Wenn die EU einen Erfolg will, erzielt sie ihn auch

In Konversation mit Pier Virgilio Dastoli

Milvia Spadi: Dass der Friedensnobelpreis kürzlich an die Europäische Union verliehen wurde, haben viele als ein wenig anmaßend empfunden, bedenkt man das Fehlen einer gemeinsamen Außenpolitik, die in Konfliktfällen, wie etwa den Kriegen in Jugoslawien, umso nötiger gewesen wäre. Wie bewerten Sie die Wahl des norwegischen Nobelpreiskomitees?

Pier Virgilio Dastoli: Zunächst einmal halte ich es für durchaus lohnend, sich einer aufmerksamen Lektüre der Begründung zu widmen – was längst nicht alle Zeitungen getan haben -, denn es handelt sich um eine gut durchdachte Begründung durch die Preisgeber. Sie führt vier oder fünf Gründe an, warum die Europäische Union diese Ehre verdient hat. Der erste Grund betrifft den deutsch-französischen Konflikt, der zweite die Rolle, die die EU bei die Beendigung der faschistischen Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland spielte, der dritte besteht in der Vereinigung des Kontinents nach dem Fall der Berliner Mauer, der vierte wiederum in der Stabilität, die die EU mit ihrer Beitrittsperspektive auf dem Balkan herstellen konnte. Das heißt, die Begründung ist klar strukturiert. Beim Nobelpreis verhält es sich ein wenig wie beim Oscar, der eine Schauspielerlaufbahn würdigt. Wenn Sie so wollen, hat man mit dem Nobelpreis die “Karriere” der EU geehrt. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang auch daran, dass es im Jahr 2009 Barack Obama war, der den Friedensnobelpreis erhielt, als er eigentlich noch gar nichts getan hatte. Folglich wird der Preis auch als Wechsel auf die Zukunft angesehen. In der Interpretation der Jury und des Generalsekretärs des Europarates drückt der Preis nicht zuletzt die Erwartung aus, Europa möge in Zukunft eine effektivere Rolle spielen.


Vermutlich wurde er zum falschen Zeitpunkt verliehen, denn Europa befindet sich heute in der Krise, Europa ist krank. Vielleicht wäre es besser gewesen, Europa hätte diesen Preis bereits einige Jahre früher bekommen. In der Zeit, als ich Generalsekretär der Europäischen Bewegung International war, 1995, und Giscard d’Estaing ihr Präsident, haben wir in der Tat einen Brief ans Komitee in Oslo geschrieben und die Jury aufgefordert, der EU den Friedensnobelpreis zuzusprechen. Seitdem sind 17 Jahre vergangen. Damals, im fernen 1995, als man die Beitrittsgespräche mit den Staaten des ehemaligen Ostblocks aufnahm, wäre der Zeitpunkt für die Preisvergabe sicher passender gewesen.

MS: Häufig spricht man von der Notwendigkeit einer europäischen Außenpolitik, von einer gemeinsamen europäischen Politik im Allgemeinen, die ja heute, nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen, umso dringlicher wäre.

PVD: Das Problem Europas besteht darin, dass es in einem Teil des Kontinents den Frieden garantiert, aber in einem anderen Teil, von dem Sie schon sprachen, gründlich versagt hat. Im Gegenteil, und hier sollte man ein wenig Selbstkritik üben, als die Jugoslawienkrise explodierte, haben wir eine eher negative Rolle gespielt. Die Eile, mit der einige Länder, allen voran – sagen wir es offen – Deutschland, zusammen mit dem Vatikan, die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens anerkannte, hat wahrscheinlich den Ausbruch des Bürgerkriegs noch befördert. Ich bin davon überzeugt, dass die Europäische Union im Moment des Auseinanderbrechens der Jugoslawischen Föderation durchaus imstande gewesen wäre, den Ausbruch des Bürgerkriegs zu verhindern, wenn sie eine Politik der nachdrücklichen moral suasion betrieben hätte, um die uns bekannten Folgen abzuwehren. Das hat die EU, in Ermangelung einer gemeinsamen Außenpolitik, die es weder damals gab noch bis heute gibt, aber gerade nicht gemacht. Die europäischen Länder waren uneins, was ihre Beziehungen zu den Staaten des Balkans anging, Frankreich oder Italien orientierten sich im Wesentlichen an Serbien, Deutschland an Kroatien oder Slowenien. Aufgrund unserer Uneinigkeit waren wir außerstande, die Rolle des Friedensstifters zu übernehmen.

Dasselbe erleben wir auch in anderen Fällen: In den Wochen des Konflikts zwischen Israel und dem Gaza-Streifen hörte man von der EU rein gar nichts, auch Catherine Ashton schwieg. Man könnte fast meinen, Frau Ashton sei stumm, da sie auf Meinungsäußerungen verzichtet. Hillary Clinton musste einspringen, um einen vorläufigen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas zu erreichen. Eine gemeinsame Außenpolitik der EU gibt es nicht, weil man im Vertrag von Lissabon jenes Prinzip beibehielt, laut dem die Außenpolitik nur das Ergebnis der Vereinbarungen zwischen den Regierungen von 27 Mitgliedstaaten sein kann. Wen wundert es da, wenn die EU nicht mit einer Stimme spricht? Und solange sie das nicht tut, kann sie auch nicht als handlungsfähiger Friedensstifter bei Konflikten auftreten.

MS: Dennoch gibt es in Europa Institutionen von großem internationalen Gewicht, ich denke zum Beispiel an das Kriegsverbrechertribunal, aber auch an jene Instanzen und Vereinbarungen, die die polizeiliche Zusammenarbeit gegen die – leider immer weiter um sich greifende – organisierte Kriminalität betreffen. Riskieren diese Organe von untergeordneter Bedeutung zu bleiben, weil es der EU an einer gemeinsamen Außenpolitik mangelt?

PVD: Was das Kriegsverbrechertribunal angeht, das in Rom ins Leben gerufen wurde, wurde eine Einigung nur dank der Vermittlung und Unterstützung durch die EU erreicht. Denn wenn die EU einen Erfolg will, erzielt sie ihn auch. Nehmen wir ein anderes Beispiel: Für Frieden zu sorgen, bedeutet nicht nur, Kriege zu vereiteln, sondern auch die Hinrichtung von Menschen zu verhindern. Die Europäische Union spielt seit langem weltweit eine führende Rolle im Kampf für die Abschaffung der Todesstrafe, und wenn Jahr für Jahr die Zahl derjenigen Länder, die die Todesstrafe aussetzen oder abschaffen, wächst, ist das nicht zuletzt ein Verdienst der EU und ihres Einsatzes innerhalb der Vereinten Nationen. Das ist das Maß, an dem sich zeigt, welchen Einfluss die EU nehmen kann, wenn sie nur will.

Sicher, Frieden, das meint auch den Kampf gegen die organisierte Kriminalität und für die Abwesenheit von Gewalt. Was das angeht, sind wir auch einige Schritte vorangekommen, in dem wir den europäischen Haftbefehl eingeführt haben. Wir haben ein System juristischer Zusammenarbeit in Hinsicht auf die strafrechtliche Verfolgung geschaffen, das sich freilich noch in embryonalem Zustand befindet. Zweifellos müsste man viel mehr machen. Ich empfinde das besonders stark, weil ich aus Kalabrien stamme. Wir haben die ‘Ndrangheta in andere Länder exportiert. Mittlerweile existiert eine Aktiengesellschaft, die zu den mächtigsten der Welt gehört, die, den Grundsätzen eines modernen Managements verpflichtet, äußert effektiv agiert und sich tatsächlich “‘Ndrangheta” nennt. Es dürfte klar sein, dass es sich nicht mehr nur um ein auf Kalabrien bezogenes Phänomen handelt. Seit einigen Jahren arbeiten wir daran, und nun hat das Europäische Parlament einen Ausschuss zur Organisierten Kriminalität ins Leben gerufen, um ins Strafgesetzbuch der 27 Mitgliedstaaten einen Artikel des italienischen Strafrechts einzuführen, der es erlaubt, einen Mafioso lediglich aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Mafiaorganisation ins Gefängnis zu bringen. Nach dem Mafia-Anschlag von Duisburg musste die deutsche Polizei einräumen, dass ihr für eine Verhaftung der beteiligten Mafiosi die juristischen Voraussetzungen fehlen, denn nach dem geltenden Strafrecht hatten sie keine strafbaren Handlungen begangen, die Zugehörigkeit zu einer Mafiaorganisation stellte ja in Deutschland, anders als in Italien, keinen Straftatbestand dar. Würde also der Paragraf 41-bis auch ins deutsche Strafgesetzbuch aufgenommen, hätte die dortige Polizei ein Instrument mehr zur Hand. Das Problem besteht darin, dass die Deutschen sagen: Wenn wir diese juristische Norm übernehmen, geben wir damit automatisch zu, dass es die Mafia auch bei uns gibt. Aber genauso ist es.

MS: Mit Sicherheit. Mit einem europäischen Justizminister würde man wohl nicht nur die Realität besser zur Kenntnis nehmen, sondern wahrscheinlich auch die Prozeduren und Abläufe beschleunigen. Ebenso wie mit einem europäischen Außenminister.

PVD: Ja, aber wir sehen es ja bei Frau Ashton, die sicherlich einige Verantwortung trägt. Egal, mit wem man diesen Posten besetzt hätte – und damals waren ja auch Massimo D`Alema und Tony Blair eine Zeit lang als Kandidaten im Gespräch -, egal, wer auf diesen Posten gelangt wäre, vielleicht hätte er etwas mehr Sichtbarkeit gewonnen, aber die Resultate hätten sich nicht sonderlich unterschieden, davon bin ich überzeugt. Ein europäischer Außen- oder Justizminister kann Ergebnisse nur unter der Bedingung erzielen, dass man ihm auch einen gewissen Handlungsspielraum einräumt. Wenn sich aber die miteinander streitenden Außen- oder Justizminister der verschiedenen Mitgliedstaaten nicht darauf einigen können, dem Amt ein wirksames Mandat zu verleihen, kann kein europäischer Außenminister, wer auch immer es sei, erfolgreich agieren.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus dem Energiebereich. Wir haben einen EU-Kommissar für Energie, den Deutschen Günther Oettinger, und wir sind in einer Situation, vergleichbar mit der einer Hausgemeinschaft aus 27 Wohnungseigentümern, die sich weigern, dem Hausverwalter die Aufgabe zu übertragen, den Energieeinkauf für alle Parteien zu verhandeln. Klar, dass die Energieanbieter unter diesen Umständen den Preis nach dem Motto divide et impera siebenundzwanzig Mal neu aushandeln können, dem EU-Kommissar bleibt nichts anderes übrig, als die Hände in den Schoß zu legen, weil er ja kein Verhandlungsmandat für die gesamte EU besitzt.

Dasselbe geschieht auf anderen Feldern, wie denen der Justiz, der Außenpolitik und so weiter. Der italienische Staatspräsident, Giorgio Napolitano, hat gesagt: Wir, die Mitgliedstaaten, müssen wesentliche Teile unserer Souveränität an die Europäische Union abtreten. Und da gibt es einige Bereiche, die wir von der Europäischen Bewegung International vor dem Hintergrund der Verträge präzise benannt haben. Es handelt sich um insgesamt sechs Bereiche, und die Erfahrung zeigt, dass nur die Europäische Union, und nicht die einzelnen Mitgliedstaaten jeder für sich allein, in diesen Bereichen wirksame Ergebnisse erzielen kann: Energie, Zusammenarbeit der Justizbehörden in Strafrechtsangelegenheiten, Industriepolitik, soziale Fragen, Außen- und Sicherheitspolitik sowie eine gemeinsame wirtschaftliche Governance. Die Kompetenz in diesen Bereichen muss der Europäischen Union übertragen werden, das ist der einzige Weg.

MS: Bei einer Zusammenkunft des Mailänder Instituts für Internationale Politische Studien ist man dazu zurückgekehrt, von der Rolle der einzelnen Mitgliedstaaten und einem föderalen Europa zu sprechen, also den ursprünglichen Ideen beispielsweise eines Altieri Spinello. Heute sehen wir Regierungschefs wie Mario Monti oder Angela Merkel, die miteinander sprechen, sich auch einig sein mögen, aber von jeweils unterschiedlichen nationalen und subjektiven Gegebenheiten ausgehen, die vielleicht in einem föderalen Europa kein so großes Hindernis darstellen würden, weil es ein gefestigtes gemeinsames Interesse gibt.

PVD: Ja, Monti und Merkel sprechen wahrscheinlich mehr miteinander, als es die italienischen und deutschen Regierungschefs in den vergangenen Jahren getan haben. Wenn es zwei Länder gibt, die aufgrund ähnlicher Voraussetzungen am ehesten dazu bereit wären, ein föderales Europa zu akzeptieren, dann sind es Italien und Deutschland, das ist meine tiefste Überzeugung. Für diese beiden Länder ist es charakteristisch, dass ihre nationale Identität der Gründung des Staates vorausging. Wir fühlten uns bereits vor der Geburt der italienischen Nation als Italiener, und den Deutschen erging es nicht anders. Das war in keinem anderen europäischen Land so. In Frankreich gab es den französischen Staat bereits vor der Geburt der nationalen Identität. In anderen Staaten wiederum existiert kein Nationalbewusstsein oder es ist nur äußerst schwach ausgebildet. In Spanien sind es die Katalanen oder die Basken, die eine nationale Identität besitzen, im Vereinigten Königreich sind es die Walliser oder die Schotten. Deshalb haben wir keine Angst, unsere nationale Identität an eine übernationale Struktur abzutreten, denn wir wissen, dass sie so stark in unserem Bewusstsein verankert ist, dass wir sie nie verlieren werden. Aus diesem Grund haben Italien und Deutschland in der Geschichte der europäischen Integration eine wichtige Rolle gespielt. Das ist die erste Feststellung. Die zweite lautet: Wenn die Kanzlerin Merkel eine politische Union fordert, dann tut sie das nicht auf instrumentelle Weise, sondern, darin bin ich mir sicher, weil sie von diesem Projekt überzeugt ist. Folglich muss man ihr helfen. Denn bisher ist Merkels Regierung die einzige, die im Laufe der letzten zwei Jahre klar und deutlich einen Sprung in Richtung politischer Union verlangt hat. Monti hätte meines Erachtens bei seinen Gesprächen mit Merkel den Dialog in dieser Sache aufnehmen müssen. Und das hat er unterlassen. Er hat ja auch mehrfach betont – das ist keine Kritik, nur eine Bestandsaufnahme -, zum Beispiel in seinem Interview mit der Welt – von wegen Spinelli, von dem wir gerade sprachen -, nämlich auf die Frage nach der Utopie des Manifests von Ventotene, “Für ein freies und einiges Europa”, dass es die Vereinigten Staaten von Europa niemals geben werde und man sie auch nicht benötige. Was diesen Punkt angeht, ist die italienische Regierung sehr zurückhaltend. Ein Grund dafür dürfte die Vorstellung sein, dass wir noch längst nicht alle unserer nationalen Hausaufgaben erledigt haben und uns darum die Berechtigung fehlt, den Diskurs der europäischen Integrationspolitik voranzutreiben. Außerdem hat Mario Monti mehrfach unterstrichen, dass er Großbritannien, für das er großes Verständnis hat, nicht isolieren will. Aus diesen Gründen haben wir Angela Merkel in dieser Frage allein gelassen. Ich denke, wenn man den Sprung hin zu einer politischen Union machen kann, dann aufgrund einer italienisch-deutschen Initiative. Aber dafür müsste man nach Berlin gehen, um darüber zu diskutieren, wie so eine politische Union aussehen könnte, man müsste über die Inhalte reden, die Modalitäten des Projekts besprechen, sich Klarheit verschaffen, was die Methode und den Zeitrahmen ihrer Verwirklichung angeht. Aber die politische Initiative kann nur von Italien und Deutschland kommen.

MS: Freilich muss man sich vor Augen halten, dass Deutschland in diesem Moment, aus ökonomischen Gründen, aufgrund der Krise im Allgemeinen, bei Entscheidungen eine ausschlaggebende Rolle zufällt, was viele Länder zu einer antieuropäischen Haltung veranlasst, siehe die griechische Situation.

PVD: Gerade deshalb sollte man an den besagten qualitativen Sprung hin zu einem föderalen System denken, denn in einem Staatenbund dominiert der stärkste Mitgliedstaat, während in einem Bundesstaat das gemeinsame Interesse dominiert. Wenn wir also die Übermacht Deutschlands eindämmen wollen, kann das nur durch die Errichtung eines föderalen europäischen Systems gelingen, das heißt durch Einsetzung einer europäischen Regierung, was die deutsche Übermacht beschränken würde. Deshalb ist es auch in unserem eigenen Interesse, diese Richtung einzuschlagen.

MS: Vielleicht können wir ein Gesamtbild der aktuellen Situation entwerfen, in der die sogenannte “Troika” im Zusammenhang mit den schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen vieler Länder eine derart wichtige Rolle spielt.

PVD: Das Bild von der “Troika” ist russischer Herkunft und meint drei Zugpferde, von denen das mittlere schneller läuft als die beiden anderen. Wir müssten also festlegen, welches nun dieses schnellere Pferd ist. Aber abgesehen von der “Troika”, glaube ich, dass die Regierungen einen schweren Fehler gemacht haben, als sie, vor allen anderen ökonomischen Fragen, den Abbau der Staatsverschuldung zur Priorität erklärten. Aus politischer Sicht ist das ein Fehler, denn damit rufen wir in Europa lediglich große Spannungen und eine enorme Distanz zwischen der öffentlichen Meinung und der Europäischen Union hervor. Aber meines Erachtens handelt es sich auch aus ökonomischer Sicht um einen Fehler, denn die Beschränkung auf den Schuldenabbau führt in unseren Ländern zur Rezession, und unter Voraussetzungen der Rezession wird der Schuldenabbau umso schwieriger. Auf diese Weise wird die wirtschaftliche Entwicklung natürlich behindert, die Steuereinnahmen verringern sich, das Bruttosozialprodukt wächst nicht, und umso schlechter lassen sich Maßnahmen ergreifen, um das Defizit und die Staatsverschuldung abzubauen. Diese Linie wird übrigens nicht allein von Deutschland vertreten. François Hollande hat im Wahlkampf davon gesprochen, dass er gegen den Fiskalpakt sei, aber kaum war er an der Macht, hat er darauf gedrängt, den Fiskalpakt umgehend zu ratifizieren. Und das ist, wie gesagt, ein Irrtum, denn gleichzeitig mit dem Schuldenabbau müssten auch die Mechanismen geschaffen werden, um das Wachstum anzukurbeln, da die in der EU vorhandenen Mechanismen völlig unzureichend sind. Diese beiden Dinge müssten ineinandergreifen, auch in Hinsicht auf Italien. Als die Regierung Monti ihr Amt antrat, hat sie den Maßnahmenkatalog “Salva Italia” (“Italien retten”), der sich vor allem dem Abbau der Verschuldung widmete, zur Priorität erhoben, und zum Teil ist ihr die Operation auch gelungen, selbst wenn unsere Schuldenlast weiterhin auf hohem Niveau bleibt. Aber wir haben das Defizit reduziert, und wenn man im Laufe der Zeit das Defizit reduziert, verringert sich schrittweise auch die Staatsverschuldung. Natürlich lässt sich die Schuldenlast abbauen, wenn man für Wachstum sorgt. Im Moment geht man davon aus, dass im Jahr 2013 das Bruttosozialprodukt um 0,6 Prozent zurückgehen wird. Nun wurde das zweite Gesetzespaket der Regierung Monti nach “Salva Italia” als “Wachstumspaket” bezeichnet, doch wenn man es genauer untersucht, findet man dort kaum Maßnahmen, die zum Wirtschaftswachstum beitragen. Wenn man will, dass Italien wächst, muss außerdem Europa wachsen. Und damit Europa wächst, braucht es wiederum die wirksamen Instrumente einer gemeinsamen Politik in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen et cetera.

MS: Halten Sie es nicht für ein wichtiges Zeichen, dass Mario Monti das Bedürfnis verspürt hat, zusammen mit der Europaabgeordneten Sylvie Goulard, ein Buch zu veröffentlichen (La democrazia in Europa), um seinen Zukunftsvorstellungen Ausdruck zu verleihen und die Notwendigkeit einer besonderen Rolle Italiens für Europa zu unterstreichen?

PVD: Ja, das wäre wirklich ganz interessant, wenn einige Aussagen dieses Buches in konkretes Regierungshandeln umgesetzt würden. Mario Monti kann diese Dinge nicht schreiben und einfach davon absehen, dass er Regierungschef ist. In diesem Buch sagt er Dinge, die meines Erachtens von der Presse nicht angemessen hervorgehoben wurden. Zum Beispiel, dass man die Integration der Euro-Länder entschieden vorantreiben müsse, während man die Nicht-Euro-Länder irgendwie außen vor lassen solle; er lanciert die Idee eines Sonderhaushalts der Länder innerhalb der Eurozone, unabhängig vom Haushalt der Europäischen Union insgesamt; ebenso die Idee eines eigenständigen Parlaments der Euro-Zonen-Länder oder einer eigenständigen Rolle innerhalb des Parlaments der 27. Das sind institutionell betrachtet explosive Vorschläge, und ich frage mich, inwieweit die in diesem Buch enthaltenen Ideen mit der Linie der italienischen Regierung übereinstimmen, ob sie sich mit den Positionen des italienischen Parlaments decken, und inwiefern sie auf den Tagungen des Europäischen Rates durch den Regierungschef vertreten wurden.

MS: Die Wahrnehmung Europas durch seine Bürger hängt jedoch von ihren derzeitigen Lebensbedingungen ab, von dem, was ihnen von der EU aufgezwungen wird, insbesondere einigen seiner Mitgliedstaaten. Insgesamt scheint sich der “Europäismus” in einer kritischen Phase zu befinden. Was die Italiener betrifft, kann man, glaube ich, sagen, dass ihr Zugehörigkeitsgefühl zu Europa unerschütterlich ist, auch aus den von Ihnen bereits benannten Gründen. Man muss sich ja nur an die “Eurosteuer” der Neunzigerjahre erinnern, die die Italiener ohne ein Wimpernzucken entrichtet haben. Doch die Lebensbedingungen spielen keine geringe Rolle, in Griechenland beispielsweise sind die extreme Rechte und der Anti-Europäismus erstarkt.

PVD: In der Tat. Ich glaube, dass wir in jedem unserer Länder auf diese Dimension besonders achten müssen, denn keines ist vor der Schwäche der Union gefeit. Nicht eines. Nicht einmal die Länder mit einer offensichtlich starken Wirtschaftsleistung, wie zum Beispiel Österreich. Auch diese Länder müssen auf der Hut sein, denn es besteht das Risiko, dass die Instabilität Europas Konsequenzen auch in ihrem Inneren haben könnte, und zwar nicht nur ökonomische. Wir sehen das in diesem Moment in Deutschland, wo die wirtschaftliche Krise keimt, also auch die Deutschen riskieren, die Konsequenzen der Finanzkrise zu erleiden, wie schon Griechenland, Spanien, teilweise Italien, Irland und Portugal. Aber nicht allein das: Wir haben auch ein Problem mit den Beziehungen zu den Nachbarländern der EU und ein starkes Interesse daran, dass der Erweiterungsprozess der Europäische Union um diese Nachbarländer, insbesondere die Balkanstaaten, unter den Voraussetzungen der Effektivität, Stabilität und demokratischen Entwicklung verläuft, etwa dem Kampf gegen die Korruption, der funktionierenden Justiz und Verwaltung. Das liegt vor allem im Interesse der an sie angrenzenden Länder. Diese Verhandlungen werden geführt, mit Kroatien wurden sie abgeschlossen, andere etwa mit Serbien, Montenegro, Bosnien und so weiter werden eröffnet, und gerade ein Land wie Österreich kann nicht ignorieren, dass sie von wesentlicher Bedeutung für es selbst sind. Doch gilt das auch für jene Staaten, die sich als Nettozahler betrachten und darauf dringen, dass der europäische Haushalt gesenkt wird. Wir brauchen europäische Ausgaben, um der Probleme auf europäischer Ebene Herr zu werden, zum Beispiel in der Frage erneuerbarer Energien, die alle Staaten angeht, der Forschung, der integrativen Gesellschaft, also in Hinsicht auf Einwanderer und Staatsbürgerschaft, der alle Länder plagenden Jugendarbeitslosigkeit. Es geht nicht an, bei den Beratungen um den EU-Haushalt die Muskeln spielen zu lassen nach dem Motto: Ich gebe viel, folglich muss ich auch viel bekommen. Das europäische Budget muss nicht zuletzt die Garantiefunktion der gemeinsamen Güter erfüllen, der common goods, und diese Garantie gilt für alle, auch für jene, die offensichtlich mehr einzahlen. Ich erwarte mir, beispielsweise von der österreichischen Regierung – auch wenn bald Wahlen anstehen, wir werden sehen, wie sie ausgehen -, der immerhin ein sozialdemokratischer Kanzler vorsteht, mehr Offenheit gegenüber der Thematik eines solidarischeren Europa, als man sie bei einer konservativen Regierungspartei voraussetzen kann.

MS: 2014 finden die Wahlen zum Europaparlament statt. Wie werden sie, vor dem Hintergrund der europäischen Wirtschaftskrise, die als Zwang oder Bestrafung empfunden wird, ausgehen? Glauben Sie, dass der Euroskeptizismus zunehmen wird?

PVD: Na ja, wie schon Giulio Amato sagt: “In verkappter Form kann Europa nicht vorankommen.” Meiner Meinung nach ist es Pflicht der Parteien, die mehr Europa wollen, den Bürgern vor den Wahlen zu erklären, dass und warum dieses Mehr an Europa in ihrem Interesse liegt, und dass Populismus und Euroskeptizismus deshalb zunehmen, weil Europa bisher nicht imstande war, auf ihre Probleme die richtigen Antworten zu geben, Probleme, die auf nationaler Ebene nicht beantwortet werden können. Die Wahlen sollten eine Gelegenheit sein, um diese große Debatte über Europas Zukunft zu führen, und zwar zwischen jenen Ländern und politischen Kräften, die weniger Europa verlangen und zu den Nationalstaaten zurückkehren wollen – auch in Italien gibt es diese Kräfte, die eine Rückkehr zur Lira oder gar eine Abspaltung fordern -, und denen, die für eine stärkere europäische Integration plädieren. Diese Auseinandersetzung muss geführt werden. Zur Zeit können wir drei wesentliche politische Gruppen erkennen: Da sind die Unbeweglichen, die weder einen europäischen Fortschritt noch Rückschritt wollen; dann der große Sumpf jener Kräfte, die noch keine klare Position vertreten, wie zum Beispiel im italienischen “Manifest für die Dritte Republik” unter der Federführung des Ferrari-Chefs Montezemolo, wo es sehr allgemein heißt, man brauche mehr Europa, ohne dass gesagt wird, wie; und schließlich die Erneuerer. Die Kontroverse wird zwischen den Unbeweglichen und den Erneuerern mit dieser großen Gruppe Unentschiedener geführt werden. Denn wer einen wesentlichen Teil der Unentschiedenen auf seine Seite ziehen kann, der wird am Ende erfolgreich sein. Und wir, die Bürger, dürfen bei der Auseinandersetzung nicht tatenlos zusehen, wir müssen unsere Position festlegen und uns entscheiden, ob wir eher den Unbeweglichen zuneigen oder den Erneuerern, immer nach Maßgabe der Frage, was wir mit der einen oder der anderen Gruppe gewinnen können. Die Wahlen von 2014 werden in gewisser Weise “verfassungsgebend” sein, wie auch die nächste Legislaturperiode, in der sich entscheiden wird, ob in Europa die Unbeweglichkeit oder die Erneuerung siegt.

Published 16 May 2013
Original in Italian
Translated by Jan Koneffke
First published by Wespennest 164 (2013) (German version); Eurozine

Contributed by Wespennest © Pier Virgilio Dastoli / Wespennest / Eurozine

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