Die Tellerwäscherin

Madonna träumte wie Millionen von Mädchen schon immer davon, ein Star zu werden. Sie wurde es, weil sie davon überzeugt war, dass man dies in Amerika aus eigener Willenskraft und mit der Bereitschaft, sich brutal zu schinden, ebenwerden kann.

Sie war eine der schönsten Frauen, die je auf amerikanischem Boden zur Welt kamen. Sie war ein bisschen mehr als nur schön. Sie besass jenes spezielle Etwas, das Menschen befähigt, ein Star zu werden. Im Alter von zwanzig Jahren wurde sie in New York buchstäblich auf der Strasse entdeckt, einem Gerücht zufolge von keinem Geringeren als dem grossen Zeitschriftenverleger Condé Nast. Er riss sie auf der Fifth Avenue im letzten Moment vom Kotflügel eines Autos weg, sah sich die verträumte unbekannte junge Dame genauer an und war sofort überzeugt. Ein paar Monate später erschien ihr grossflächiges, elegisches Gesicht mit den klassisch geformten Lippen, den grossen Augen und der geraden Nase zum ersten Mal auf dem Cover von “Vogue”, und die Karriere von Lee Miller, geboren 1907 im Staat New York, bewegte sich rasant nach oben.

Ihr Leben, ihre Tätigkeiten, ihre Interessen haben mit denen einer fünf Jahrzehnte später in der Nähe von Detroit geborenen, ebenfalls spektakulär attraktiven Italoamerikanerin namens Madonna Louise Veronica Ciccone nichts zu tun; fast nichts. Denn eine Gemeinsamkeit gibt es doch. Die Laufbahn der beiden Frauen, die der Neuen Welt entstammen und von ihr geprägt wurden, folgt dem Modell des Selfmaking, dem Herzstück amerikanischer Erfolgs- und Aufstiegsideologie. Der männliche Prototyp dieser Ideologie ist bekanntlich der Tellerwäscher, der zum Millionär wird, weil er ehrgeizig, fleissig, zielstrebig und geschickt ist. Der Selfmademan ist nicht festgelegt, das ist sein Erfolgsrezept. Er entwirft sich nach den Etappen seiner Aufstiegsgeschichte und ihren Erfordernissen. Aus einem Gangster kann ein Gentleman werden und umgekehrt. Aus einem Mittelschichtskind, das einer trüben Vorstadt im US-Staat Michigan und einer Familie mit sechs Kindern entstammt, wird der grösste weibliche Popstar aller Zeiten: Madonna. So einfach ist das, war es zumindest in den Prosperitätsphasen der amerikanischen Geschichte.

Was Energie, unerbittliche persönliche Power betrifft, ist die Selfmadewoman dem Selfmademan ebenbürtig. Sie wartet nicht, bis die Welt ihr Chancen bietet. Sie schafft sich ihre Chancen selbst und attackiert die Welt mit ihren Wünschen und Zielen. Madonna wurde ein Weltstar, weil sie (wie Millionen anderer Mädchen auch) von ihrer frühen Jugend an davon träumte, ein Weltstar zu werden, und es für sie zwischen diesem Traum und seiner Realisierbarkeit keine Kluft gab. Sie wurde ein Weltstar, weil sie davon überzeugt war, dass man dies in Amerika aus eigener Willenskraft und mit der Bereitschaft, sich brutal zu schinden, eben werden kann. Weil sie die durch und durch pragmatische Philosophie des American Dream als individuelles Lebensprinzip auf sich anwandte und es mit dem aktuellen Gedanken gut weiblicher Emanzipation verschränkte.

Vergleicht man die Phänomenologie des männlichen mit dem des weiblichen Selfmaking, zeigt sich allerdings ein entscheidender Unterschied. Der Rollenwechsel des Selfmademan, der nicht mehr Teller wäscht, sondern Teller waschen lässt, ist eine Technik der Anpassung. Der beständige, ihr Publikum seit fast drei Jahrzehnten bannende Rollenwechsel einer Selfmadewoman wie Madonna ist mehr als das. Er ist der Schlüssel ihres künstlerischen Erfolges. Das Programm des amerikanischen Selfmaking ist im zugespitzten Fall von Madonna wörtlich zu verstehen. Sie hat nicht nur kraft eines Superegos ihre Erfolgsgeschichte entworfen. Sie entwirft von Hit zu Hit, von Tournee zu Tournee einen neuen Look und eine neue Identität.

Vom “Material Girl” über die Marilyn-Monroe-Imitation bis zur englischen Oberschichtsdame und zur Kabbala-Gläubigen ist es ein ziemlich weiter, aber im Sinn der vagantischen Identität der Selfmadewoman ein ziemlich logischer Weg. Ausser ihrer Power benötigt die Selfmadewoman dreierlei: einen fantasievollen Friseur, einen Kleiderschrank von der Grösse eines Einfamilienhauses und ein Ich von äusserster Flexibilität. Madonna besitzt es. Ihre Generationsgenossin Hillary Clinton besitzt es. Und auch Lee Miller besass es.

Nach ein paar Jahren hatte letztere die Mode- und Schönheitsbranche in New York satt. Sie ging nach Rom, studierte ein bisschen Kunstgeschichte. Als sie hörte, dass der massgebliche Fotokünstler ihrer Zeit der in Paris lebende Man Ray sei, beschloss sie, ohne ihn zu kennen, seine Assistentin zu werden. Sie stöberte ihn in seinem Stammcafé am Montparnasse auf und stellte sich ihm mit den Worten vor: “Ich bin Lee Miller, ich arbeite jetzt bei Ihnen im Atelier.” Für mehrere Jahre war sie Man Rays Lehrling, Modell, Muse und Geliebte, bis sie diese Epoche ihrer Biografie für beendet hielt und in der nächsten ein gänzlich anderes Dasein in der Rolle einer verwöhnten, von Langeweile angekränkelten Gattin eines ägyptischen Milliardärs in Kairo führte. Der Variantenreichtum ihrer Persönlichkeit war damit noch lange nicht erschöpft. Noch vor der Kairo-Ehe hatte sie in der Fotografie die Seiten gewechselt, arbeitete nicht mehr vor, sondern hinter der Kamera. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie amerikanische Kriegsreporterin. Die Bilder, die sie in Uniform zeigen, ausgezehrt, erschöpft, mit verschlammten Stiefeln hinter der Front, haben mit den Bildern des Cover-Girls der “Vogue” und den verfremdeten Bildern, die Man Ray von ihrem Gesicht und ihrem Körper aufnahm, so wenig zu tun, als handele es sich um zwei vollkommen verschiedene Geschöpfe. Im Jahr 1945 dokumentierte Lee Miller die Befreiung des KZ Dachau, bis heute berühmt ist sie dank der Selbstporträts, die sie von sich, in Hitlers Münchner Badewanne sitzend, aufnahm. Als Reporterin hatte sie zu schreiben begonnen, und es hätte nahegelegen, den Weg einer in Europa wie in Amerika gefragten Korrespondentin fortzusetzen.

Es hätte – so darf man vermuten – vermutlich für einen Mann nahegelegen. Lee Miller machte eine 180-Grad-Wendung. Sie legte die Fotokamera aus der Hand, vergass und vernachlässigte ihr gesamtes fotografisches Werk, bis ihr Sohn es lange nach ihrem Tod durch Zufall entdeckte. Sie begann, noch einmal, ein völlig neues Leben mit einer überraschenden Leidenschaft: dem Kochen. Sie lebte mit ihrem englischen Ehemann auf einem englischen Landsitz und widmete ihre gesamte Kreativität dem Erfinden und Testen von Koch- und Backrezepten. Sie nahm, nun schon weit hinter der Lebensmitte, an Kochwettbewerben teil. Das verblüffendste der vielen Bilder, die es von Lee Miller gibt, ist jenes, das sie in einem Kittel neben einem grossen Kühlschrank zeigt, den sie als Gewinnerin eines Kochwettbewerbes bekommen hatte. Das Verblüffendste an ihrer Biografie ist deren karnevaleskes Element.

Wer ein Fotoalbum mit hundert Bildern von Madonna durchblättert, sieht hundert verschiedene Frauen, Hundert verschiedene optische Entwürfe. Die mediterrane Wilde mit dunkler Lockenmähne. Das Disco-Girl mit bauchfreiem Oberteil. Die mit Metallschmuck überfüllte Punklady. Die urbane Glamouröse mit Riesensonnenbrille und Netzhandschuhen. Die Fromme mit weizenblonden braven Locken und leicht aufwärts gerichtetem Blick. Die Obszöne, die mit geöffnetem Mund ihr Hinterteil einem schwarzen muskulösen Sänger entgegenstreckt. Die Strassengöre mit kleinem Käppi auf dem Hinterkopf und Kaugummiblase. Die platinblonde Femme fatale, die sich in weisser Seidenbettwäsche kalt und verführerisch räkelt. Die muskulöse Fitness-Workerin im modischen Sportdress. Die Androgyne im Nadelstreifenanzug mit Cigarillo. Den Clown mit Popbrille und Kunstweintrauben auf dem runden Hütchen.

Madonna hat das weibliche Selfmaking der Identität zum Karneval und diesen zur Kunst erhoben. Zwei Dinge kamen ihr dabei entgegen: die Erfindung des Video-Clips in den achtziger Jahren und der Zeitgeist der achtziger Jahre selbst, das Jahrzehnt ihrer ersten und entscheidenden Erfolge. Elvis Presley hat den Optimismus der fünfziger Jahre ausgedrückt, die Beatles die Zweifel der sechziger. Die Sex Pistols überrannten die trübe Beschaulichkeit der siebziger und feierten die Revolution des Punks. Madonna dagegen verkörpert das Bild der achtziger Jahre, der Jahre des individuellen Erfolgs, der ungebremsten persönlichen Kraft.

Madonna besass ein Maximum an Energie und wollte maximalen Erfolg. Dies aber sind Signale, die nach wie vor eher Männlichkeit, männliches Verhalten, männliche Eigenschaften assoziieren. Daraus ergab sich für Madonna ein Rollenproblem. Sie löste es mit der gleichen Strategie, mit der es jene zeitgenössische Amerikanerin löste, deren Macht- und Erfolgsstreben dem Madonnas ebenbürtig sein dürfte, Hillary Rodham Clinton. Auch sie ist: eine personifizierte amerikanische Selfmadewoman. Auch sie interpretierte das biografische Modell vagantischer Weiblichkeit, das Frauen wie Lee Miller in ihrer sprunghaften Kreativität vorlebten; als Popversion, die bei der ehemaligen First Lady der Vereinigten Staaten selbstredend um einiges seriöser aussieht als bei Madonna. Pop ist es dennoch. Politisierter Pop sozusagen.

Momentan befindet sich Hillary Rodham Clinton im Wahlkampf um die demokratische Präsidentschaftskandidatur. Wenn sie gewinnt, hat sie gute Chancen, die mächtigste Frau der Welt, die erste weibliche Präsidentin Amerikas zu werden. Auf dem Weg nach ganz oben hat sie nicht nur ebenso oft wie Madonna ihre Frisur, ihren Stil, ihr Image verändert, sie hat je nach Position ihre Rollen und ihr Rollenverhalten angepasst. Was sich indes nie – auch darin gleicht sie Madonna – geändert hat, ist ihre eiserne Disziplin und ihre kompensationsfähige Härte. Sie wollte von Kindheit an “mit den Jungs mitspielen” und sie verfolgte dieses Ziel, indem sie die Flexibilität ihrer weiblichen Erscheinung perfektionierte. Hillary Clinton war in jeder Phase ihrer Laufbahn zu hundert Prozent die Frau, die diese Phase ihr abverlangte. Sie war eine der erfolgreichsten Rechtsanwältinnen Amerikas, sie war Gouverneursgattin mit bravem Haarreif und provinziellen Kostümen, sie stand als Wahlkämpferin im Schatten ihres Mannes. Sie war politisch aktive First Lady und zog sich in Clintons zweiter Amtszeit seinem Prestige zuliebe aus der Politik zurück. Sie ist der Welt als betrogene und weise verzeihende Ehefrau bekannt, als einschüchternde Generalin und als Autorin sentimentaler Tierbücher. Als Hausfrau mit Schürze, die im Weissen Haus Weihnachtsgebäck in den Backofen schiebt, und als kühle Analytikerin mit messerscharfem Verstand. Und wie bei Madonna haftet dieser multiplen Weiblichkeit etwas durchgehend Strategisches, etwas seltsam soldatisch Unpersönliches an. Hillary Rodham Clinton nennt sich selbst: “Herrin meiner Gefühle”.

Im Jahr 2000 ging sie nach New York. Sie wurde mit einer Stimmenmehrheit von 55 Prozent zur Senatorin des Bundesstaates New York gewählt, im Jahr 2008 möchte sie mit einem mindestens so guten Wahlergebnis Präsidentin der Vereinigten Staaten werden. Aber sie hat ein Handicap: Ihre Beliebtheit ist mässig. Es ist weniger ein Mangel an natürlichem Charme, den ihre Landsleute ihr verübeln, denn ein Mangel an Natürlichkeit. Sie gilt als perfekte Anpassungsmaschine, als “Frau ohne Eigenschaften”.

Dies ist die fatale Kehrseite des Konzepts der Selfmadewoman: Indem sie ihrer Identität beständig neue optische Entwürfe abverlangt, entleert sie ihre Persönlichkeit. Erfolgsstrateginnen wie Rodham Clinton und Madonna verlieren in dem Masse an einzigartigem, eigensinnigem Charakter, wie sich ihr Erfolgstrategischer Weiblichkeitsmaskierung verdankt. Sie haben sich an ein Konzept gefesselt, das ihnen nicht erlaubt, sich festzulegen. Was auch heisst: sie selbst zu sein.

Seit drei Jahrzehnten mobilisiert Madonna mit ihrer Aufmachung weltweites Interesse. Welcher weibliche Star konnte das – ausser der Prinzessin von Wales – je von sich sagen? Der Popkarneval von Madonnas äusserlichem Selfmaking ist das Geheimnis – vielleicht aber auch das Verhängnis – des langlebigen Erfolges einer Frau, die fast fünfzig Jahre alt ist. Madonnas Stimme wird nicht besser werden, als sie je war. Ihre erotische Ausstrahlungskraft hat den Zenit überschritten, die physische Kraft ihrer Performance ebenso. Aber mit ihren Outfits kann sie noch einige Zeit für Spannung und Überraschung sorgen. Denn die Interpretationsfähigkeit ihrer jeweiligen Erscheinung ist ein unerschöpfliches Potenzial. Bei ihren Welttourneen zog sich Madonna bis zu zehnmal um pro Konzert. Der Glamour, den sie dabei an den Tag legt, ist nur scheinbar exzentrisch und spielerisch. Er ist auch nicht bohèmehaft. Er ist eine Art plebejischer Glamour, dem man ansieht und ansehen soll, dass er hart erarbeitet wurde. Glamour aus den Trainingseinheiten von Power Yoga, Jogging, Fitness-Studio und aus dem demokratischen Geist der Selbstmodellierung. Madonnas Botschaft lautet nicht: Ich bin die Queen. Sondern: Ich habe mich zur Queen hochgearbeitet. Ich hab’s geschafft. Startum ist machbar. Es ist die Botschaft einer Nation, in der es nie Blutadel und Monarchie, nie das monarchische Prinzip statischer Repräsentanz gab, sondern das Prinzip dynamischer offener Biografien.

Der moderne weibliche Megastar ist so gesehen ein Paradox: eine antiroyalistische Königin. Die Queen of Pop ist die Königin der Inszenierung multipler Weiblichkeit. Sie wechselte, bei aller Macht, aller Dominanz und allem Reichtum, nie in die Rollenfächer der Männlichkeit. Sie eroberte sich den Status männlicher Souveränität, indem sie Weiblichkeit als Rollenensemble auslegte. Madonnas Vorschlag an den Feminismus lautet: Lasst euch nicht definieren! Eine endgültig definierte Frau stösst schnell an die Grenzen ihrer Macht. Eine Tellerwäscherin wird nur dann zur Millionärin, wenn sie auf dem Weg dorthin jederzeit unberechenbar bleibt. In dieser Botschaft aber liegen unerhörte Freiheit und massive Unfreiheit direkt nebeneinander. Der Ruhm, den Madonna sich auf dem Laufsteg ihrer Kostüme erobert hat, erlaubt ihr nicht, diesen Laufsteg zu verlassen. Ihre Künstlerschaft ist gebunden an ein öffentliches Leben als Model. Und wie kann sie als Künstlerin überleben, wenn ihre natürliche Modelzeit ausläuft und die Rollen entwürfe des Selfmaking sich verdünnen?

Published 23 May 2007
Original in German

© Ursula März / du / Eurozine

PDF/PRINT

Published in

Share article

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Related Articles

Cover for: Cold War past and present

Cold War past and present

NAQD 41–42 (2023)

Beyond spheres of influence: Cold War histories across four continents, including the bloc confrontation’s origins in Iran and the persistence of anti-communism in Brazil. Also: future scenarios for the Sino-American conflict.

Cover for: The old man scores some points

The faith in American unanimity that Joe Biden expressed in this year’s State of the Union speech sounded genuine. But how realistic is it in a country dominated by social fragmentation and a flood of alternative realities?

Discussion