Die ästhetische Kritik des Urteils

Was unterscheidet das ästhetische vom politischen Urteil? Kann ein ästhetisches Urteil allgemeine Gültigkeit beanspruchen? Und kann es “ästhetische Gemeinschaften” geben? Der deutsche Philosoph Christoph Menke nimmt den Weg über die griechische Tragödie, um zu einer eigenen Lesart moderner Literatur zu gelangen.

I.

Vor dem modernen “ästhetischen Regime” der Kunst (Jacques Rancière) gab es auch keine ‘Kritik’ der Kunst1. So wie ‘Ästhetik’ die Theorie der Kunst ist, die ihrem modernen Regime entspricht, so ist Kritik der Kunst – ‘Kritik’ der Kunst also in einem spezifischen und daher allein interessanten Sinn des Wortes – ‘ästhetische’ Kritik. Das ist keine terminologische Frage. Es hat vielmehr unmittelbar Konsequenzen dafür, wie der Begriff der ästhetischen Kritik bestimmt wird. Versteht man unter ästhetischer Kritik jede Aktivität der Beschreibung und Begründung, die zu einem Urteil über das Schöne oder Hässliche, das Erhabene oder Banale eines Stücks Natur oder aber das Gelungene oder Gescheiterte, das Vollkommene oder Verfehlte eines Stücks Kunst führt – versteht man also die ästhetische Kritik von ihrem Ergebnis, der Beurteilung her, dann hat darin weder der Begriff der Kritik noch der des Ästhetischen eine besondere historische und strukturelle Bestimmung. Dann gibt es tatsächlich, wie es in den Curricula der angelsächsischen Colleges steht, eine Geschichte des literary criticism von der Antike bis zum Poststrukturalismus. Denn über die Künste geurteilt wurde immer. Aber nicht das Urteil ist das Entscheidende an der ästhetischen Kritik, sondern ihr neues Verständnis ebenso des Grundes wie des Prozesses des Urteilens; also nicht dass auch in der ästhetischen Kritik geurteilt wird, sondern wie das hier geschieht.

Die ästhetische Kritik urteilt so, dass durch das Wie ihres Urteilens das Dass ihres Urteilens in Frage gestellt ist. Deshalb kann die ästhetische Kritik nicht von ihrem vermeintlichen Resultat, dem Urteil, her bestimmt werden: Das ästhetische Urteil kann deshalb nicht als das Telos der ästhetischen Kritik verstanden werden, von dem her ihr Begriff bestimmt werden kann, weil die entscheidende Einsicht der ästhetischen Kritik eben darin besteht, dass zwischen dem Grund des Urteils und dem Akt des Urteils, und deshalb auch zwischen dem Prozess des Urteilens und dem Akt des Urteils, eine unüberbrückbare Kluft gähnt. Die ästhetische Kritik ist nicht eine neue Weise des Urteilens, die ästhetische Kritik ist vielmehr das Medium einer Selbstkritik des Urteilens: ebenso die Theorie wie die Praxis einer selbstreflexiven Infragestellung des Urteilens. Die “ästhetische Kritik des Urteils” ist einer dieser doppelt lesbaren Genitive: Die ästhetische Kritik des Urteils ist erstens – genitivus subjectivus – eine Weise, eine besondere Praxis des Urteilens. Und die ästhetische Kritik des Urteils ist zweitens – genitivus objectivus – eine Kritik am Urteilen. Sie ist diejenige Praxis des Urteilens, die zugleich eine Kritik am Urteilen ist.

Die ästhetische Neubestimmung des Urteilens so zu verstehen, bedeutet, sich von dem Bild frei zu machen, das sich die “deutsche Ideologie” vom Diskurs der Moderne, und darin als einem zentralen Feld der modernen Ästhetik, gemacht hat. Dieses Bild, wirkmächtig entwickelt bei Schmitt und Heidegger, hält bis heute wesentliche, vor allem: die diskursanalytischen Fraktionen der Kulturwissenschaft gefangen. Demnach soll es den Modernen darum gegangen sein, an die Stelle des guten alten Grundes fürs Urteilen – den Dingen und ihren objektiven Eigenschaften – mit dem Subjekt einen neuen schlechten Grund gesetzt haben; das heißt, dass das Urteilen durch die Modernen ‘subjektiviert’ wurde. Bereits Hans Blumenberg hat in seiner Kritik, die er an der Schmittschen Säkularisierungsthese im Namen der “Legitimität der Neuzeit” geübt hat, gegen dieses schlichte Verständnis darauf hingewiesen, dass mit dem modernen Verständnis der Kritik in Wahrheit nicht eine bloße Umbesetzung derselben Stelle stattfindet, sondern vielmehr die Stelle selbst neu gefasst wird: Modernität heißt nicht, die Stelle des alten Grundes anders zu besetzen, sondern die Stellenbeschreibung zu ändern. Das gilt auch für die Ästhetik und ihre Neubestimmung des Urteils – als ästhetische Kritik. Wenn etwa Dubos (auf dessen Anregungen David Humes Überlegungen zum “standard of taste” vor allem zurückgehen) die ästhetische “appréhension” als “impression sudaine” oder “sentiment subit” bestimmt, die “devance tout examen” und “avant aucune discussion” zu erkennen und zu beurteilen vermag, wie es um einen Gegenstand bestellt ist2, dann richtet sich diese Beschreibung des ästhetischen Urteilens gegen den Methodenbegriff, den die rationalistische Philosophie der Praxis der neuzeitlichen Wissenschaften ablesen zu können glaubte. Dabei soll eine Methode auf allgemeine Weise eine Schrittfolge festlegen, deren Einhaltung die Gültigkeit des erreichten Urteils zu gewährleisten vermag. Wenn Dubos dem das plötzlich eintretende Empfinden gegenüber stellt, dann ist das gerade nicht so zu verstehen, dass damit nun ein neuer oder anderer Grund gelegt wäre, der anstelle (an der Stelle) des Methodenbegriffs dieselbe Gewissheit des Urteils verbürgen sollte. Wenn man Dubos’ Zug als grundlegend für die ästhetische Kritik versteht, dann ist sie nicht eine andere Weise, Descartes’ Reformprojekt voranzutreiben, “auf einem Boden zu bauen, der ganz mir gehört”. Die Urteilstheorie, die dem Konzept der ästhetischen Kritik eingeschrieben ist, stellt vielmehr in Frage, dass ich selbst mir ein solcher Boden sein, und damit, dass es einen solchen Boden, einen sicheren Grund im Urteilen überhaupt geben kann.

Das ist nicht so zu verstehen, dass der ästhetischen Kritik eine Theorie des Urteilsskeptizismus zugrunde läge und sie damit auf eine Praxis der Urteilsenthaltung festgelegt wäre. (Auch wenn dies, sich des Urteils enthalten zu können, von Nietzsche zu Recht als eine wesentliche Tugend des Kritikers beschrieben worden ist. Durch sie vermag er sich gegen eine auf Empfindungserregung kalkulierte Kunst – Euripides und Wagner sind Nietzsches prominente Beispiele – zu immunisieren, zu anästhetisieren.) Es bedeutet vielmehr, dass die ästhetische Kritik das Urteilen so versteht und so betreibt, dass es durch eine unauflösbare Spannung bestimmt ist: zwischen der plötzlichen Empfindung und der Herleitung aus Gründen, zwischen dem Zeigen der einen, alles entscheidenden Stelle und dem Entfalten endlos sich verwickelnder Zusammenhänge, zwischen der Evidenz des “So ist es” (Alexander García Düttmann) und der Reflexion auf ihre Voraussetzungen und Folgen. ‘Ästhetisch’ zu urteilen heißt, diese Spannung zu entfalten, nicht aufzulösen; jedes Urteil also als ebenso dringend wie vorschnell zu verstehen. Daher ist auch die ästhetische Gemeinschaft nicht eine Übereinstimmung im Urteil. Ästhetischen ‘Gemeinsinn’ zu haben, heißt nicht, zu demselben Urteil zu gelangen wie alle anderen. Anders als im Moralischen ist im Ästhetischen dasselbe wie die anderen gut oder schlecht zu finden keine Tugend. Ästhetische Gemeinschaft meint eine Übereinstimmung im Vollzug und damit in der Haltung des Urteilens: in einer Haltung nicht der Gewissheit, sondern der Gebrochenheit.

II.

Als Theorie und Praxis einer selbstreflexiven Infragestellung des Urteilens kommt die ästhetische Kritik spät: Sie kommt nach der Kunst, die immer schon (oder doch: immer schon auch) eine selbstreflexive Infragestellung des Urteilens unternommen hat. So kann man etwa König Ödipus so verstehen, dass er die Spannung allen Urteilens, zwischen seiner Herleitung aus Gründen und sich überstürzender, plötzlicher Evidenz vorführt. Diese Spannung entfaltet König Ödipus durch die Kritik eines Urteilens, das sich am rechtlichen Verfahren auszurichten versucht. König Ödipus zeigt, dass die Verwandlung des Urteilens in ein rechtsförmiges Verfahren nicht vollständig gelingen kann: Das Urteilen behält für den (Sich-) Beurteilenden ein seine Herleitungen und Begründungen überholendes, ein exzessives Moment. Indem die Tragödie das aufweist, kommt sie aber nicht ihrerseits zu einem Urteilen über das rechtsförmig verfahrende Urteilen, und erst recht nicht zu einer Verurteilung eines solchen Urteilens als falsch oder unberechtigt. Das eben ist ja die Tragödie: dass aus dem Nichtgelingenkönnen eines Vorhabens nicht auf das Unberechtigte, gar Falsche seines Versuchs zurück geschlossen werden kann. Daher trifft die Parole “Schluss mit dem Gericht”3 nicht das kritische Verhältnis, das die Kunst der Tragödie zum Urteilen hat. Denn mit dem Gericht einfach Schluss zu machen, hieße nur, mit der (Hoffnung auf) Gerechtigkeit abzuschließen, also wieder Rache zu üben oder Sündenböcke ins Meer zu schubsen oder es den Göttern zu überlassen. “Schluss mit dem Gericht” missversteht, was “Kritik des Urteilens” in der Kunst bedeutet. “Kritik des Urteilens” kann nicht “Urteilen über das Urteilen” heißen: Die Tragödie urteilt nicht, dass das Urteilen schlecht ist; ja, nicht einmal, dass seine Verrechtlichung schlecht wäre. Würde sie so urteilen, so wüsste man am Ende der Tragödie, was zu tun richtig ist: nicht mehr – rechtsförmig – zu urteilen, sondern das – rechtsförmige – Urteilen abzuschaffen. (Wahrscheinlich hätte man aber keine Ahnung, wie man sich dann verhalten sollte. Denn selbst Teiresias’ Nein zum Handeln, zu dem ihn seine Einsicht in die Aussichtslosigkeit von Ödipus’ Urteilen führt, ist selbst wieder ein Handeln, und zwar: aufgrund eines Urteils.) Die Kunst (der Tragödie) urteilt nicht über das Urteilen, sondern treibt es in eine Aporie, aus der es einen Ausweg, ebenso den Ausweg des Weiter- wie des Nichtmehrurteilens, nur um den Preis der Dummheit oder des Selbstverlusts gibt.

Die ästhetische Praxis der Kritik lässt sich dann so verstehen, dass sie diese Erfahrung des Urteilens in der Kunst auf ihr eigenes (und in ihrem eigenen) Urteilen über die Kunst anwendet. Darin kommt die ästhetische Kritik nach der Kunst. Das soll heißen, dass die ästhetische Kritik nicht nur über die Erfahrung des Urteilens in der Kunst spricht, sondern dass sie diese Erfahrung ernst nimmt. Deshalb ahmt die ästhetische Kritik nach, was ihr in der Kunst vorgemacht wird. Aber indem sie es nachahmt, geht sie zugleich über das hinaus, was die Kunst ihr vormacht: Sie bringt die künstlerisch erfahrene Aporie des Urteilens in ihrer Praxis des Urteilens zur Geltung. Die ästhetische Kritik ist also eine Praxis des Urteilens, die die Aporie des Urteilens (in der Kunst) nicht nur zum Gegenstand hat, über den sie spricht, also urteilt, sondern die Aporie des Urteilens zur Formbestimmung ihres Urteilens macht. Darin liegt die Exemplarizität der ästhetischen Kritik: Sie macht durch ihre Praxis des Urteilens über Kunst vor, wie man überhaupt urteilen soll – wie man aus der Erfahrung der Aporie des Urteilens Konsequenzen für die Praxis des eigenen Urteilens ziehen kann. In dieser Exemplarizität kann man das ‘Politische’ der ästhetischen Kritik sehen.

Dass die ästhetische Kritik schon dadurch, dass und wie sie eine Praxis des Urteilens ist, politisch ist, heißt, dass sie es nicht erst dadurch ist, welche Urteile sie fällt. Mehr noch: Gerade darin, dass und was sie urteilt, ist die ästhetische Kritik nicht politisch. Denn politische Urteile unterscheiden sich von denen der ästhetischen Kritik durch ihren Anspruch auf kollektive Verbindlichkeit. Zwar liegt in allem Urteilen ein Gemeinschaftsbezug; alles Urteilen bekundet oder stiftet eine Gemeinschaft. Politische Urteile unterscheiden sich von allen anderen – ästhetischen, theoretischen, auch moralischen – Urteilsweisen aber dadurch, dass sie mit dem Anspruch einher gehen, auch von denjenigen zumindest ertragen zu werden, die mit ihnen nicht übereinstimmen; dem Anspruch also, gegebenenfalls gewaltsam gegen diejenigen durchgesetzt zu werden, die sie nicht teilen. Das macht den Ernst des politischen Urteils aus und unterscheidet es von den Urteilen in der ästhetischen Kritik (sowie den Urteilen in der Kunst, die in der ästhetischen Kritik beurteilt wird). Dass weder Kunstwerk noch Kunstkritik politisch urteilen können, hat also nicht nur den platonischen Grund, dass Künstler wie Kritiker lediglich Experten des Darstellens, nicht des Dargestellten sind (denn wer sagt denn, dass es in der Politik nicht ums Darstellen geht?). Der Grund ist vielmehr, dass Kunstwerk wie Kunstkritik von der Frage der Macht und damit der Frage der Gewalt entlastet sind, mit denen die Urteile der Politik immer konfrontiert sind. Wenn die ästhetische Kritik also nicht darin politisch sein kann, dass sie (gelegentlich auch) zu Urteilen gelangt, die einen politischen Gehalt haben, so ist sie ‘politisch’ in einem anderen Sinn doch darin, wie sie urteilt: weil sie eine Praxis des Urteilens ist, die die Aporie des Urteilens entfaltet, nicht auflöst. Denn indem sie das tut, bestärkt sie ein Moment, das neben dem, ja, gegen den unaufgebbaren Anspruch auf machtgestützte Verbindlichkeit für den Abweichenden ebenso unhintergehbar zum Politischen gehört. Macht dieser Anspruch des Politischen seinen Ernst aus, so kann man jenes Moment des Politischen, für das die aporetische Urteilspraxis der ästhetischen Kritik exemplarisch ist, das der Ironie nennen.

III.

Ich lese den Satz eines deutschen Philosophen, der seit vielen Jahren über Probleme der Menschenrechte schreibt und dabei hierzulande für jeden, der sich zu diesen Problemen äußern will, zu einer Instanz geworden ist, mit der sich zu beschäftigen er nicht vermeiden kann. Der unvermeidliche deutsche Philosoph schreibt: “Menschenrechte legitimieren sich aus einer Wechselseitigkeit heraus, pars pro toto: aus einem Tausch.” Ich denke – ich urteile – sofort: Das kann doch nicht wahr sein! Oder auch: So ein Unsinn! Wie kann ein Tausch, ein Austausch von Gütern oder Chancen, zu dem mich einzig und allein “Vorteilsüberlegungen” motivieren können, Menschenrechte legitimieren können? Denn Menschenrechte hat doch offenkundig gerade auch jemand, der mir im Tausch für meine Anerkennung nichts zurück zu geben vermag; jemand also, der gar nichts hat; der ein Nichts, ein Niemand ist; einer, den ich ohne jeden Nachteil für mich einfach übersehen und übergehen könnte. Dass ich ihn gleichwohl nicht übersehen und übergehen darf – das zu sagen, so denke ich, dazu sind Menschenrechte da. Und das, so urteile ich, wird in dem Satz des bekannten deutschen Philosophen verfehlt; der Satz des bekannten deutschen Philosophen ist verfehlt. – Ich habe geurteilt und ich habe dieses Urteil begründet. Zwischen Urteil und Grund gibt es keinen Unterschied. Der Grund des Urteils hat mich nicht über das Urteil hinausgetrieben, er hat mich nicht von dem Urteil abgehalten. Ich war beim Nachdenken über das Urteil nicht woanders. Das heißt: Ich habe nicht gedacht, nicht denken müssen, als ich mein Urteil begründet habe. Der verfehlte Satz hatte nicht die Kraft, mich zu einem Denken zu nötigen, das mich von meiner allerersten urteilenden Reaktion losgerissen, ja, sie vielleicht sogar in Frage gestellt hätte. Ich möchte sagen: Ich habe also nur geurteilt, aber nicht Kritik geübt. Das ist es, was ich dem bekannten deutschen Philosophen am meisten übel nehme.

Ich lese den Roman eines chilenischen Autors, der als junger Student durch den Putsch des Augusto Pinochet ins Exil zunächst in Mexiko, dann in Barcelona getrieben wurde. Der Roman handelt von einem chilenischen Priester, der sich als alter Mann, in einer von Fieberanfällen zerrissenen Nacht, seines Lebens erinnert. Der Roman beginnt damit, wie der junge Priester seine dichterische Sendung entdeckt, Kontakt mit dem bekanntesten Literaturkritiker seines Landes aufnimmt, von diesem gefördert und in der ebenso provinziellen wie zurückgebliebenen Kulturszene Chiles etabliert wird (in der der Roman in einer bitterbösen Szene auch Pablo Neruda die Runde machen lässt). Der Roman berichtet dann, wie der Priester, als ideologisch zuverlässig eingestuft, nach dem Putsch den Generälen der Junta in wöchentlichen Privatissime angstschlotternd den Marxismus-Leninismus erklärt, den diese ja bekämpfen wollen und daher ein wenig kennen zu müssen glauben (sie interessieren sich aber vor allem für die sexuelle Libertinage einiger chilenischer Kommunistinnen), und endet mit der Erzählung von rauschenden Festen, auf die sich die im Land verbliebene Kulturschickeria in einer Villa außerhalb von Santiago vergnügt, einer Villa, in der, anscheinend nur von dem entsetzten Priesterdichter bemerkt, gleichzeitig im Keller ein Folterzentrum betrieben wird. – Ich lese den Roman, als ich einen Frühling in Barcelona verbringe. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll: Was soll diese Figur eines Priesters, eines Verfassers von Versen, die ich mir ähnlich kitschig vorstelle wie die von Neruda, der einerseits fest im katholisch-provinziell-autoritären Milieu Chiles verankert scheint, andererseits unter all den oppositionellen Maulhelden allein es wagt, in die Kellerräume der Villen vorzustoßen und dort nach den Ursachen dafür zu suchen, dass gelegentlich während der Feste sekundenlang das Licht flackert (weil man den Strom im Keller für andere Zwecke braucht)? Ist das glaubhaft? Aber ist ‘glaubhaft’ überhaupt die richtige Kategorie? Ich weiß es nicht. Also lese ich den Roman ein Jahr später noch einmal, diesmal auf einer Reise nach Chile. Ich frage chilenische Bekannte nach ihrer Lektüre. Keiner kennt den Roman. Als ich davon zu erzählen versuche, merke ich, dass die politische Pointe, auf die ich glaubte, den Januscharakter des Romanhelden bringen zu können oder zu müssen (und aus deren Unerwünschtheit im postdiktatorialen Chile ich mir die Unbekanntheit des Romans zunächst erkläre), vielleicht deshalb so dünn wirkt, weil sie gar nicht gemeint ist. Ich frage mich, weshalb der verseschmiedende Priesterdichter auch ein Literaturkritiker ist. Und ich frage mich, weshalb ich mir so sicher bin, dass ebenso die Verse, die er selbst schreibt, wie die Romane und Gedichte, über die er schreibt, und schließlich auch seine Kritiken, die er über sie schreibt, nur aufgeblasener Schund sein können; denn zu lesen bekomme ich davon in dem Roman nichts. Die Figur erscheint mir nun unverständlich, undurchschaubar, abgründig. Macht es das besser? Ich weiß es immer noch nicht. Vielleicht lese ich den Roman irgendwann noch mal.

Ich lese ein berühmtes Theaterstück eines berühmten irisch-französischen Schriftstellers wieder, über das ich vor zehn Jahren einen Text geschrieben habe. Der Anlass war damals die Einladung zu einer Tagung, auf der eine Sektion dem Essay gewidmet war, den ein ebenfalls berühmter deutscher Philosoph über jenes Theaterstück verfasst hatte. Ich bewundere den Philosophen, aber nicht diesen Essay. Ich finde ihn schwach: eine bloße Projektion seiner philosophischen Kategorien auf einen literarischen Text. Ich will den literarischen Text vor dieser philosophischen Überformung retten. Mein Problem ist aber: Ich verstehe das Theaterstück nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es mir gefällt. Das scheint bei diesem Theaterstück auch nicht die richtige Frage. Ich bin mir aber ganz sicher, dass es gut ist. Woher kommt diese Sicherheit? Ich unternehme eine Analyse des Textes, indem ich mich frage, nicht was die beiden Hauptfiguren sagen, sondern wie sie sprechen: auf welche Art sie die Sprache verwenden. Ich stoße dabei auf ein Grundmuster, eine Grundopposition zweier auf komplexe Weise einander entgegengesetzter und voneinander vorausgesetzter Sprechweisen. Dadurch wird der unverständliche Texte mit einem Mal transparent: Ich verstehe, worum es in ihm geht, wie er aufgebaut ist, wie er mit bedeutenden anderen Texten seiner Zeit in einer untergründigen Korrespondenz steht. Hinzu kommt: Mir gefällt, was das Theaterstück, so gelesen, zum Ausdruck bringt. Es passt mir, und mehr noch: Ich passe mich ihm an. Ich versuche kulturelle und soziale Strukturen, die Lage der künstlerischen und politischen Avantgarden etwa, so zu sehen, wie sie durch das Prisma seines Grundmusters gebrochen erscheinen, und finde diese Sichtweise überzeugend. – An einer Stelle des Theaterstücks sagt eine der beiden Hauptfiguren zur anderen: “Wenn ein vernunftbegabtes Wesen auf die Erde zurückkehrte und uns lange genug beobachtete, würde es sich dann nicht Gedanken über uns machen? Mit der Stimme des vernunftbegabten Wesens: Ah, ja, jetzt versteh ich, was es ist, ja, jetzt begreife ich, was sie machen!” Ich werde das ungute Gefühl nicht los, dass mein Text über das Theaterstück mit dieser Stimme spricht.

Die folgenden Thesen wollen einige Konsequenzen aus Überlegungen zum Problem des Urteilens ziehen, die ich anderswo ausführlicher dargestellt habe. Dabei bezieht sich Teil (I.) auf Studien zur Geschichte der philosophischen Ästhetik seit dem frühen achtzehnten Jahrhundert (vgl. Vf., "Subjekt, Subjektivität", in: Karlheinz Barck u.a. [Hgg.], Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart / Weimar 2000--2005, Bd. 5 [2003], S. 734-787), Teil (II.) auf die Reflexion des Urteilens in der literarischen Form der Tragödie (vgl. Vf., Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt am Main 2005).

Jean-Baptiste Dubos, Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719), Genf 1967, Vol. II, sect. XXII, S. 343 f. Dubos ist hier nur ein Beispiel; ähnliche Argumente ebenso gegen die Möglichkeit wie den Bedarf der Methodisierung des ('sinnlichen') Auffassens und Beurteilens formulieren Pascal, Leibniz und Vico.

Gilles Deleuze, "Schluss mit dem Gericht", in: ders., Kritik und Klinik (1993), Frankfurt am Main 2000, S. 171--183.

Published 9 March 2009
Original in German
First published by Glänta 4/2008

Contributed by Glänta © Christoph Menke / Glänta / Eurozine

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