Heimsuchung

2004

So ein Schlüssel hat nicht viel Gewicht. Aber trotzdem kommt es mir jetzt, da ich ihn plötzlich in den Händen halte, so vor, als sei alles, was er nicht aufschliesst, sehr weit aussen, und alles, was er aufschliesst, ganz tief innen. Die meisten Leute sterben zwischen vier und sechs Uhr früh, je nach Jahreszeit, immer am Morgen, wenn die Vögel gerade anfangen zu singen. Warum ich aufgewacht bin, kurz nach fünf, und angefangen habe, alte Schubladen aufzuziehen, weiss ich nicht. Erst jetzt, da ich den Schlüssel plötzlich in den Händen halte, weiss ich, dass ich wieder geträumt habe. Dass ich wieder geträumt habe, dass ich handle. Mit den Nächsten. Feilsche. Die Nächsten, das sind die, die nach mir kommen werden. Die Nächsten sind die, die alle anderen identischen Schlüssel in ihren Schubladen haben. Zum Inneren. Denen ich vor einigen Wochen meine Schlüssel übergeben musste, weil sie die Nächsten sind. Nur den einen Schlüssel, der jetzt so beiläufig in meiner Hand liegt, der nicht viel wiegt, genauso wenig wie die anderen identischen Schlüssel, die fort sind, nur den einen habe ich bei mir vergessen, weil ich ihn zu gut kenne. Weil er so selbstverständlich da in der Schublade liegt, seit ich in die Stadt gezogen bin. Zeiss Ikon, daran baumelt ein Fisch aus Messing. Das Messing zerbeult, schwarz angelaufen und mit einem kleinen eckigen Loch. Seit ich in die Stadt gezogen bin. Der Handel ging, wie immer zwischen vier und sechs, je nach Jahreszeit, schlecht aus. Mit den Buchstaben, die in die Lehnen der Stühle geschnitzt waren, begann nun einmal weder mein Name, noch der meines Mannes, noch der meiner Eltern. Meine Eltern, ich selbst und mein Mann haben die ledernen Kissen, die auf den Stühlen des Hauses lagen, unser Leben lang blankgesessen, aber die Buchstaben, mit denen die Lehnen bezeichnet waren, blieben uns stumm. Leider baut die Geschichte auf Lücken, immer um eins versetzt, damit es hält.

1937 bis 2004

Das Haus hat ein Strohdach, die Fenster sind klein und mit eckigen Butzenscheiben verglast, alles Licht, das ins Haus fällt, ist deshalb grünlich oder gelblich, quadratweise sogar rot oder blau. Das Haus hat eine Terrasse mit Blick zum See und einen kleinen Balkon, der mit Feldsteinen angesetzt ist, auf dem Gitter des Balkons sitzt ein eisernes Vögelchen angeschmiedet und singt. Dieses Haus ist 1937 in Deutschland gebaut. Der Architekt hat es für sich und seine Familie entworfen. Zum Grund gehörten bisher die Parzellen 17, 18 und die kleine Parzelle 19/1, die beiden letzteren direkt am Wasser. Die Parzellen 17 und 18 hat der Architekt von einer Frau aus dem Dorf erworben, diese werden jetzt vom “Amt für offene Vermögensfragen” gemäss dem Beschluss “Rückgabe vor Entschädigung” – an seine Erben zurückerstattet. Die kleine Parzelle 19/1 gehörte bis 1936 einem Tuchfabrikanten aus einer benachbarten Stadt. Er hatte sie 1929 anlässlich der Geburt seiner Tochter gekauft. Von 1936 an war sie im Besitz des Architekten und gehörte zum Grundstück. Sie verlängerte das zum Grundstück gehörende Ufer um etwa dreissig Meter.

24 000 v.Chr. bis 16 000 v.Chr.

Bis zum Felsmassiv, das inzwischen nur noch als sanfter Hügel oberhalb des Hauses zu sehen ist, schob sich vor ungefähr vierundzwanzigtausend Jahren das Eis vor. Durch den ungeheuren Druck, den das Eis ausübte, waren auf dem Weg dorthin Eichen und Haselbüsche zerknickt und niedergemalmt worden, Teile des Felsmassivs waren gesprengt, zersplittert, zerrieben worden, Biber, Wildschwein und Säbelzahntiger in südlichere Gegenden vertrieben. Über das Felsmassiv hinweg drang das Eis nicht. Dann wurde es nach und nach still, und das Eis begann seine Arbeit, den Schlaf. Während es über Jahrtausende hinweg seinen riesigen kalten Körper nur zentimeterweise herumschob, ausstreckte oder zusammenzog, wurden die Felsbrocken, die unter ihm eingequetscht waren, allmählich rund. In wärmeren Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten schmolz das Wasser an der Oberfläche des Eisblocks ein wenig und glitt an Stellen, an denen der Sand unter dem Eis leicht fortzuspülen war, unter den schweren riesigen Leib. So trat das Eis, wo eine Erhebung sein Vorankommen hinderte, als Wasser sich selbst unterlaufend, den Rückweg an und floss bergab. In kälteren Jahren war das Eis einfach nur da, lag und war schwer. Und wo es, schmelzend, in wärmeren Jahren Rinnen unter sich in den Boden gegraben hatte, da presste es in den kälteren Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten sein Eis mit aller Macht wieder hinein, um sie zu verschliessen.

1987

Sie erinnert sich noch genau an den feuchten Geruch nach Sand und nassen Blättern, wenn es zu regnen begann. Selbst jetzt noch, bald achtzigjährig, lange verwitwet, denkt sie beinahe bei jedem Regen an den Wald gegenüber vom Haus und den Sand auf dem Weg. An dem Tag, an dem ihr Mann, der damals noch anderwärts verheiratet war, sie zum ersten Mal an den See führte, regnete es. Damals war noch nicht einmal die Baugrube ausgehoben. Nur Landschaft war da, der von Eichen und Haselbüschen bestandene, sanft abfallende Hügel bis hin zum Ufer, Gras war da, in feuchten Büscheln, und eine kleine Weide direkt am Wasser. Auch der See hatte bei Regen einen anderen Geruch, und wenn die Sonne später wieder zum Vorschein kam, stieg von seiner Oberfläche Dampf auf. Während sie an diesem Tag mit ihrem späteren Mann zum ersten Mal am Ufer des Sees stand, hatte der Regen allmählich aufgehört, die Sonne war zum Vorschein gekommen und der See hatte zu dampfen begonnen. Viele Tage in vielen Jahren war sie später bei solchen Wetterumschlägen auf den Steg hinuntergegangen, um auf den vom Nebel verwischten See zu blicken. Dann konnte man, selbst wenn ein Ruderboot nur wenige Meter vom Steg entfernt vorüberglitt, die Gesichter der Bootsleute nicht erkennen. Sie weiss noch heute, bald achtzigjährig, lange verwitwet, wie sie sich als junge Frau beim ersten Besuch dieses Grundstücks angesichts des über dem See schwebenden Nebels nichts mehr auf der Welt gewünscht hatte, als dass mit dem Kauf dieses Grundstücks so gründlich wie durch ein Vergessen alles ausgelöscht würde, was sie im Laufe der letzten zwei Jahre hatte erdulden müssen. Dieser letzten zwei Jahre, seit sie und ihr späterer Mann, dessen Assistentin sie war, nicht anders hatten können, als sich ihre Liebe zu erklären. An diesem Tag, am Ufer des vom Nebel verwischten Sees, hatte er, zu der Zeit noch anderwärts verheiratet, ihr das Haus, für das damals noch nicht einmal die Baugrube ausgehoben war, und den Grund rings um dieses noch ungebaute Haus zum Geschenk gemacht. Brautgeschenk hatte er dazu gesagt. Jetzt, bald achtzigjährig, lange verwitwet, wartet sie mehr als jemals darauf, noch einmal auf diesem Steg zu stehen. Vielleicht würde eines der Boote sie dann endlich übersetzen ans andere Ufer. Jetzt, achtzigjährig, weiss sie, dass ihr eigenes Warten bald aufhören wird und dass das Warten ihrer Erben – der Neffen, Nichten und Patenkinder – ein anderes Warten sein wird.

2004

Zwölf Jahre steht das Haus jetzt leer. Über zwölf Jahre habe ich auf eine Entscheidung des Amtes gewartet. Mit den Buchstaben, die in die Lehnen der Stühle geschnitzt waren, begann weder mein Name, noch der meines Mannes, noch der meiner Eltern. Früher oder später haben fast alle Nachbarn ihre Häuser einfach stehen lassen. Unter Klagen verwandelt sich so ein Haus wieder in etwas Fremdes. Offene Fragen. Das Warten auf die Antwort ist teuer. Inzwischen stehen um den See herum fast alle Häuser grau und verwaist, mit verwitternden Dächern, und warten, jedes für sich allein. Verkaufen darf man ein Haus nicht, solange keine Entscheidung gefällt ist. Aber ein Dach zu erhalten kostet Geld. Die Zeit, die einer braucht, um sich das Bleiben abzugewöhnen, ist viel billiger in den Städten.

Früher oder später sind fast alle Nachbarn in die Städte gezogen. Irgendwann trifft der Bescheid ein. Dann übergibt man nur noch die Schlüssel. Die jüdische Erbschaft geht über die russische. Die russische über die der Nazis. Die der Nazis aber über die der sozialistischen Republik. Rückgabe vor Entschädigung. So heisst das Gesetz.

1952

Den Krieg hat das Haus überstanden, denkt der Hausherr, während er einiges von den Vasen und dem kostbaren Geschirr, das er aus den Doppelfenstern genommen hat, an verschiedenen Stellen des Gartens vergräbt. Kein Haus war sicherer als dieses vor den Toren Berlins. Damals, am Ende des Krieges. Von Zeit zu Zeit richtet er sich auf und blickt durch die kahlen Äste der Bäume hinunter auf den glitzernden See. Von hier aus hatte er am 20. April den Widerschein des Bombenangriffs auf Berlin betrachtet wie einen Sonnenuntergang, der die ganze Nacht andauerte. Auch damals, kurz bevor die Russen kamen, war er allein hier gewesen und hatte das Zeug eingegraben, während dieser besonders prächtige Angriff die Geburtsnacht des Führers illuminierte. Aber damals konnte er schon knappe drei Monate später alles wieder ausgraben und an seinen Platz zurückstellen. Das Haus lag vor den Toren Berlins. Kein Ort sicherer. Damals. Die Russen hatten sich bei ihrer Einquartierung das Leder aus der Rückwand hinter der Bank geschnitten, sich daraus ein paar neue Stiefel geschustert und waren dann, so schnell es ging, mit den neuen Stiefeln ins zerbombte Berlin hineinmarschiert. Beim Eingraben denkt man immer ans Ausgraben, und deshalb weiss er immer weniger, warum er buddelt. Es sei denn, es wird einer unter die Erde gebracht, der tot ist. Die Nägel. Die Nägel hat er im Westen gekauft, um im Osten zu bauen. Das ist strafbar. Normfalle heisst so etwas. Ein bewegliches Gesetz. Handhabbar. Gestern, am Freitag, war er vorgeladen worden. Übers Wochenende verhaften wir keinen, hatte es geheissen. An seiner Person als solcher liegt dem Frieden nichts. Übers Wochenende verhaften wir keinen, hatte der Anwalt gesagt, und ihm selbst die Tür aufgehalten. Der Frieden frisst Bauernhöfe, Hotels, Fleischereien, Metallbetriebe oder Bauunternehmen wie seines. Der Frieden verleibt all das dem ganzen Volk ein. Direkt. Von der Hand in den Mund. Ohne den Umweg übers Geld. Das Volk besteht nicht mehr aus einzelnen, es besteht jetzt, in diesem Frieden, aus allen. Wenn der Frieden fressen will, frisst er gründlicher als der Krieg. Weil er mehr Zeit hat.

2004

Jetzt, nach zwölf Jahren, halte ich zum ersten Mal wieder den kleinen, leichten, abgegriffenen Schlüssel in der Hand, Zeiss Ikon, mit dem Fischchen aus Messing, das daran hängt. Vor einigen Wochen ist mit der Post das Papier eingetroffen, auf das ich gewartet habe, und ich habe die anderen Schlüssel übergeben. Nach zwölf Jahren habe ich die Verhandlung in Wirklichkeit verloren. Und weil die Geschichte oft länger dauert als ein Menschenleben, haben der Eigentümer und auch seine Frau, als deren Nachfolgerin ich nun abgesetzt bin, das Zeitliche inzwischen gesegnet, sind also die Nächsten ihre Erben – Neffen, Nichten und Patenkinder, verstreut in alle Welt, die das Haus werden verkaufen müssen, um so ihr Erbe anzutreten. Eigentümlich. Wäre das Haus von den Russen enteignet worden, hätte ich bleiben können. So ist das Gesetz. Aber sie haben sich nur Stiefel gemacht. Die Russen. Aus dem Leder, mit dem die Wand hinter den Polstern der Lehne bespannt war. Und dann sind sie wieder abgezogen. Vor zwei Tagen wurde die Kaufsumme, die meine Eltern für das Haus bezahlt haben, an mich zurücküberwiesen. Halbiert für den Umtauschkurs von Ost nach West.

16 000 v.Chr.

Als der Gletscher vor etwa sechzehntausend Jahren seine Zungen wieder einzog, vom Hügel herunterrutschte, der jetzt noch immer oberhalb des Hauses zu sehen ist, und den Rückweg nach Norden antrat, blieb in den Rinnen, durch die das Schmelzwasser sich in den wärmeren Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten unter ihm einen Ausweg in tiefergelegene Landstriche gegraben hatte und in die später, in den kälteren Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten, sich das Eis von oben wieder hineingepresst hatte, Eis übrig. Der Gletscher hinterliess so am Fusse des Hügels Teile von sich, Pfänder seines Rückzugs in kältere Gefilde, er liess in den Rinnen Stücke von sich zurück, schnitt sie von sich ab, Inseln von Eis, verwaistes Eis, Toteis wurde es später genannt.

2004

So, wie das Haus jetzt aussieht, wird es nicht leicht sein, es gegen Geld einzutauschen. So, wie es jetzt aussieht, wird jemandem, der genug Geld hat, sehr wahrscheinlich einfallen, es abzureissen und einen Neubau zum Beispiel mit weissen Säulen an seine Stelle zu setzen. Der Grund, ja. Jemand wird vor dem Haus stehen und sagen, es sei ganz egal, welches Haus auf dem Grund stehe, denn der Grund könne, selbst ohne die 19/1, nicht besser sein. Der andere, der mit ihm vor dem Haus steht, wird zum See hinunterschauen, wird sehen, wie das Wasser im Abendlicht glänzt, und nicken. Mit gutem Grund. Ein Haus sei immer nur ein paar Wände um Luft, wird jemand sagen. Was für Wände, das sei egal, wird jemand sagen. Und wird für diesen und noch ein paar andere Sätze, die er sagt, zwischen 4,64 und 7 Prozent Provision bekommen. Von dem anderen, der nickt, während er sich zuletzt noch einmal kurz zu meinem angeschimmelten Heim umwendet. Zum ersten Mal weiss ich, wie klein der Platz aussehen wird, auf dem es jetzt steht, wenn es fort ist.

1952

Der Grund könnte nicht besser sein, hatte er schon damals gewusst, als er zum ersten Mal die zum Verkauf stehenden Parzellen abgeschritten war: 17, 18 und durch glückliche Fügung dann auch die 19/1, die den Uferstreifen immerhin um circa dreissig Meter verlängerte. Der von Eichen und Haselbüschen bestandene, sanft abfallende Hügel, unten dann Gras, in feuchten Büscheln, und eine kleine Weide direkt am Wasser. Für solche Dinge hatte er immer schon einen Blick gehabt. Noch bevor der Kaufvertrag für den Grund unterschrieben oder gar die Baugrube ausgehoben war, hatte er mit seinem inneren Auge das Haus sehen können. Heimat planen, das hatte er damals für möglich gehalten, nachdem er und seine spätere zweite Frau, die zu der Zeit noch seine Assistentin war, nicht anders hatten können, als sich ihre Liebe zu erklären. Plötzlich war ihm das privateste zugleich als das am weitesten ausgreifende Ziel erschienen: einen Raum zu bauen und in den Raum dann die Zeit hineinzulenken. Er selbst hatte die Zeichnungen angefertigt für die bunt verglasten Fenster und versenkbaren Kurbeln zum Schliessen der Läden von innen, für die gewundene Treppe und den Einbau der Schübe, hatte Entscheidungen getroffen über Handläufe, Grösse der Türen, Holzarten, Täfelungen und Farbe der Steine, hatte schliesslich seine und seiner zweiten Frau Initialen eigenhändig in die Lehnen der Stühle geschnitzt und ganz zuletzt auf dem Balkongitter des Zimmers, welches für die Kinder vorgesehen war, die sie sich wünschten, das kleine Vögelchen anschmieden lassen. Sein handwerkliches Geschick und vor allem sein Blick für Masse war das, womit er in den besten Jahren seines Lebens und bis vor einigen Tagen auch jetzt noch, nach dem Krieg, in der sozialistischen Republik, sein Geld verdient hatte. Dieser Blick war von jeher sein Arbeitsinstrument gewesen – das sichere äussere, aber vor allem das innere Auge, das sieht, bevor etwas zu sehen ist. Aber nun gräbt er heute, am Sonnabend, seine paar Sachen ein, und fährt morgen, am Sonntag, über die Grenze, um, wie er vermutet, nie mehr zurückzukehren. Seine Frau wartet dort schon auf ihn, in West-Berlin. Erst jetzt wird ihm klar, dass bei jedem Bau schon während der Planung das Bewohnen, eben weil es aus Fleisch und aus Zeit ist, sein Eigenleben beginnt, sein unbeherrschbares, unvorhersehbares, fremdes Leben, das sich nur zufällig über längere oder kürzere Zeit mit den Absichten des Architekten deckt und dadurch die Täuschung, der sich ein Architekt von Berufs wegen hingeben will, nur noch vollkommener macht. Bevor die Sonne ganz hinter den See gerutscht ist, vergräbt er noch einen letzten silbernen Krug, ohne zu wissen, wessen Hände den Krug eines Tages wieder heraufholen werden und die schwarze Erde von ihm abwaschen.

2004

An der Vorderfront des Hauses flattert schon das faltige, wetterfeste Tuch, auf dem geschrieben steht: Haus zu verkaufen. Und eine Telefonnummer. Weiss auf dunkelblau. Die rechte Ecke ist mit Bindfaden an dem kleinen Balkon befestigt, auf dem Gitter des Balkons sitzt ein eisernes Vögelchen angeschmiedet und singt. Der linke Bindfaden ist um einen Nagel geschlungen, den einer in den hölzernen Rahmen des Strohdachs geschlagen hat. Das Tuch reisst an den Leinen. Manchmal schlägt es um, schlägt sich selbst vor das weiss beschriebene Gesicht und lässt sich dann wieder sinken. Es wird langsam Winter. Die hintere Eingangstür schleift, als ich sie öffne, noch immer über den steinernen Boden. Die Stühle, die ich bei meinem Abschied vor zwölf Jahren kopfüber auf den Tisch gestellt habe, zeigen noch immer mit den Beinen nach oben wie steifgefrorene Tiere. Die Treppe ist staubig, der Belag aus Kork an den Stössen von Feuchtigkeit aufgewellt. Als ich die Balkontür öffne, bleibt mir der Griff in der Hand. Die schräge Decke unter dem Dach bröckelt an einigen Stellen, teilweise ist der Putz schon herabgestürzt und liegt in Haufen am Boden, nach dem Putz ist das Stroh, mit dem das Dach gedeckt ist, durch die Löcher nach innen gefallen, herrenloser Durchzug hat es in den Zimmern verteilt, so erinnert das Haus jetzt ein wenig an einen Stall. Die Vorhänge sind nur noch an einigen Stellen in den Schienen befestigt, der Rest der Stoffe hängt schief herunter und schlägt Falten im Staub. Wenn es einen Kanon gibt, nach dessen Regeln Verfall stattfindet, dann singen ihn diese Vorhänge, während sie sich an sich selber erhängen.

1934

Das kleine Mädchen sieht zu, wie ihr Vater das Loch aushebt. Die Erde ist schwarz und feucht. Eines Tages, sagt der Vater zu seiner Tochter, wenn du gross bist und die Weide ihren Kopf schon längst übers Wasser beugt und mit ihren Haaren die Fische kitzelt, wirst du daran denken, dass du dabei warst, als ich sie gepflanzt habe. Der Vater des Mädchens, Tuchfabrikant in einer benachbarten Stadt, hat anlässlich der Geburt seiner Tochter dieses kleine Uferstück gekauft. Damit du, auch wenn du eine alte Frau sein wirst, immer einen Platz hast, an dem du die Beine ins Wasser baumeln lassen kannst. Er nimmt jetzt den schlanken Stamm vom Boden auf, stellt ihn in das Loch und sagt: Halt mal. Die Tochter balanciert vom Rande des Lochs aus und hält mit beiden Händen das Bäumchen. Der Vater schaufelt die Erde ringsherum zurück in das Loch. Warum schauen alle so gern aufs Wasser? fragt ihn seine Tochter. Ich weiss nicht, sagt der Vater. Vielleicht, weil über einem See immer so viel leerer Himmel ist. Weil jeder gern einmal nichts sieht. Du kannst schon loslassen, sagt er. Stimmt das, fragt die Tochter, dass im See Berge sind? Berge, die man nur sehen kann, wenn man ins Wasser hinabtaucht. Ja, sagt der Vater. Dann wäre Schwimmen so ähnlich wie Fliegen. Ja, sagt der Vater. Es kommt einfach nur darauf an, was einer oben nennt oder unten. Wenn du schwimmen gelernt hast, sagt der Vater, kaufe ich dir ein Boot, und vom Boot aus kannst du ins Wasser schauen und die Fische beim Fliegen beobachten. Und selber fliegen. Auch selber fliegen, sagt der Vater. Komm, hilf mir, sagt er. Beide treten die Erde um den Stamm herum fest. Mit einem Paar grosser und einem Paar kleiner Schuhe. Wie heissen die Berge, die tief unten im Wasser sind? fragt die Tochter den Vater. Der Vater zählt auf: Gurkenberg und Schwarzes Horn, Keperling und Hoffte und Nackliger und Bulzenberg und Mindachs Berg. Nackliger, sagt das Mädchen, lacht und geht jetzt näher zum Ufer hin, es greift ins Gras, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und hält erst die Sohle des einen Schuhs, dann die des anderen auf die Oberfläche des Wassers, um die schwarze Erde von ihnen abzuwaschen.Pass auf, dass du deine Füsse nicht nass machst, sagt der Vater. Er sagt, hier, schöpf mal lieber, und hält seiner Tochter eine blecherne Giesskanne hin. Sie kniet und schöpft und begiesst mit dem Wasser die frisch eingepflanzte Weide. Dann hält sie inne, blickt auf den glitzernden See und sagt: Jetzt geht die Sonne schon unter. Auch wenn du eine alte Frau bist, sagt der Vater, wirst du dich noch hier ans Ufer setzen, um zu sehen, wie die Sonne hinter den See rutscht. Warum? fragt das Mädchen. Weil jeder die Sonne gern so lange wie möglich sieht, sagt der Vater. Ein Jahr später kommt das Mädchen in die Schule. Zwei Jahre später werden sie und ihre Mutter, während der Vater bei der Strafarbeit ist, aus der Wohnung geholt, zusammen mit anderen in einen Viehwaggon gesperrt und nach Warschau gebracht. Der Vater erhält noch zwei Briefe. Gartenstr. 27, Saal 3. Dann nichts mehr. Dann ist der Himmel ganz und gar leer. 1938 gelingt ihm die Flucht nach Südafrika.

15 000 v.Chr. bis 10 000 v.Chr.

Erst viel später gelang es der Sonne, das Eis, das in den Rinnen eingequetscht war und inzwischen von Sand verschüttet, zu tauen. Das Eis schmolz und wurde Wasser, wurde erst Sumpf, dann Lache, schmolz weiter zur Pfütze, zum Tümpel, zum Teich, schmolz und schmolz, wurde schliesslich zu See, schmolz, zu einem tiefen See, und der Sand, von dem es teils mehr, teils weniger verschüttet gewesen war, sank auf den Grund dieses Gewässers. So bildeten sich an manchen Stellen unterseeische Berge, an anderen Stellen blieb das Wasser so tief, wie die Rinne ursprünglich einmal gewesen war. Und weil der Gletscher, zu dem das Eis, das jetzt See war, einmal gehört hatte, längst bis zu den grossen Meeren zurückgeglitten war und sich aufgelöst hatte, blieb der See dort, wo er war, mitten im märkischen Sand, zwischen Kiefern, Eichen und Haselbüschen, blieb als inzwischen riesiger See in seiner Rinne stehen, die an manchen Stelle tiefer, an anderen flacher war, und bekam erst viel, viel später, als es irgendwann Menschen gab, von diesen Menschen den Namen “Märkisches Meer”. Auch in der Sahara hat es einmal Wasser gegeben. Erst in der Neuzeit trat das ein, was man in der Wissenschaft als Desertifikation bezeichnet, zu deutsch Verwüstung.

Published 19 June 2006
Original in German
First published by du 5/2006

Contributed by Du © Jenny Erpenbeck / du / Eurozine

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