beobachter zu einem medien-industriellen Komplex von totalitärer Qualität geworden. Ihre Kontrollmacht zu übersehen, wäre fahrlässig und fatal, doch die Spielfreude der Bürger, die als „Nutzer“ und Kunden auftreten, ebenso wie der Anti-Etatismus der Linken vermeiden die Machtfrage.

Eine Enteignungsforderung in Richtung Zuckerberg und Co. ist mir jedenfalls nicht zu Ohren gekommen, weil die neuen Mediengiganten von der „Szene“ wie von der Börse bewundert und geradezu vergöttert werden. Eine Online-„Alternativpresse“, die weiter unbesorgt deren Produktions- und Distributionsmittel nutzt, ist aber keine; und die „sozialen Medien“ an sich zu politischer Potenz zu erheben, wäre ein Kategorienfehler, weil sie am Ende soziale Bewegungen durch einen harmlosen „Clicktivism“ ersetzen würden. Experimente politischer Beteiligung und sozialen Widerstands müssen sich aus der Facebook-Welt befreien.

Zukunft

Dazu braucht es zum einen den Widerstand von unten seitens der als „User“ ausgeforschten Nutzer sozialer Dienstleitungen und digitaler Dienste, zum anderen einer politisch-rechtlichen Regulierung durch die Europäische Union, zum Beispiel gegen aufdringliches Tracking im e-Privacy-Verordnung der EU, die derzeit von Österreich und Deutschland behindert wird. Europäische Akteure können eine europäisches Youtube-Analog starten und transparente Streaming-Plattformen kreieren. Wie 1968 bei Springer insinuiert, liegen in den US-Konzernen kommerzielle und politische Manipulation eng beieinander. Das politische Europa muss mittelfristig seine Abhängigkeit von globalen US-Software-Monopolen im Silicon Valley verringern und die öffentlich-rechtliche Medienlandschaft – ein Geschenk des Westens nach 1945 – rekultivieren. Weit mehr als vor 50 Jahren ist die journalistische Vielfalt bedroht, Pressefreiheit selbst in klassischen Demokratien unter Druck. Wahlen werden manipuliert, in den Netzwerken werden gezielt Paranoia und Ressentiments geschürt und Desinformation betrieben. Dafür, wie man eine Kampagne für Medienfreiheit führt, ist ‘1968‘ keine Kopiervorlage, aber ein lehrreiches Beispiel.

Published 31 October 2018
Original in German
First published by Eurozine

© Claus Leggewie / Eurozine

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