Resist! Widerstand ist keine historische Reminiszenz

Rechtsgerichtete Kreise scheuen wohl vor keiner Geschichtsklitterung zurück: “Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ‘regieren’ zu lassen”, war vor Monaten auf einer Facebook-Werbung der Alternative für Deutschland zu lesen, die in dem Satz gipfelte „Sophie Scholl würde AfD wählen”. Die Widerstandskämpferin der Weißen Rose derart zu missbrauchen, war auch einigen AfD-Mitgliedern zu viel, doch der dreiste Propagandacoup deutet auf eine weit verbreitete Pervertierung des Widerstandsgedankens durch die Neue Rechte hin. Die Akteure des 20. Juli und Stauffenbergs angeblich letzte Worte am Ort seiner Exekution „Es lebe das heilige Deutschland!“ werden seit Jahrzehnten von Rechtsaußen vereinnahmt; die Hinwendung Hans Hirzels, eines Überlebenden der Weißen Rose, zu den „Republikanern“ wurde in den 1990er Jahren als konsequente Fortsetzung des deutschen Widerstands gewertet.

Heute beruft sich die identitäre Rechte bei ihren Attacken auf die Flüchtlingspolitik allen Ernstes auf Artikel 20, Absatz 4 des Grundgesetzes, der 1968 im Rahmen der Notstands-gesetzgebung das Widerstandsrecht festgeschrieben hat: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Der auf Pegida-Märschen und Demonstrationen vor Flüchtlingsunterkünften geborene Dauerslogan „Merkel muss weg“ wird in diesem Sinne ausgebracht. Und er hat längst die angebliche Mitte der Gesellschaft erreicht, die sich als neue APO geriert. Wie die Hundertfünfzigtausend, die in übererregter Sorge die von Henryk M. Broder, Uwe Tellkamp, Thilo Sarrazin, Matthias Matussek, Vera Lengsfeld und anderen angestoßene, viral im Netz verbreitete „Erklärung 2018“ unterzeichnet haben und an ihren Berufsbezeichnungen zu erkennen geben, dass der populistische Aufstand nicht von ganz unten kommt, sondern helle Panik im Mittelstand anzeigt.

Da ist es keine akademische Übung, nicht nur Anlässe und Werte des europäischen Widerstands gegen den Faschismus (und im Übrigen den Stalinismus) richtigzustellen, sondern auch über die Widerstandsfähigkeit freiheitlicher Demokratien nachzudenken. Jenseits von Alarmismus und Appeasement muss sich eine Urteilskraft bilden, die präziser verortet, wo wir gerade stehen: Vor dem baldigen Abflauen eines populistischen Erregungszyklus, der indirekt womöglich sogar sein Gutes gehabt haben könnte? Oder auf dem Sprung in die Orbanisierung Europas, unter der Konservative einknicken und Liberale resignieren? Oder gar auf der schiefen Ebene in Diktaturen vom Schlage eines Erdogan, der die türkische Republik, aber auch uns in Geiselhaft zu nehmen droht? Wer Oppositionelle in diesen Ländern besucht, erlebt, dass sie längst im Widerstandsmodus sind.

Es ist Zeit, sich auch hierzulande mental wie politisch auf alle Eventualitäten einzustellen. Widerstand braucht Zeit, Geld und Inspiration. Parteien, Gewerkschaften und Nichtregierungs-Organisationen, Stiftungen und Bürgerinitiativen brauchen Mitglieder und Ressourcen, um die offenbar gewordenen Schwachstellen demokratischer Kultur auszubessern. Und die Politische Bildung muss nicht nur die Jungen ansprechen, denen man Geschichten vom historischen Widerstand erzählt. Es ist vor allem an der Generation der Baby-Boomer, ihre alles in allem sorglose Existenz der letzten Jahrzehnte zu vergelten und die politisch-kulturelle Infrastruktur der europäischen Republiken sturmfester zu machen. Heraus aus der Komfortzone!

Widerstand ist ein großes Pathos-Wort, das an die Resistance gegen die Nazis und ihre Kollaborateure erinnert und dessen antifaschistisches Tremolo unangemessen wirkt. In der amerikanischen Bürgergesellschaft klingt Resistance nicht so pompös, unter diesem Slogan organisieren die Demokraten ihre Bemühungen, im Herbst eine Mehrheit im Kongress zu gewinnen und eine zweite Amtsperiode Donald Trumps zu verhindern, an dessen Gefährlichkeit kein Zweifel mehr bestehen sollte.

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Die Parkland Kids aus Florida haben den Unterschied gemacht. Sie widerstanden der Unverschämtheit der Waffenlobby und dem Zynismus der Konservativen, sie waren realistisch und forderten das Selbstverständliche: Den Schulalltag in Florida und im Rest des Landes ohne kugelsichere Westen überleben zu dürfen. Vor ihnen hatten schon afro-amerikanische und weibliche Aktivistinnen aus dem Modus der Verblüffung und fruchtlosen Empörung auf Widerstand umgeschaltet. Unter dem Slogan „Resistance!“ wollen sie politischen Raum gewinnen gegen einen Autokraten, der die Gewaltenteilung mit ihren freiheitverbürgenden Institutionen beschädigt hat: Gerichte, Medien, Wissenschaft. Ob daraus eine neue Revolte wird, ist offen. Kids haben eigentlich andere Vorlieben, ihre Gegner wirken übermächtig. Aber sie haben keinen Zweifel daran gelassen, dass man jetzt handeln muss. Am Beispiel Polen und Ungarn, von Russland und der Türkei zu schweigen, kann man lernen, wie der Ausnahmezustand zur Normalität wird und wie schwer Gegenwehr zu organisieren ist.

Der Widerstand gegen die großen und kleinen Diktatoren des 20. Jahrhunderts reichte von der inneren Abwendung und alltäglichen „Resistenz“ (Martin Broszat) über den zivilen Ungehorsam bis zur ultima ratio, dem Tyrannenmord. Hier die mutigen, kläglich gescheiterten Versuche des Ehepaares Elise und Otto Hampel, die Hans Fallada in seinem großen Roman „Jeder stirbt für sich allein“ schildert, dort das heroische Scheitern eines Georg Elser, der Hitler im Bürgerbräukeller nur um ein paar Minuten verfehlte. Über dieses Extrem müssen wir zum Glück nicht nachdenken, aber solche Lebensgeschichten lehren die Nachgeborenen, wie man Rückgrat zeigt und auf kluge, Kräfte schonende Weise Mut an dem Tag legt.

Das Bezugssystem heutigen Widerstands ist nicht die vollendete Diktatur eines Adolf Hitler. Victor Orbán ist ein anderes Kaliber, aber genau an seinen Taten und Worten ist zu ergründen, wie weit die autoritäre Welle freiheitliche Werte und Institutionen schon unterspült hat. In welcher Lage Europa heute ist, lässt sich nur aus der Betrachtung des Widerstands vor 1933 ableiten. Wenn gerade „Stadt ohne Juden“, der österreichische Stummfilm von 1924 nach dem zwei Jahre zuvor erschienenen gleichnamigen Roman von Hugo Bettauer wiederentdeckt wird, ist das gewiss keine Blaupause für heute, aber auch mehr als ein filmhistorisches Ereignis. 1969 legte der Historiker Philipp W. Fabry ein Buch vor, das die Historikerzunft weitgehend ignorierte: eine konzentrierte Auswahl von Meinungen und Eindrücken über Hitler vor der Machtübergabe, als die Gedanken noch frei waren und noch kein Gestapoterror und Denunziantentum, noch keine Existenzangst und Anpassung herrschten. Als man noch mutig sein konnte, ohne gleich sein Leben aufs Spiel zu setzen.

Um Widerstand zu lernen, muss man nicht nur ans Dritte Reich (oder an die DDR) zurückdenken. Wie man eine Diktatur los wird, lehrte zum Beispiel Süd-Korea, wie man einen Krieg beendet, die weltweite Vietnam-Opposition, wie man (sehr spät) einen Despoten überwindet, die von Otpor in Serbien angeführte Opposition gegen Slobodan Milosevic. Und das europäische Vorbild bleiben die Charta 77 und die Solidarnosc-Gewerkschaft. Der amerikanische Aktivist Gene Sharp hat im Detail gezeigt, wie civil disobedience funktioniert. Das erstreckt sich von alltäglicher „Nichtzusammenarbeit“ bis zu organisierter Subversion und bedient sich grundsätzlich gewaltfreier Methoden. Er bekräftigt die uralte Erkenntnis, dass angemaßte Macht rasant zerfällt, wenn Untertanen den Gehorsam verweigern. „Jemand, der weiß, dass er widersprechen kann, weiß auch, dass er gewissermaßen zustimmt, wenn er nicht widerspricht“, schrieb Hannah Arendt 1970.

Darf man aber Widerstand überhaupt in Betracht ziehen, wenn die Orbans, Trumps und Erdogans die Hälfte und mehr der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen können und so auf ihre demokratische Legitimität pochen können? Die Antwort lautet ja, wenn sie das als Plebiszite und zum Anlass nehmen, die Axt an Stützpfeiler der Demokratie zu legen, Minderheiten zu denunzieren und fundamentale Bürger- und Menschenrechte auszuhöhlen. Dann ist friedlicher Widerstand nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht. Und es stimmt den Abräumern faktisch zu, wer ihnen nicht widerspricht.

Die „Washington Post“, eine ganz auf Resistance getrimmte Hauptstadtzeitung, fragte kürzlich, ob die Parkland-Kinder den Rest der Gesellschaft lehren, erwachsener zu denken und zu handeln. Ziel eines im besten Sinne bürgerlichen Widerstands wäre auch, der thematischen Fixierung auf „Flüchtlinge“ und „Islam“ zu entrinnen, indem wieder Ideen einer anderen, besseren Welt in Umlauf gebracht werden. Die Rechte mästet sich an der sozialen Ungleichheit, die ein ungebremster Finanzkapitalismus weltweit hinterlässt, und an der Völkerwanderung, die nicht zuletzt durch die kolossale Naturzerstörung im globalen Süden provoziert wurde. Das Ziel von Widerstand ist es also, mit besseren Ideen und praktikablen Plänen in die Offensive zu kommen und auch den Bürgerinnen und Bürgern, die mit Rechten liebäugeln, eine demokratische und europäische Alternative zu eröffnen.

Published 27 September 2018
Original in German
First published by Eurozine

© Claus Leggewie / Eurozine

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