New York, 11. September 2001: Unsägliches und Unsagbares

Um überhaupt gehört zu werden mussten sich die Intellektuellen in ihren Aussagen nach dem 11. September in einem ungewöhnlich engen Kreis von Sagbarem bewegen. Die Kulturindustrie verlangte diesmal Zurückhaltung. Kathy Laster und Heinz Steinert dokumentieren mögliche Interpretationen der Geschehnisse, die in dieser Konstellation von Kulturindustrie-Imperativen keine Chance hatten: 7 Tabus und 4 Clichés.

Auszüge aus dem Tagebuch eines zufällig Reisenden

Dienstag, 11. 9.:
Ich war gerade mit der Bewältigung meiner Morgen-Katastrophe – dem Entfernen einer Kakerlake aus der Küche – beschäftigt, da wurde mein Mozart-Klavierkonzert von einem viel zu lauten Flugzeug über dem Haus und dann einer Explosion übertönt. Ich denke, ich bin hier im falschen Film: Es gibt keinen Mozart in Kriegsfilmen. Aber diese Leute führen sich auf, als wären sie in einem Film oder einem Computerspiel. Nur wenn man auf den Washington Square hinaustritt, ist das Bild aus dem Katastrophenfilm immer noch da …

Die Normen für richtiges Benehmen in einer solchen Situation sind nicht ganz klar: Die erforderliche Standard-Haltung scheint “ernsthafte Betroffenheit” zu sein. Frauen dürfen auch ein wenig weinen. Die Verrichtungen des Alltags können oder sollen sogar ausgesetzt werden, so dass es den Leuten möglich ist, draußen zusammenzulaufen, sich um Fahrzeuge zu sammeln, aus deren Radio man die Nachrichten hören kann, ziellos herumzuwandern, sich Gruppen anzuschließen, in denen das Ereignis diskutiert wird (davon gibt es nur ein paar, die meisten sind einfach still, gelegentlich hört man Wörter wie “schrecklich”, öfter “unglaublich”, “unwirklich”, “surreal”. Der Verkehr in der 5th Avenue steht praktisch still, die wenigen Autos, die noch mit der üblichen lauten Musik aus den Lautsprechern vorbeifahren, wirken beleidigend, natürlich sieht man viele Leute in ihre Telefone sprechen. Die üblichen Verrückten am Washington Square, die jetzt etwas vom Zorn Gottes predigen und davon, dass der Gott der Weißen mit ihrem Volk noch nie besonderes Mitleid hatte, werden jetzt ausgebuht und zum Schweigen gebracht. Man hört da durchaus zornige Stimmen. Die Norm scheint doch einigermaßen klar zu sein: Betroffenheit, Ernst, Unterbrechen der Alltagsaktivitäten, Kontakt mit Angehörigen und Freunden. Es handelt sich um eine Tragödie.

Die Gespräche, die man mithören kann, fallen in zwei Kategorien: die erste ist “Katastrophen-Maximierung” – die ganze Stadt brennt ab, das Ende der großen Reiche, alle gehen irgendwann unter, jetzt ist Amerika dran, New York wird nie wieder sein was es war, das ist ein nicht deklarierter Krieg. Die andere Kategorie ist “Rettungsfantasien”: Gruppen von, natürlich, Männern rund um einen Experten, der etwas von Panik und Kaltblütigkeit versteht und von den notwendigen Maßnahmen … Sonntag, 16. 9.:
Spaziergang durch das verlassene Fest des San Gennaro in der menschenleeren Mulberry Street – Kellner stehen herum und diskutieren, ob sie gleich schließen sollen oder erst später, es ist nicht schwer, durch die Absperrung an der Canal Street zu kommen, von der Höhe der Reade Street hat man einen direkten Blick auf den Schuttberg, und jetzt das Financial Center (mit überraschend wenigen zerbrochenen Fensterscheiben). Manche Cafés haben Tische draußen, auch wenn es kaum Kunden gibt. Wir spielen “normal”, es gibt nicht mehr viel zu sagen, also bauen wir wieder Alltäglichkeit auf. Es hilft, dass die Sonne scheint und ein wenig wärmt. An der Canal Street werden T-Shirts verkauft mit dem Text: “Attack on America – I Can’t Believe I Got Out”. Die Bedürfnisse der Touristen werden bedient, die zu Hause eine aufregende Geschichte zu erzählen haben wollen … Sonntag, 23. 9.:
In einer Pressekonferenz wurde Giuliani gefragt, wozu man eigentlich beten solle. Er holte zu einer großen Rede aus und schwärmte von der Notwendigkeit, dass jetzt niemand allein bleiben solle, von der Gemeinsamkeit, die jetzt deutlich werde, und dass das Gebet diese Sicherheit vermittle: man sei verbunden mit Tausenden, nein, Millionen, die mit uns fühlen …

Ich habe heute einen Mann im Park interviewt, der mir erzählte, dass an dem Unglück vielleicht auch etwas Gutes sei, weil wir jetzt erfahren, was wir gemeinsam haben … Freitag, 28. 9.:
Es wird immer unmöglicher, im Park Interviews zu führen. Die New Yorker haben zu ihrer alten Haltung von Misstrauen und Ablehnung und “belästige mich nicht mit deinen Problemen” zurückgefunden. “Nein, ich brauche jetzt Ruhe und Frieden” war noch die freundlichste Verweigerung, die ich bekam. Die große Euphorie des “United We Stand” ist vorbei, auch die Zahl der Fahnen an den Autos und besonders an der Kleidung ist deutlich zurückgegangen. Im Washington Square Park gibt es die Aufschrift “New York – Toughest City on Earth”, und da ist was dran. Die Blumen und Plakate rund um den Arch sind abgeräumt worden. Zwei aufgeregte Wochen sind genug. Zurück zu den Geschäften des Alltags.

Das Gewicht des Konsens

Konsens erzeugt rasch Rechtgläubigkeit und Orthodoxie bringt Häresie hervor. Nach dem 11. September herrschten zunächst Verwirrung und Aufregung. Aber bald (überraschend schnell) wichen diese komplexen Gefühle dem inzwischen bekannten Erklärungsmuster: Es handelt sich um eine monumentale und einzigartige Tragödie, etwas auch nur annähernd Vergleichbares hat es noch nie gegeben, eine Kriegshandlung aus heiterem Himmel, gegen die USA, wenn nicht die ganze zivilisierte, jedenfalls die westliche Welt, von muslimischen Terroristen verübt, die grausam und rücksichtslos sind, intolerant und unterdrückerisch, insbesondere gegen Frauen, die uns und unsere Lebensweise hassen, und die alles daransetzen, um der ganzen Welt ihre fundamentalistische und fanatische Religiosität aufzuzwingen. Aber die USA werden militärisch, wirtschaftlich, politisch und menschlich triumphieren. Der feige, hinterhältige Überfall dieser Barbaren kann, so lautete der Slogan, “unseren Mut nicht brechen” (“not defeat our spirit”). Es wurden die üblichen Intellektuellen von der Presse dazu gebracht, in den ihnen zugestandenen höchstens 200 Wörtern die tiefe Krise zu kommentieren. Bevor die Intellektuellen-Prominenz auch nur zum Reden ansetzen konnte, war freilich der Rahmen des Denkbaren schon sehr eng gezogen worden. Es gab diesmal keinen Spielraum für “originelle” Meinungen und ungewöhnliche Interpretationen. Das Gewicht der öffentlichen Meinung hielt nicht nur oppositionelle, sondern schon einfach “andere” Meinungen sicher nieder. Um überhaupt gehört zu werden, mussten sich die Intellektuellen – mehr oder weniger elegant – in einem ungewöhnlich engen Kreis von überhaupt Sagbarem bewegen. Die Imperative der Kulturindustrie verlangten diesmal Zurückhaltung, nicht wie üblich Sensationelles, Originalität und unterhaltende Abweichung.

Im Folgenden dokumentieren wir mögliche Interpretationen der Geschehnisse, die in dieser besonderen Konstellation von Kulturindustrie-Imperativen keine Chance hatten. Diese beruhen nicht (nur) auf unseren eigenen Reflexionen, sondern (auch) auf Gesprächen (und anderen Kommunikationsformen) in Europa, Australien und New York. Als Kommentatoren, Teilnehmer und Teil des globalen Publikums fühlen wir genauso die Ungehörigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit abweichender Interpretationen. Genau diese Beklemmungen und Befürchtungen eröffnen aber den Zugang zu den unsagbaren Denkmöglichkeiten.

Tabu 1: Verständnisverweigerung

Die erforderlichen korrekten Gefühle mussten in der Form ausgedrückt werden, dass man eine so ungeheuerliche Aktion, diese Art von Hass, einen solchen Fanatismus völlig unverstehbar fände. “Ich bin noch immer wie vor den Kopf geschlagen”; “ich bin immer noch sprachlos”; “es ist einfach überwältigend”. Natürlich kann das der authentische Ausdruck dafür sein, dass man nichts zu sagen hat. Sich mit dem Rest der Menschheit schweigend in der Trauer über einen immensen Verlust zu vereinen, könnte ein Zeichen von Respekt und Demut sein. Aber diese Beteuerungen von Verständnislosigkeit verschieben das Ereignis zugleich in einen Bereich des mysteriös Heiligen: was man zu Recht nicht versteht. Wir wurden von dem Ereignis nicht einfach überrascht – wie zum Beispiel vom Fall der Berliner Mauer – oder hatten die Vorzeichen nicht genügend beachtet – wie etwa auch der Geheimdienst CIA -, sondern das Ereignis ist zu groß, als dass der bescheidene Menschenverstand es ausloten könnte: Lasset uns beten.

Zugleich machen wir damit aus den Terroristen Monster. Es ist einfach nicht möglich, sich auch nur entfernt vorzustellen, was in den Köpfen dieser Fanatiker vorgeht. Natürlich können sie keine für uns nachvollziehbaren politischen Gründe haben. Und unsere ganze Psychologie lässt uns im Stich, wenn wir uns andere Motive für eine so ungeheuerliche Tat ausdenken wollten. Diese Leute sind völlig anders als wir. Es hat gar keinen Zweck, sie als Menschen zu behandeln.

Tabu 2: Die Macht der Bilder

Manhattan ist wahrscheinlich die meistzerstörte Stadt der Filmgeschichte. Die Übeltäter sind gewöhnlich Außerirdische, ein wild gewordenes urzeitliches Ungeheuer oder ein Meteor samt Überflutung. Mohamed Atta und seine Männer haben diese Ikonographie der Zerstörung erweitert. Das unerhörte Bild der beiden erst brennenden, dann einstürzenden Türme wurde gleich mit dem Eindrucksvollsten verglichen, das die Profis in Hollywood zustande bringen und uns wiederholt vorgeführt haben. Diese Gruppe von Männern hat den Vorrat der Menschheit an bedeutungsvollen historischen Bildern um ein herausragendes Exemplar erweitert. Sie haben ihre Organisation und ihren Sprecher bin Laden und damit den mittleren Osten ganz oben auf die Tagesordnung der Weltpolitik gesetzt.

Es gehört zum Geschäft von Terroristen, starke und bedrohliche Bilder in die Öffentlichkeit zu setzen. Die Macht des Bildes, das sie schaffen, begründet ihren Anspruch darauf, als politische Akteure ernst genommen zu werden. Die Anführer von Terrorgruppen, heute Terror-Netzwerken, haben eines gemeinsam: Sie benehmen sich, als wären sie von der gleichen Gewichtigkeit wie der Präsident der Vereinigten Staaten, auch wenn sie aus einer schäbigen Vorstadtwohnung oder einem Zelt in einer trostlosen Wüste heraus agieren. Sie haben weder die Machtmittel noch die Legitimität von Akteuren der Weltpolitik, aber sie erreichen dieselbe öffentliche Beachtung zumindest für kurze Zeit, vielleicht sogar für eine ganze Phase. Terroristen erzwingen politische Beachtung rein durch die Besetzung der Öffentlichkeit. Legitime politische Akteure haben Macht und können deshalb öffentliche Aufmerksamkeit verlangen. Terroristen haben diese Macht nicht, sondern erzwingen Sendezeit durch Mord und Zerstörung. Sie (und wir) vertauschen das Symptom (öffentliche Aufmerksamkeit) mit seiner Grundlage (politische Beachtlichkeit). Mohamed Attas Verbrechen bestand auch darin, der legitimen, gewöhnlichen Politik die Show zu stehlen. Terrorismus ist das mediengerechte Verbrechen.

Tabu 3: Ästhetische Fragen

Keine Panik: 1938 wurde Orson Welles mit einem Hörspiel “Invasion vom Mars” berühmt. Es löste unter den Hörern, die damals das Radio noch als eine Darstellung von wirklicher Wirklichkeit verstanden, eine Panik aus. Heute wissen wir so gut Bescheid über die Manipulationen aller Medien, dass wir nichts mehr ernst nehmen können, was uns von ihnen vorgeführt wird. Nicht einmal die Augenzeugen in Lower Manhattan wollten ihren Wahrnehmungen trauen. Bezeichnungen wie “surreal” oder “wie im Kino” konnte man am Washington Square öfter hören. Im Fernsehen wies die dauernde Wiederholung der Szene des Zusammenbruchs unmissverständlich auf eine Hollywood-Inszenierung hin. “Das kann nicht wahr sein. Das habe ich doch schon im Kino gesehen.”

Diese Ungläubigkeit konnte Folgen haben. Wer unterhalb der getroffenen Stockwerke in aller Disziplin die Türme verließ, glaubte offenbar nicht an die Möglichkeit eines Einsturzes. Nicht einmal die Experten der Feuerwehr, die jene über 300 Männer zu Rettungsaktionen hineinschickten, rechneten damit. “Das ist doch eine Kino-Fantasie.”

Beim Sterben zusehen: Es hat auch ein paar Tage gedauert, bevor allen bewusst wurde, dass die Bilder, die in Endlos-Schleifen in alle Wohnzimmer geliefert wurden, mehr waren als aufregende Bebilderungen der Nachrichten. Die dramatischen Szenen des Einschlags der Flugzeuge, von Flammen und Rauch, dann des Einsturzes, die dauernd wiederholt wurden, enthielten und verbargen den Tod mehrerer tausend Menschen.

Die Kunst der Zerstörung: Der deutsche Komponist Karlheinz Stockhausen war töricht genug, öffentlich Bewunderung und Neid über dieses effektvolle Kunstwerk, vor dem alle Künstler versagen, auszudrücken. Er wurde für diese Übertretung des “politisch Korrekten” hinreichend geprügelt. Bedenklicher ist das Verständnis von Kunst, das sich in diesem Ausspruch zeigt: Kunst soll offenbar ihr Publikum überrumpeln und überwältigen und ihm das Thema aufzwingen, das der Künstler vorgibt. (Mir ist jetzt klarer, warum mir Stockhausens Musik oft auf die Nerven geht.)

De mortuis …: Seit dem 11. September ist es fast unmöglich zu sagen, was davor vielen auffiel: dass die Türme vielleicht technische Wunderwerke, aber städtebaulich protzig, aufdringlich und schlicht hässlich waren.

Cliché 1: United we stand

Die große Gemeinsamkeit: Während der ersten zwei Wochen nach dem 11. September konnte man in New York einen veränderten Habitus beobachten: Die Leute suchten Kontakt, sie wollten reden, sie wollten Gemeinsamkeit spüren. Sie waren völlig angerührt davon, dass es sogar Äußerungen der Sympathie für sie von westlich des Hudson gab – weit westlich des Hudson.

In Australien sah man plötzlich allenthalben amerikanische Fahnen auf Halbmast (woher die große Zahl so schnell kam, ist ungeklärt). Vor dem Konsulat der USA war der Gehsteig mit Blumen, Kerzen und Karten bedeckt.

In England wurde das Programm des populären und im TV übertragenen Konzerts “Last Night of the Proms” geändert: Das London Philharmonic Orchestra spielte “Star-Spangled Banner” noch vor “God Save the Queen” und schloss das Konzert nicht wie üblich mit “Pomp and Circumstance”, in dem das Publikum begeistert “Rule Britannia” und “Land of Hope and Glory” mitsingt. Stattdessen gab es die “Ode an die Freude” aus Beethovens Neunter. In der ganzen westlichen Welt brach sich ein solcher Geist von Solidarität und Mitgefühl Bahn. Er wurde als globale Gemeinsamkeit gefeiert. Der Verlust, den New York erlitten hatte, wurde von der ganzen Welt geteilt.

Im Interview hat es ein langjähriger New Yorker, der trotzdem seine griechische Staatsbürgerschaft behalten hatte, so gesagt: “Sie haben der ganzen Welt den Krieg erklärt. Das hier ist nicht Amerika, das ist New York, das ist anders, das besteht aus allen Kulturen, das haben wir aufgebaut, die Afrikaner, die Südamerikaner, die Europäer, die Leute aus Asien, aus Australien und aus Nordamerika, die alle haben diese Stadt geschaffen, die der ganzen Welt gehört – und deshalb wurde die ganze Welt verletzt.”

Dabeisein ist alles: Es fiel allen auf, dass man die meisten amerikanischen Flaggen in den Fenstern der Geschäfte sah, deren Inhaber eine etwas dunklere Hautfarbe hatten. Trotzdem war das nicht nur eine Vorsichtsmaßnahme oder die Darstellung von Zugehörigkeit, die Neuankömmlingen besonders abverlangt wird. In dieser Einwandererstadt drückt sich so auch die tief gefühlte Verbundenheit mit dem selbst gewählten Ort aus, der noch dazu, wie viele sagen, “gut zu mir war”.

Sogar in Australien, am anderen Ende der Welt, lag Rachsucht in der Luft. Australien meldete sofort seine Teilnahme an dem richtig benannten Krieg (gegen den Terrorismus) an: 1.000 Soldaten, Schiffe – eine Menge für ein kleines Land -, und es gab keine Zweifel daran, dass man Onkel Sam zu Hilfe eilen müsse. Eine geplante Protestdemonstration vor dem amerikanischen Konsulat wegen einer anderen wichtigen Angelegenheit, die bezeichnenderweise schon vergessen ist, wurde hastig abgesagt. Alles vergeben und vergessen, Kameraden und Verbündete.

Es war dringend nötig, jemanden in Grund und Boden zu bomben – irgendjemanden. Der Irak war ein starker Anwärter, “auch wenn sie es nicht selbst getan haben – sie brauchen dringend wieder eine Lehre”. In Australien standen Wahlen an und alle wissen, dass noch nie eine Regierung während eines Kriegszustands abgewählt wurde. Die liberal-konservative Koalition, die eigentlich schon aufgegeben gewesen war, nützte die Situation nach Kräften. Es wurde alles getan, um Australien zu einem Teil des internationalen Feldzugs zu machen. Dazu musste das Land auch gefährdet sein. Es wurde “herausgefunden”, dass Australien Nummer 4 auf der Liste der Ziele der Terroristen war – nach den USA, Großbritannien und Kanada. Journalisten brachten einen Sprecher der Taliban zu der Aussage, “ein Freund der USA kann nicht unser Freund sein”. Das reichte, damit auch Australien sich sicher gefährdet und im Bund mit den USA fühlen konnte. Die Regierung schickte Truppen und Schiffe und versprach noch mehr. Die Rechnung ging auf: Die Regierung wurde gegen alle früheren Umfragewerte sogar mit einer vergrößerten Mehrheit im Amt bestätigt.

Australien und der gesamte Westen (nicht zuletzt die Deutschen) waren ganz leicht davon zu überzeugen, dass man an diesem Krieg teilnehmen muss. Die Ausgangslage eines Kriegsfilms war perfekt gegeben: Der heimtückische Feind greift überraschend an. Die Guten sammeln sich nach dem ersten Schock, schlagen zurück und siegen ehrenvoll. Ein anderes Ende gibt es nicht. Für ein gutes Drehbuch war die Geschichte sogar eher zu eindimensional: Die Guten waren nicht an Zahl und Bewaffnung unterlegen und in einer verzweifelten Lage. Es zeichnete sich keine Notwendigkeit für eine kleine, verschworene Kommandogruppe ab, einen weit überlegenen Gegner zu unterlaufen und zu überlisten. Kein verbissener Kampf weniger gegen einen grausamen und machtvollen Feind war vorherzusehen. Die ganze Welt gegen das Regime eines kleinen, kriegszerstörten Landes – das war der massivste denkbare Overkill.

Tabu 4: Gerechte Kriege

Terroraktionen haben eine starke Komponente von “Symbolismus”. Sie verbreiten eine “Botschaft”. Aber 3.000 umzubringen, zwei der höchsten Gebäude der Welt zu fällen und einen wichtigen Teil einer Weltstadt und ein Zentrum der Weltwirtschaft lahm zu legen, ist ein ziemlich barbarischer “Symbolismus”. Hier kommt eine zweite Dimension ins Spiel: Der Krieger beweist Kühnheit und taktische Überlegenheit, indem er enormen Schaden anrichtet und den Gegner in Angst und Schrecken versetzt. Deshalb muss von der anderen Seite diese Untat als besonders “feige” dargestellt werden. Deshalb mussten auch die New Yorker so schnell wie möglich zu ihrem normalen Leben zurückfinden und unbeeindruckt bleiben. Darin bewies sich New York tatsächlich als die “toughest city on earth”.

Susan Sontag hat dieses Skript missverstanden. Ihr simpler semantischer Hinweis war, dass man, um einen Selbstmord-Flug zu starten vielleicht ein besonderer Übeltäter sein, vielleicht auch die Realitätskontrolle verloren haben müsse, dass man dafür aber sicher nicht “feige” sein dürfe. Dieser Kommentar erzürnte die Öffentlichkeit – er wurde als Unterstützung des Feindes verstanden. “Feige” war es genau, was diese Erben des Überfalls auf Pearl Harbor sein mussten. Legitim gewalttätig sein kann nur der Staat – nach entsprechender Ankündigung und im Idealfall, obwohl real sehr selten, nach einer formellen Kriegserklärung. In der Öffentlichkeit musste dieser Feind einerseits genial (wie sonst hätte er es geschafft?), andererseits verrückt (warum sonst hätte er es gewollt?), er durfte aber ganz bestimmt nicht “tapfer” sein. Mohamed Atta und seine Männer handelten wie Soldaten: Sie erfüllten ihren Auftrag und taten, was getan werden musste. Seit dem bin Laden-Video vom Dezember 2001 wissen wir auch, dass einige von ihnen auch so uninformiert über ihre Mission und ihr mögliches Überleben dabei waren, wie es Soldaten häufig sind. Soldaten haben keine Erklärung für ihre Aktionen und sie hinterlassen keine Abschiedsbriefe. Als ordentliche Soldaten überließen auch diese das Reden und die Politik den dafür Berufenen.

Trotzdem wird ihre Aktion von den Adressaten verstanden. Die wahrscheinlichste Annahme ist, dass sie zwei verschiedene Adressaten hatte: einerseits die Weltöffentlichkeit, versteht sich, aber daneben eine enger umschriebene Gruppe von Kämpfern, die vor allem vom Erfolg der Aktion und der enormen Zerstörung beeindruckt sein würden. In ihrer Organisation und darüber hinaus wurden diese zwanzig Kämpfer zu Berühmtheiten. Der Status von al Qaeda und ihrem Sprecher wurde dadurch im mittleren Osten sicher enorm angehoben. Die Forderung dieser Leute nach Unterstützung ist in ihren Kreisen bestimmt unabweisbar geworden. Die Bedeutung des spektakulären und brutalen Mafia-Verbrechens ist bekannt: Es macht klar, dass man mit dieser Bande besser die Geschäfte macht, die sie einem anträgt. Dass die Regierung der USA mit einem Versuch reagierte, die Geldgeschäfte und -ströme zu blockieren, nimmt diese Logik auf und ist ihr angemessen.

Tabu 5: Die Opfer und Helden sind “Durchschnitts-Amerikaner”

Das kollektive Opfer der Untat sind New York und die Vereinigten Staaten, aber individuell wurden insbesondere die Opfer aus den unteren Schichten hervorgehoben: gesprochen wurde vom Personal des Restaurants im obersten Stockwerk, von den Fensterputzern und anderem Reinigungspersonal, von den Handwerkern und den Sekretärinnen, die in den Türmen ihre ganz normale Arbeit getan hatten. Sie wurden die “wirklichen” Opfer, so wie die über 300 Feuerwehrleute, die erschlagen wurden, die “wirklichen” Helden sind. Es ist “Durchschnitts-Amerika”, das im Kollaps der Türme tapfer kämpfend umgekommen ist.

Öffentlich wurde alles getan, um dieses Unglück nicht als besonderen Verlust der Reichen und der Oberschicht erscheinen zu lassen. Es gibt aber Material, an dem man die Berufspositionen der Getöteten auszählen kann: Die New York Times veröffentlichte bis Ende 2001 täglich ein bis zwei Seiten kurzer, aber recherchierter (nicht von Angehörigen eingesandter) Nachrufe, insgesamt über 1.800 (also von fast zwei Dritteln der zuletzt etwa 2.900 Opfer). Danach kann es keinen Zweifel an der Klassendimension dieser Tragödie geben: Hochgerechnet sind am 11. September 1.500 bis 2.000 Personen aus dem Finanz-Establishment New Yorks zu Tode gekommen, darunter viele aus Spitzenpositionen, viele im besten Schwung ihrer Karriere. (Aus der Altersverteilung ergibt sich die große Zahl der Waisen.) Verwaltungspersonal macht einen viel geringeren Anteil aus, noch geringer ist die Proportion des Sicherheitspersonals (inklusive Feuerwehrleute), am geringsten (unter 10%) ist der Anteil der Personen in Handarbeiter-Tätigkeiten. (Die Anteile ändern sich übrigens zwischen den einzelnen Berichtsmonaten nicht entscheidend und ohne wahrnehmbare Tendenz.)

Im Tod verliert die Klassenposition an Bedeutung. Die Trauer ist immer die um einen Menschen, der geliebt wurde – ob arm oder reich. Aber öffentlich herrscht hier einige Selbsttäuschung und Verleugnung über die Größe des Verlusts für die Finanzwelt.

In Amerika und New York war man nie übertrieben zurückhaltend im Feiern von großem Geld. In den letzten zwanzig Jahren haben die Helden der Finanzgeschäfte Reichtum, Status und Berühmtheit gewonnen. Großzügige Lebensführung ebenso wie die beruflichen Kämpfe, ihre Risikobereitschaft und der plötzliche Reichtum haben diese kühnen Männer (und zunehmend auch Frauen) zu Figuren der öffentlichen Fantasieproduktion gemacht. Es ist in der Zeit sogar ein neues Film-Genre, der Banker-Film, entstanden. ( Trading Places – John Landis, 1983, Wall Street – Oliver Stone, 1987, und Bonfire of the Vanities – Brian de Palma, 1990, sind die Klassiker des Genres als Komödie, Abenteuer und Satire.) Man hätte also erwarten können, dass der Tod einer großen Zahl dieser Helden Anlass wenigstens für die Art von bewundernder Aufmerksamkeit geworden wäre, die das Leben und Sterben der Reichen und Schönen allgemein erfährt. Stattdessen hat sich die öffentliche Trauer auf die “gewöhnlichen Leute” konzentriert. Die Nachrufe in der New York Times spielen auch inhaltlich alle Privilegien dieser Leute herunter. Sie erscheinen als Freunde, Eheleute, Mütter und Väter, Töchter und Söhne, Personen mit Hobbies und ehrenamtlichen Engagements, mit ihren liebenswerten Eigenheiten, Privatleute, deren 18-Stunden-Arbeitstag kaum erwähnt wird. Das kann natürlich der Poetik des Nachrufs geschuldet sein, für den noch dazu meist die engsten Angehörigen Auskunftspersonen sind. Im Tod sind sie alle gleich – sogar in den USA. Oder kann das Beschweigen der Klassenposition einen anderen Grund haben?

Tabu 6: Ost-Krieger – West-Krieger

Das Verständnis für Lebensweise und Tugenden von Kriegern ist uns nicht ganz verschlossen. Auch wenn das Wesen von Kapitalismus friedlicher Austausch ist, so besteht doch das, was Männer beschäftigt und unterhält, fast ausschließlich aus dem Erproben, Erwerben und Üben von kriegerischen Attributen und Fähigkeiten. In Sport, Spielen, Zurichtung der Körper und modischer Ausstattung pflegen und bewundern wir kämpferische Eigenschaften in allen Arten von Männlichkeits-Konkurrenzen (vgl. Laster und Steinert zum militärischen Hintergrund der olympischen Sportarten in Wespennest Nr. 121). Die wirklich riskanten Tätigkeiten sind in der bürgerlichen Gesellschaft der Unterschicht-Männlichkeit vorbehalten – unter verlässlicher Disziplin und Führung, versteht sich. Sogar heute, wo angeblich eine “Wissens-Ökonomie” dominiert, ist Konkurrenz und Männlichkeit (und männliche Konkurrenzfähigkeit) ein Komplex, mit dem wir uns alle herumschlagen müssen.

Im Finanzsektor wurde dieses Krieger-Ideal ziemlich offen gepflegt und verstärkt. Die Helden der Marktwirtschaft der 80er/90er Jahre – so wurde uns beigebracht – haben ihr Geld in ungeheuer riskanten und komplizierten Null-Summen-Spielen gemacht. Sie mussten dafür hart und rücksichtslos sein, sie haben erobert und übernommen und die Beute aufgeteilt. Von Wall Street bis Pretty Woman (Garry Marshall, 1990) war der Finanz-Krieger der Held. (In dem Pretty Woman -Märchen bekehrt sich der Krieger unter dem Einfluss der richtigen Frau zuletzt zum patriarchalen Kapitalisten alten Stils, der für “seine Arbeiter” sorgt – aber sein Vermögen hat er anders gemacht.) Die Übernahmen, insbesondere der “feindlichen” Art, erlaubten es, Finanztransaktionen als hochdramatische Kämpfe darzustellen. Die Rolle des Finanz-Kämpfers wurde in den USA noch zwingender, als die Japaner sich zu engagieren begannen, für einige Zeit sogar das Rockefeller Center besaßen. Rising Sun (Philip Kaufman, 1993) reizt die Möglichkeiten für gute Unterhaltung aus, die man aus solchen nationalistischen Wirtschaftskriegen pressen kann.

Diese Klasse der Finanz-Krieger wurde vom Angriff der Terror-Krieger auf das WTC am empfindlichsten getroffen. Ihr Glanz war schon davor etwas verblasst, wie man zugeben muss. Der Zusammenbruch des “neuen Markts” ließ einige dieser Wunderkinder etwas älter aussehen. Das Bild von der gefährlichen “Blase”, die platzen würde, war nicht schön – und viele Leute hatten tatsächlich massiv Geld verloren oder zumindest das erhoffte große Geld nicht gemacht. Aber trotzdem war und blieb Wall Street das Zentrum der globalisierten Welt, blieben die Finanzjongleure die Verkörperung von erfolgreichem und zeitgemäßem Kapitalismus. Daher durfte der gewaltsame Tod einer großen Zahl von ihnen nicht als bedeutendes Ereignis erscheinen.

Hätte es einen zuständigen PR-Manager gegeben, wäre es sein pragmatisches Ziel gewesen, im Sinn der Schadensbegrenzung vor allem die empfindliche Welt der Finanzspekulation nicht weiter zu verunsichern. Statt die Klasse in Trauerzeremonien zu feiern, musste vielmehr alles getan werden, sie nicht als verletzbar erscheinen zu lassen. Der Schaden aus dem Einsturz ihres Zwillings-Tempels war ohnehin schon genug und nicht zu verwischen. Wie auch der Präsident der Vereinigten Staaten sofort erkannte, musste Wall Street so schnell wie möglich zu “business as usual” zurückkehren. Daher war es deutlich günstiger, den Mut der Feuerwehrleute zu feiern, als zu viel Aufmerksamkeit auf den Untergang eines Teils der Finanz-Subkultur der Stadt zu lenken. Die herrschende Klasse als verletzbar erscheinen zu lassen, würde nur den Zielen der Terroristen zuarbeiten. Es gehört zu den elementaren Prinzipien von Herrschaft, dass sie nie schwach und in Not gesehen werden darf. Diese Rolle gebührt der Unterschicht, die gerade wegen ihrer Verletzlichkeit als heroisch gilt.

Das Feiern der Feuerwehrleute und mit ihnen des “Durchschnitts-Amerikaners” (der auch gerne einmal so heldenhaft wäre) hat viel für die Sympathien getan, die New York (als Hauptstadt des Kapitals) aus dem Rest der USA und der Welt zugetragen wurden. Im Gegensatz zu den Fanatikern, die Tausende von Unschuldigen (und sich selbst) umbringen, ist die Welt der Finanz friedlich und zivilisiert und unheroisch. Heldenhaft ist sie allenfalls in der Entschlossenheit, auch angesichts von Zerstörung und Tod die notwendige Arbeit sofort wieder aufzunehmen und weiterzuführen. Es war nicht die Situation, die kriegerischen Tugenden der Finanz-Helden zu feiern.

Tabu 7: Freiwillige Helden

Die Hilfe-Angebote überstürzten sich. Als Ergebnis hatte man zu viele Freiwillige für alles: Zu viele wollten Blut spenden (es gab aber relativ wenig Verletzte), kräftige Männer und Frauen boten sich für die Schaufelarbeiten an und Stahlarbeiter meldeten sich freiwillig mit ihren Schweißgeräten (es konnten aber nur relativ wenige Leben durch Graben und Schneiden gerettet werden). Alle Arten von Freiwilligen mussten enttäuscht abgewiesen werden. Gewöhnlich reagiert man auf diesen Drang, “etwas zu tun”, mit Geldspenden – auch das geschah, überreichlich.

Da die meisten dieser Sammlungen für die Familien der gefallenen Uniformierten erfolgten, ist das Ergebnis eine Peinlichkeit: Es steht für jede dieser Familien (die vermutlich – angesichts des Berufs des Ernährers – ohnehin gut versichert sind) über eine Million Dollar zur Verfügung, deutlich mehr als für alle anderen Opfer. Der Kampf darum, wie die Hilfsgelder verteilt werden sollen, bietet nicht nur einen schönen Anblick. Das Murren bei Spendern wie potenziellen (Nicht-)Empfängern ist durchaus hörbar.

Der besondere Status der Feuerwehrleute beruht vor allem auf der bekannten Identifikation mit denen, die ihr Leben “für uns” riskieren. Privatleute sind gestorben und wir bedauern sie und ihre Familien. Aber ihnen ist das zugestoßen. Hingegen die, die sich wiederholt und als Retter diesem Risiko aussetzen – sie verdienen unsere Achtung und Sympathie in besonderer Weise. Dieser Status ist analog dem, den wir gefallenen Soldaten geben, und den vor allem der Staat, der sie schließlich in die fatale Situation brachte, für sie und ihre Angehörigen und nicht zuletzt für die, die als nächste einrücken sollen, garantieren muss. Warum sollte jemand ohne solche Verherrlichung des Opfers sich selbst oder Vater, Sohn, Tochter solcher Gefahr aussetzen lassen? In der konventionellen Erzählung haben sie sich für den höheren Zweck des Großen und Ganzen aufgeopfert. Die Helden können nicht in Schmutz und Staub, Schmerz und Elend gestorben sein, sie sind “gefallen” und werden dafür geehrt. In unserer säkularen und sehr poesielosen Gesellschaft warten keine größeren Zahlen von Jungfrauen mehr am Tor zum Paradies, aber wir sorgen für die Familien der Helden und gedenken ihrer mit Achtung und Ehre.

Cliché 2: Der Kult der Führerschaft

Die Witze über den etwas einfältigen Bush Junior haben nach dem 11. September abrupt aufgehört. Über Nacht ist es unpassend geworden, selbst über einen Präsidenten zu witzeln, in dessen Nähe man das Wort “nachzählen” besser nicht verwenden soll. Sogar die anfängliche Kritik verstummte bald, dass der Präsident sich von seinen Sicherheitsberatern zwischen zweitklassigen Flughäfen herumkarren und verstecken ließ. Bush Junior konnte sich rehabilitieren. Wenn auch etwas zu spät, trug er die Flagge auf den Schuttberg, indem er von dort, den Arm um die Schultern eines (ranghohen) Feuerwehrmanns, seine Ansprache hielt. (Nur kleinliche Geister dachten bei der Geste nicht so sehr an tiefe Kameradschaft als vielmehr an die Suche nach Halt und Stütze.)

Die Verehrung der starken Männer fand in dem höchst umstrittenen Bürgermeister Giuliani ein geeigneteres Objekt: Er verwandelte sich in der Situation in einen Augustus – weise, mitfühlend, allwissend und allgegenwärtig, der Mann des Jahres. Sein Ruf erreichte sogar England: Die Queen ehrte ihn. Krieg ist gut für Politiker, noch besser für geschickte Politiker. Auf der ganzen Welt boten sich die starken Männer an, bereit, ihr jeweiliges Volk zu schützen, zu verteidigen und zu führen. Tony Blair wurde zum Churchill der Labour Party und hielt große Reden. Der australische Prime Minister, zum Zeitpunkt der Tat in Washington, eilte nach Hause, um sein kleines Land als verbündete Macht in den Krieg zu führen.

Um die Kriegsbegeisterung zu rechtfertigen, musste in Australien die Gefahr für das Land möglichst vergrößert werden. Es gab im Land einige Enttäuschung darüber, dass “unsere tapferen Burschen” in Afghanistan keine angemessene Aufgabe fanden. Daher wurde verlautbart, dass Australien den Krieg gegen den Terrorismus vor allem in der Region Asien/Pazifik führen werde. Dubiose Drohungen gegen australische Niederlassungen in der Region werden verwendet, um den Alarmzustand zu rechtfertigen. Die Erwartung eines “Zwischenfalls” ist kaum von der Hoffnung auf einen solchen zu unterscheiden. Irgendeine materielle Grundlage für den Alarmzustand wäre dringend erwünscht. Seit diesem Jahr gibt es auch auf inner-australischen Flügen “freiwillige Air-Marshals”. Es hat so lange gedauert, weil die Fluglinien sich erst weigerten, Plätze für diese Freiwilligen freizuhalten. Aber besser zu spät als gar nicht. Irgendwann wird es schon den “Zwischenfall” geben, der ihre Anwesenheit rechtfertigt.

Cliché 3: Alles hat sich geändert, nichts ist mehr, wie es war

Für die meisten Amerikaner war das Ereignis ein Schock. Es hat ihr Sicherheitsgefühl beschädigt. Wie in vielen anderen Gegenden der Welt muss man jetzt auch in Amerika mit dem Wissen leben, dass man mögliches Ziel terroristischer Angriffe ist. (Man erinnert das amerikanische Paar, das sich in London über das Fehlen von Abfallbehältern in den U-Bahn-Stationen beklagt. Wie können sie das nur zulassen?, fragten sie.)

Wie alle Berührungen mit dem Sterben hat auch dieses Ereignis manche Leute dazu gebracht, laut darüber nachzudenken, was im Leben wichtig ist. Plötzlich darf oder soll man im Land der puritanischen Arbeitsmoral laut sagen, dass die Familie eigentlich wichtiger als alles andere sein sollte, vielleicht sogar sein würde. Das kann schon einmal wie eine Instrumentalisierung klingen, wie im Fall des gefeuerten Football-Coach, der solches Umdenken im nationalen TV als Erklärung für sein Abtreten einsetzte. Aber insgesamt war zumindest am Anfang schon das Gefühl, dass sich die Beziehungen zwischen den Menschen in Reaktion auf das Unglück ändern würden. Es ist bemerkenswert, wie schnell sich diese Erwartung und dieser Vorsatz auflösten.

Schon zu “Thanksgiving”, dem besonders amerikanischen Familien-Feiertag, der am dritten Donnerstag im November gefeiert wird, war “9/11” so gut wie aus den familiären Gesprächen verschwunden. Der Feiertag wurde öffentlich angekündigt als die Gelegenheit, in den Familien gemeinsam zu trauern oder sich darüber zu freuen, dass man davongekommen sei. Aber eine Umfrage (durchgeführt von Studenten der NYU), was zu Thanksgiving tatsächlich geschah, zeigte, dass der Angriff nicht mehr die Tagesordnung beherrschte. “Wir haben über familiäre Probleme gesprochen, das WTC kam gar nicht vor.” Auch privat ist man zu “business as usual” zurückgekehrt.

Außer den rituellen Beteuerungen von Abscheu war in privaten Gesprächen über 9/11 nichts mehr zu sagen. Eine Weile hatte man noch “wenn-nicht …”-Erzählungen austauschen können: Beinahe wäre man in der Gegend gewesen. Dann konnte man tragische Geschichten aus zweiter und dritter Hand erzählen. Dann waren die neuen Sicherheitskontrollen für Beteuerungen von Mitgefühl oder Konkurrenz darüber gut, wie lang man jetzt von A nach B gebraucht hat oder wie übereifrig oder nachlässig bestimmte Kontrolleure waren. Aber dann vertrockneten diese Quellen von Gesprächsstoff allmählich.

Der 11. September war mehr ein Ereignis als eine Erfahrung. Und das Ereignis ist mehr ein Gegenstand der allgemeinen und “großen” als der persönlichen Politik. Und diese beiden Sphären sind in den USA wahrscheinlich stärker getrennt als anderswo. (Der “human interest”-Imperativ, unter dem CNN Nachrichten in Unterhaltung und in die zugehörigen Gefühle umsetzt, spiegelt und unterstützt das. Politische Analyse überlassen wir den “Großen”.) Die öffentliche Auseinandersetzung wurde eingeengt und ritualisiert und beschränkte sich schnell auf die Dokumentation des Kriegs (das ist vorbei), den Wiederaufbau (er läuft an) und die Trauer (ihre dramatische Phase ist abgeschlossen). Sogar die New York Times hat ihre Nachrufe eingestellt. Mit dem neuen Jahr wurde offenbar auch hier beschlossen, das “hinter sich zu lassen” und “nach vorne zu blicken”, um den Selbsthilfe-Jargon zu bemühen.

Tatsächlich hat sich nicht ganz so viel verändert. Außer natürlich in Afghanistan. Dort wird nach dem Fall des Taliban-Regimes alles liberaler. Wie ein Sprecher aus dem zukünftigen Justiz-Ministerium mitteilte, werden in Zukunft die Körper Hingerichteter nur mehr einige Tage, nicht Wochen öffentlich zur Schau gestellt. Ehebrecher werden zwar auch gesteinigt, aber mit kleineren Steinen, so dass sie eine Chance haben, davonlaufen zu können. In der Hauptsache wird das neue Regime alle Finanzhilfe der westlichen Welt haben, um das verarmte Land wiederaufzubauen.

Cliché 4: Wir werden nicht vergessen

Hollywood hat keine Scheu vor weltgeschichtlichen Ereignissen (der Amerikanische Bürgerkrieg, die Titanic, der Zweite Weltkrieg, das Attentat auf Kennedy, Vietnam, Watergate), das TV fast noch weniger. Der neueste Vorschlag, vielleicht eine Kleinigkeit zu früh gekommen, ist ein Fernsehfilm über die Vorgänge in dem Flugzeug, das in Pennsylvania zum Absturz gebracht wurde. Das heldenhafte Handeln der Passagiere, so der Produzent, soll nicht vergessen werden. Nicht alle sind glücklich über die Idee, aber so und ähnlich wird in absehbarer Zeit das gesamte Ereignis mit analogen Begründungen allmählich angeeignet werden.

Auch noch umstritten ist der Plan einer sechs Meter hohen Bronzestatue auf “Ground Zero” zu Ehren der Feuerwehrleute, die dort starben. Der ursprüngliche Entwurf folgte einem (gut als Titelbild von Zeitschriften verbreiteten) Foto von drei weißen Feuerwehrmännern, die (analog Iwo Jima) gemeinsam die Fahne hissen. In einem verbesserten Entwurf helfen ein schwarzer und ein hispanischer Mann ihrem weißen Kollegen beim Vollzug der rituellen Handlung. Offenbar hat das die New Yorker Feuerwehr nicht ganz überzeugt, die sich fast ausschließlich aus der irischen und der italienischen Subkultur New Yorks rekrutiert. Von den 343, die im WTC starben, waren 12 Afro-Amerikaner. Das Kunstwerk beansprucht, die Geschichte im Interesse des politisch Korrekten umzuschreiben. Die Katastrophe des WTC wird am Schluss im Kontext der alten Debatten und Spannungen der amerikanischen Gesellschaft bearbeitet. Die Stadt hat tatsächlich ihr “business as usual” wieder aufgenommen – und das mit den alten Instrumenten der Konfliktaustragung.

Published 5 March 2002
Original in English
First published by Wespennest

Contributed by Wespennest © Kathy Laster / Heinz Steinert / Wespennest / Eurozine

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