Der kosmopolitische Staat

Staatenbildung neu denken - eine realistische Utopie

Die globale Gefahr des Terrorismus ist ein Teil der Risikogesellschaft und löst die Grenzen zwischen äußerer und innerer Sicherheit auf. Ulrich Beck zieht den Schluß, dass sich Staaten denationalisieren und transnationalisieren müssen, um in der globalisierten Welt ihre nationalen Probleme zu bewältigen.

Der global agierende Terrorismus hat ein neues Kapitel in der Weltrisikogesellschaft aufgeschlagen. Man muss klar unterscheiden zwischen dem Attentat selbst und der terroristischen Bedrohung, die dadurch universalisiert wird. Politisch entscheidend ist letztlich nicht das Risiko, sondern seine Wahrnehmung. – Furcht schafft eine eigene Wirklichkeit. Kapitalismus setzt Optimismus voraus, der durch die kollektiv geglaubte terroristische Bedrohung zerstört wird, was die taumelnde Weltwirtschaft in eine Krise stürzen kann. Wer die Welt als Terrorrisiko sieht, wird handlungsunfähig. Das ist die erste Falle, die die Terroristen aufgestellt haben. Die zweite Falle: Das wahrgenommene und politisch instrumentalisierte Terrorrisiko entfesselt die Sicherheitsbedürfnisse, die Freiheit und Demokratie vertilgen, also das, was die Moderne überlegen macht. Wenn wir uns vor die Wahl gestellt sehen: Freiheit oder Überleben, dann ist es zu spät, weil die Mehrheit der Menschen sich gegen die Freiheit entscheiden wird.

Die größte Gefahr ist also nicht das Risiko, sondern seine Wahrnehmung, die Gefahrenphantasien und ihre Gegenmittel freisetzt und dadurch die moderne Gesellschaft ihrer Handlungsfähigkeit beraubt. Dagegen hilft schwarzer Zynismus. Wie viele Weltuntergänge haben wir schon erlebt und überlebt: Seveso, Tschernobyl, Klimakatastrophe, vergiftete Nahrungsmittel, Rinderwahnsinn. Die Frage jedoch, wie viel Freiheit und wie viel Sicherheit, also auch wie viel Unsicherheit, notwendig sind, um zu überleben, ist das Kernproblem, vor das wir uns durch die Anschläge gestellt sehen.

Immer wieder wurde die Frage aufgeworfen und diskutiert: Was kann die Welt einen? Die experimentelle Antwort lautete: ein Angriff vom Mars. Dieser Terrorismus ist ein Angriff vom inneren Mars. Jedenfalls einen historischen Augenblick lang sind die zerstrittenen Lager vereint gegen den gemeinsamen Feind.

Gerade die Universalisierung der terroristischen Bedrohung gegen die Staaten der Welt macht den Kampf gegen den globalen Terrorismus zu einer Herausforderung der Großen Politik, in der Allianzen über gegnerische Lager hinweg geschmiedet, regionale Konflikte eingedämmt und damit die Karten der Weltpolitik neu gemischt werden. Es ist atemberaubend, wie rasant und extrem sich die Prioritäten der US-amerikanischen Außenpolitik gewandelt haben. Beherrschte bis vor kurzem noch das Vorhaben eines nationalen Raketenabwehrsystems das politische Denken und Handeln Washingtons, so ist davon jetzt nicht mehr die Rede. Stattdessen scheint sich die Einsicht durchzusetzen, dass auch ein perfektes Raketenabwehrsystem diesen Anschlag nicht verhindert hätte; dass also die innere Sicherheit der USA nicht im technisch-nationalen Alleingang, sondern nur in einer globalen Allianz zu gewährleisten ist. Die Rivalitäten mit Peking und Moskau werden – jedenfalls vorübergehend – klein geschrieben angesichts der Notwendigkeiten, welche die “Verteidigung” der inneren Sicherheit der USA in Afghanistan an Kooperation nicht nur mit Russland erfordern. Inzwischen wird intensiver Druck auf Israel und die Palästinenser ausgeübt, um einen echten Waffenstillstand durchzusetzen, weil dieser als Schlüssel für eine Beteiligung der arabischen und islamischen Staaten gilt.

Auch der Europäischen Union hat die Macht des gemeinsamen Antiterrorismus neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Plötzlich verschwimmen die Gegensätze zwischen den rivalisierenden europäischen Nationen, und hervor treten die Gemeinsamkeiten – innerhalb Europas, aber auch zwischen Europäern und US-Amerikanern: schlechte Zeiten für Euro-Skeptiker! Gute Zeiten für einen Beitritt Großbritanniens zur Euro-Welt! Selbstverständlich kann diese Gemeinsamkeit nun im Härtetest der begonnenen Kriegshandlungen in sich zusammenbrechen.

Wie also wird politisches Handeln im Zeitalter der Globalisierung möglich? Meine Antwort lautet: durch die wahrgenommene Globalität der Gefahren, die das scheinbar eherne System der internationalen und nationalen Politik verflüssigt und gestaltbar macht. Man muss zwischen den Gefahren der Gefahren und den Chancen der Gefahren unterscheiden. Die ungesehenen Chancen der Weltrisikogesellschaft müssen als politische Nebenfolgen der Gefahren für Leib und Leben begriffen werden. In diesem Sinne erzeugt die Furcht weltpolitisch eine quasirevolutionäre Situation, die ganz unterschiedlich genutzt werden kann: Ende des Isolationismus der Außenpolitik der USA; eine außenpolitische Mission, die Ausstrahlung hat auf die Zähmung nationaler Rivalitäten und regionaler Konflikte. Aber auch “gerechte Kriege”, die Scharen neuer Selbstmordterroristen erzeugen; Abbau von Freiheiten, Protektionismus, Dämonisierung des kulturell Anderen.

Der Terroranschlag stärkt den Staat, entwertet, entthront jedoch zwei bislang regierende Ideen: den National-Staat und den neoliberalen Staat. Neoliberalismus und die Idee des freien Marktes gelten als Schlüssel für die Zukunft. Sie haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine hegemoniale Macht entfaltet. Sicher ist es verfrüht, vom Ende des Neoliberalismus zu reden. Aber doch gibt das globale Terrorrisiko eine Vorgeschmack auf die Konflikte, in welche die Globalisierung die Welt stürzt. Und in Zeiten dramatischer globaler Konflikte verliert der Grundsatz Politik und Staat durch Wirtschaft zu ersetzen, rapide an Überzeugungskraft. Auf die Frage, ob die 40 Milliarden Dollar, die die US-Regierung vom Kongress für den und den Wiederaufbau forderte, nicht im Widerspruch stehen zu den Bekenntnissen der neoliberalen Wirtschaftspolitik, unter denen die Bush-Regierung angetreten ist, antwortete deren Sprecher lakonisch: “Nationale Sicherheit hat Vorrang.”

Nationale Sicherheit – das aber ist die zweite große Lehre des Terroranschlags – ist nicht mehr nationale Sicherheit. Gewiss, es gab immer Allianzen. Der entscheidende Unterschied jedoch ist, dass heute globale Allianzen nicht für die äußere, sondern auch für die innere Sicherheit notwendig sind. Die unser Weltbild tragende Unterscheidung zwischen Innen und Außen, Polizei und Militär, Verbrechen und Krieg, Krieg und Frieden sind aufgehoben und müssen neu ausgehandelt und fixiert werden. Damit aber wird die Kategorie des Nationalstaates zur Zombie-Kategorie.

Früher galt: Außenpolitik ist eine Frage der Wahl, nicht der Notwendigkeit. Heute dagegen herrscht ein neuartiges Sowohl-als-auch: Außen- und Innenpolitik, nationale Sicherheit und internationale Kooperation sind direkt ineinander verzahnt. Der einzige Weg angesichts des drohenden globalen Terrors (aber auch der Klimakatastrophe, der Migration, der Gifte in Lebensmitteln, des organisierten Verbrechens) zur nationalen Sicherheit ist die transnationale Kooperation. Es gilt der paradoxe Grundsatz: Staaten müssen sich aus nationalem Interesse de-nationalisieren und trans-nationalisieren, also die Souveränität preisgeben, um in der globalisierten Welt ihre nationalen Probleme zu bewältigen. Nach dem Terroranschlag ist deutsche Innenpolitik ein wichtiger Bestandteil der inneren Sicherheitspolitik der USA, also der amerikanischen Außenpolitik und damit der ineinander verwobenen Innen-, Außen-, und Verteidigungspolitik Deutschlands, Frankreichs, Pakistans, Großbritanniens, Russlands und vieler weiterer Staaten.

Max Weber ging davon aus, dass die Entscheidung über Krieg und Frieden zum “Wesensmerkmal” des Staates gehört. Ich bin ein Bürger Münchens. Wer entscheidet stellvertretend für die Bürgerinnen und Bürger Münchens über Krieg und Frieden? Der Münchner Stadtrat? Die Bayerische Staatsregierung? Der deutsche Bundestag? Der Bundeskanzler? Das Europäische Parlament? Die Europäische Kommission? Die NATO? US-Präsident Bush? Der UNO-Sicherheitsrat? Formal mag das geregelt sein, real ist das gerade unklar geworden. Die nationale Ur-Entscheidung über Krieg und Frieden ist nicht mehr die autonome Angelegenheit einzelner Staaten. Was für Max Weber eine unauflösliche Einheit bildete – Souveränität und Staatlichkeit -, hat sich längst auseinander entwickelt. Das heißt: Die Handlungsfähigkeit der Staaten muss de facto unabhängig von den bisherigen Souveränitäts- und Autonomievorstellungen begrifflich erfasst und politisch erschlossen werden.

Die globale terroristische Bedrohung eröffnet eine neue Ära transnationaler und multilateraler Kooperationen. Sie führt gerade nicht zu einer Renaissance des Nationalstaates, sondern zu der Entdeckung und Entfaltung dessen, was ich kooperative Transnationalstaaten nenne. Der nationale Blick wird zum Hindernis für die transnationale Erfindung des Politischen und der Staatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung. Dies wird jetzt erfahren und ausbuchstabiert an den plötzlich geopolitischen Fragen der entgrenzten “inneren Sicherheit” von Ex-Nationalstaaten und kann übertragen werden auf Fragen der drohenden Klimakatastrophe, der globalen Armut, der Menschenrechte.

Zwei Idealtypen transnationaler Staatenkooperation zeichnen sich ab – transnationale Überwachungsstaaten und kosmopolitische Staaten. Überwachungsstaaten drohen mit der neuen Kooperationsmacht zu Festungsstaaten ausgebaut zu werden, in denen Sicherheit und Militär groß und Freiheit und Demokratie klein geschrieben werden. Schon wird der Ruf laut, den Friedens- und Wohlstandsverwöhnten Gesellschaften des Westens fehlten das notwendige Maß an scharfem Freund-Feind-Denken und die Bereitschaft, den Vorrang, den das Wunderwerk der Menschenrechte bislang besaß, den nun notwendigen Maßnahmen der Gegenwehr zu opfern. Dieser Versuch, eine abendländische Zitadelle zu konstruieren, ist allgegenwärtig und wird in den kommenden Jahren sicherlich zunehmen: Für die Globalisierungsgewinner ist der Neoliberalismus zuständig, für die Globalisierungsverlierer bleiben Terrorismus- und Fremdenängste – und in dosierten Gaben das Gift des Rassismus.

Demgegenüber wird es in Zukunft wesentlich darauf ankommen, die Frage zu stellen, wofür streitet ihr, streiten wir, wenn es darum geht, den transnationalen Terrorismus zu bekämpfen? Die Antworten bietet ein kosmopolitisches Staatensystem, das auf der Anerkennung der Andersheit der Anderen beruht.

Nationale Staaten stellen eine Bedrohung der inneren Vielfalt, der multiplen Loyalitäten, der und dar, die sich im Zeitalter der Globalisierung in ihren Grenzen notwendig vollziehen. Kosmopolitische Staaten betonen dagegen die Notwendigkeit, Selbstbestimmung mit der Verantwortung für Andere, Fremde innerhalb und außerhalb der nationale Grenzen zu verbinden. Es geht nicht darum, Selbstbestimmung zu negieren oder gar zu verdammen – im Gegenteil: Es geht darum, sie aus der nationale Einäugigkeit zu befreien und mit einer kosmopolitischen Öffnung für die Belange der Welt zu verbinden. Kosmopolitische Staaten kämpfen nicht nur gegen den Terror, sondern auch gegen die Ursachen des Terrors in der Welt. Sie gewinnen und erneuern die Gestaltungs- und Überzeugungskraft des Politischen aus der Lösung globaler Probleme, die im nationalen Alleingang unlösbar erscheinen.

Kosmopolitische Staaten sind auf dem Prinzip der nationalen Indifferenz des Staates gegründet. Ähnlich wie in der Gestalt des Westfälischen Friedens die sakralen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts durch die Trennung von Staat und Religion beendet wurden, könnten – das ist die These – die nationalen Welt(bürger)kriege des 20. Jahrhunderts mit einer Trennung von Staat und Nation beantwortet werden. Ähnlich wie der areligiöse Staat die Ausübung verschiedener Religionen überhaupt erst ermöglicht, müssten kosmopolitische Staaten das Nebeneinander der nationalen und religiösen Identitäten durch das Prinzip der konstitutionellen Toleranz gewährleisten.

Man könnte und müsste das Experiment des politischen Europa in diesem Sinne als ein Experiment der kosmopolitischen Staatenbildung neu denken. Ein kosmopolitisches Europa, das seine politische Kraft gerade aus der weltoffenen Bekämpfung des Terrorismus, aber auch aus der Bejahung und Zähmung der europäischen Nationenvielfalt einschließlich ihrer liebenswerten Bornierungen schöpft – das könnte eine durchaus realistische Utopie sein oder werden.

Published 5 December 2001
Original in German
First published by Der Spiegel

© Ulrich Beck

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