«… und dann ist gerade noch das Leben vom Leben übrig»

Flucht: Die Vermessung des Verlusts

Wenn man ein Land verlässt, nimmt man sich Zeit, um sich von den Menschen, den Dingen, den Orten zu verabschieden, die man geliebt hat. Ich habe das Land nicht verlassen, ich bin geflohen. Ich habe die Tür hinter mir offen gelassen und bin gegangen, ohne mich umzudrehen.

Gaël Faye, Kleines Land

Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm versteht unter Verzicht im allgemeinen Sprachgebrauch die Idee der Freiwilligkeit, wonach man aus eigenen Stücken heraus entsagt oder auf etwas verzichtet. Verzicht ist demnach die subjektive Entscheidung, etwas zumindest teilweise aufzugeben, was man gern mag oder gern um sich hat, aber sich in einem gewissen Moment entscheidet, darauf zu verzichten. Auf etwas verzichten zu müssen, für das wir uns nicht freiwillig entscheiden, sondern das über unsere Köpfe hinweg bestimmt wird, ist schon etwas anderes. Vorschriften, behördliche Anordnungen in Katastrophenfällen, wie etwa während der Corona-Pandemie, verlangen einen Verzicht, der nicht selbst gewählt worden ist. Im Folgenden gehe ich der Frage nach, inwieweit historische und aktuelle Fluchterfahrungen ebenfalls von Verzicht gekennzeichnet sind und wo diese sichtbar werden. Zudem drängt sich die Frage auf, was überhaupt in diesem Zusammenhang mit Verzicht gemeint sein könnte.

Flucht, wie ich sie verstehe, ist etwas anderes als Migration. Deshalb ist eine Differenzierung unerlässlich, um den Flüchtling im Zuge globaler Migration vor drohender terminologischer Beliebigkeit zu schützen. Nicht alle, die unter Lebensgefahr über das Mittelmeer kommen, sind Flüchtlinge, wobei die Übergänge fließend sein können. Weil das so ist, muss hier klar unterschieden werden. Auch wenn Flüchtlinge als ‹Zwangsmigranten› unbestreitbar ein Teil der globalen Migrationsprozesse sind, liegen Flucht und Migration auf ganz unterschiedlichen Erfahrungsebenen. Das bedeutet jedoch keine Rangordnung oder womöglich Abwertung teilweise ebenfalls dramatischer Biografien von Migranten. Die Flucht zu ergreifen, kann zwar eine freie Entscheidung sein, doch wird sie aufgrund bedrohlicher äußerer Umstände getroffen. Nicht selten ist es die letzte Entscheidung, die Betroffene selbst treffen.

Todesangst ist wohl der wichtigste Grund für den Entschluss, die vertraute Umgebung zu verlassen. Vertriebene hingegen werden gegen ihren Willen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Die Vertreibung aus dem Haus und vom eigenen Grund basiert auf Entscheidungen, die andere fällen und die von den Betroffenen selbst nicht beeinflusst werden können. Wer nicht rechtzeitig flieht, liefert sich womöglich der Willkür anderer aus. Die Übergänge sind auch hier oft fließend, und so können Flüchtlinge am Ende zu Vertriebenen werden. Ich verstehe Flucht deshalb als Chiffre für einen Gesamtvorgang, der sich aus der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 weiterentwickelt: Flucht vor Krieg und Gewalt, Vertreibungen, «ethnische Säuberungen», als Angehörige von ethnischen, nationalen, religiösen Minderheiten oder aufgrund von Homosexualität.

Alle Flüchtlinge und Vertriebenen kennen das: Der Abschied von der Heimat, meistens für immer, inmitten von Gewalt und Krieg, gefolgt von der Ungewissheit des Weges und der Ziele ihrer Flucht und über alles, was dann folgt. Nach dem Ankommen, wo auch immer, erwarten sie Lager- und Transitzentren, Ausgrenzung und Feindschaft ebenso wie ein Weiterleben, das Integration, Assimilation oder permanentes Exil bedeuten kann. Am Ende verbindet sie alle die Erinnerung an das Verlorene, manchmal sogar über Generationen hinweg. Ihr Heimatverlust bedeutet eine existenzielle Erfahrung, ein radikaler Bruch in ihren Lebensgeschichten. Die Erinnerung an das Verlorene kennen alle Betroffenen weltweit. Deshalb müssen wir zuallererst über Verlust sprechen.

Diesen Verlust zu ermessen, übersteigt häufig unsere Vorstellungskraft. Denn Flucht bedeutet etwas Ungeheuerliches, das Jenny Erpenbeck in ihrem Roman Heimsuchung auf den Punkt bringt, denn «von Schritt zu Schritt wird auf der Flucht das Gepäck weniger und das, was man zurücklässt, mehr, und irgendwann hält man an und sitzt nur noch, und dann ist gerade noch das Leben vom Leben übrig, und alles andere liegt in vielen Gräben vieler Straßen». Am Ende retten Flüchtlinge ihr Leben, alles andere bleibt zurück. Dabei denke ich an die Geschichte von Noh Cho-Heon, die in einer Videobotschaft des Südkoreanischen Roten Kreuzes ihre Familie sucht, die sie seit ihrer Flucht 1950 nicht mehr gesehen hat. Ob sie noch leben, konnte sie nie in Erfahrung bringen, sie hatte nie wieder etwas von ihnen gehört.

Koreanische Flüchtlinge wissen seit der Teilung ihres Landes nichts über ihre nächsten Angehörigen, die sie zurücklassen mussten. «Ich suche nach meinem Großvater Noh Jong-Soeb», spricht sie leise. «Mein Vater heißt Noh Gi-Hun. Meine Onkel heißen Noh Gi-Hwan, Noh Gi-Ryong, meine Tanten heißen Noh Gap-Seon, Noh Oh-Seon, und mein Bruder heißt Noh Chun-Heon. Nach ihnen suche ich.» Unbeholfen blickt die alte Dame im Oktober 2014 in die Kamera, ihre Worte liest sie vom Blatt ab. Sie vertraut dem Roten Kreuz ihre Geschichte an, weil sie hofft, in den kurz zuvor aufgenommenen Programmen für ein Wiedersehen mit Familienangehörigen in Nordkorea berücksichtigt zu werden. «Ich wünsche mir, dass ich meine Geschwister im Norden einmal wiedersehen könnte, bevor ich sterbe.» Die Geschichte von Noh Cho-Heon steht für Millionen Koreaner. Im Dezember 1950 floh die Vierzehnjährige mit ihrer Mutter aus ihrer Heimatstadt vor den chinesischen Truppen in den Süden. Noh Cho-Heons Wunsch, etwas über ihren Bruder, ihren Vater, ihre Großeltern und andere Verwandte in Nordkorea zu erfahren, ging nicht in Erfüllung. Bis zum Ende ihres Lebens blieb sie der Tradition und dem Dialekt ihrer Heimat im Norden verbunden. Wenige Monate, nachdem das Rote Kreuz ihre Videobotschaft aufnahm, starb sie in Seoul.

Die Flucht setzt gültige Regelwerke und Selbstverständlichkeiten außer Kraft. Nichts gilt mehr, was gestern noch zu gelten schien. Fliehen, auf die Flucht gehen oder vertrieben werden, das alles ist kein Abenteuer. Was zurückgelassen wird, ist für immer verloren. Im Augenblick des Aufbruchs macht sich dennoch kaum jemand klar, wie auch Noh Cho-Heon und ihre Mutter, dass die Flucht ein Abschied für immer sein könnte. Sie hat alles verloren, ein Fragment in der unendlichen Geschichte der Flucht, aber sie gibt Abermillionen einen Namen und ein Gesicht. Nach ihrer Ankunft in ihrem neuen Leben schultern Flüchtlinge unendlich schweres Gepäck, unter dem sich eine schier endlose Verlustliste befindet: vertraute Bindungen von Familie, Freunden und Nachbarn, die Gerüche und Geräusche, die Küche, den Dialekt, die Sprache, die Landschaft – und vor allem geliebte Menschen in einer Umgebung, in denen sie alle Codes zu lesen verstanden. Am alten Ort fühlten sie sich zu Hause, sie gehörten einfach dazu. Deshalb ließ auch Noh Cho-Heon ein gelebtes Leben zurück, ohne sich verabschieden zu können. Auf das, was sie laut dieser Liste verloren hat, muss sie wie andere Flüchtlinge am Ankunftsort verzichten. Egal, ob die Flucht Rettung in die Freiheit verheißt, bleibt es eine lebensverändernde Herausforderung, mit diesem Totalverlust umzugehen.

Obwohl Ursachen und Verhältnisse, die Menschen zur Flucht bewegen, sehr unterschiedlich sein können, ähneln sich die konkreten Erfahrungen von Flüchtlingen, Vertriebenen, Exilierten. Ob in der historischen Rückschau oder aktuell, jeder muss entscheiden: Was nehme ich mit auf die Flucht? Wie viel kann ich tragen, wenn ich zu Fuß unterwegs bin? Soll ich Wertsachen, Fotos, Schmuck und Dokumente einpacken oder besser Verpflegung für die kommenden Tage? Flucht ist eine Zäsur, die Aufkündigung einer ungeschriebenen und über Generationen gültigen Übereinkunft mit den Vorfahren. Denn alles, was auf Erbrecht fußt, gilt plötzlich nicht mehr. Testamente und Investitionen in die Zukunft, Grund und Boden, Sparbücher – im Moment der Flucht versinkt alles in Bedeutungslosigkeit. Wer flieht, muss seine Immobilien und große Teile seines übrigen materiellen Besitzes zurücklassen – und nicht zuletzt die Toten. Friedhöfe liegen verwaist, die Gräber wachsen zu. Flüchtlinge und Vertriebene lassen ihre Gräber zurück und damit uralte Bindungen zu den Vorfahren, wie sie alle Kulturen und Weltreligionen kennen.

«Meine Großväter Garabet Vosganian und Setrak Melichian haben aus ihrem Jahrhundert bloß verstanden, wie schwer es ist, in der gleichen Erde zu sterben, aus der man geboren wurde», erzählt Varujan Vosganian in seinem autobiografischen Roman Buch des Flüsterns über die armenische Exilgemeinschaft in Rumänien, nachdem diese Flucht, Deportation und Völkermord überlebt hatte. «Die alten Armenier meiner Kindheit hatten keine Gräber, an deren Kopfenden sie hätten sitzen können und ihre Eltern beweinen können. Sie trugen ihre Gräber überall, wo sie herumirrten, bei sich.»

Dass Ungeflüchtete diesen Verlust kaum erahnen können, manifestiert sich auch in der Diskussion über Geflüchtete. Von Menschen ohne Fluchterfahrung gedrechselt, fand diese Neuschöpfung im deutschen Sprachraum rasch Verbreitung, weil Flüchtling zu negativ klinge. Meiner Meinung nach verharmlost dieses gut gemeinte neue Wort jedoch ebendiese Dramatik von Gewalt, Krieg und Entwurzelung. Denn es ist nicht in Stein gemeißelt, dass aus Flüchtlingen Geflüchtete werden, dass sie oder er ankommt, und so aus Flüchtlingen Angekommene werden. Meistens bleibt das eine Hoffnung, nicht mehr. Neulich las ich in einem Nachrichtenmagazin die Überschrift «Geflüchteter schwimmt von Nord- nach Südkorea». Dieser Mann schwimmt in jenem Augenblick um sein Leben, um einem Terrorregime zu entkommen. Fast alle, die das versuchten, bezahlten es mit ihrem Leben. Es ist schlicht unmöglich, auf der Flucht im kalten Wasser des Nordpazifiks ein Geflüchteter zu sein. Vielmehr als um neue Wortschöpfungen – die in anderen Sprachen ohnehin nicht funktionieren – sollte es darum gehen, Flüchtlinge als Akteure der Geschichte ernst zu nehmen. Dabei bleiben immer Widersprüche. Jede Flucht erzählt vom erzwungenen Weggehen und Ankommen, vieles verharrt im Uneindeutigen. Diese Ambivalenz müssen alle aushalten, vor allem die Betroffenen selbst, weshalb man sie nicht wegretuschieren sollte.

Seien wir ehrlich, überfordert uns nicht bereits der Gedanke, was wir mitnähmen, wenn wir nur fünf Minuten Zeit hätten? Wenn wir etwas zuhause vergessen haben, kehren wir zurück, um es zu holen. Diese vertraute Gewissheit ist bei einer Flucht ausgeschlossen, denn es gibt kein Zurück mehr. In Judith Kerrs autobiografischem Roman Als Hitler das rosa Kaninchen stahl muss die kleine Anna gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder im Februar 1933 überhastet vor den NS-Schergen fliehen. Im Fluchtgepäck gibt es wenig Platz, weshalb sich Anna für ein Stofftier entscheiden muss. Übereilt muss sie abwägen, welchem Kuscheltier sie den Vorzug gibt. Schweren Herzens entscheidet sie sich gegen ihr heißgeliebtes rosa Kaninchen. Der Verlust ihres Zuhauses zwingt Anna in diesem Fall zu einem konkreten Verzicht.

Auch die Ungewissheit reist mit auf den Wegen der Flüchtlinge und Vertriebenen. Als Léon Werth 1940 vor den Deutschen in den Süden Frankreichs flieht, sagt er: «Ich bin ein Gefangener der Straße.» Dabei denke ich an Anna Sudyn, die 1947 mit ihrer ukrainischen Familie aus Südostpolen vertrieben wurde. Sie hatte den nationalsozialistischen Terror, Konzentrationslager und Zwangsarbeit überlebt. Nach ihrer Befreiung kehrte sie zurück nach Polen. Als die polnische Armee schließlich ihr Heimatdorf in Brand steckte, musste die Familie in Windeseile packen, weil sie in die einst von Deutschen bewohnten Gebiete deportiert werden sollte. Eilig packte die Familie wenige Habseligkeiten zusammen, darunter ein Stein. Dieser war, so dachte Anna Sudyns Vater, überlebenswichtig, denn ihre sandige Heimat war arm an Steinen. Auf diesen Stein konnten sie nicht verzichten. Mit ihm hatten bäuerliche Familien stets das große Krautfass beschwert, um für den Winter Sauerkraut und damit lebensnotwendige Vitamine zu sichern. Schließlich kamen sie nach Masuren, wo sie angesiedelt werden sollten. «Als wir dann dort ankamen, ach du lieber Gott! So viele Steine! Wo man sich bückt, liegen Steine.»

Am Ende kommen alle Flüchtlinge und Vertriebenen irgendwo an. Dort müssen sie sich behaupten gegenüber skeptischen bis offen ablehnenden Aufnahmegesellschaften, in Aufnahme- und Transitprozeduren, in Lagerhierarchien, Behelfsunterkünften, und das alles oft in einem neuen sprachlichen und kulturellen Umfeld. Das ist ein emotionaler Kraftakt, denn sie tragen die Flucht und das Zurückgelassene in sich und müssen gleichzeitig ein neues Leben aufbauen. Flüchtlinge waren in der Geschichte überwiegend kollektiv als Gruppe von Zwangsmigrationen betroffen. Heute verändert sich Flucht, sie ist weit mehr, jedenfalls wenn es um Wege nach Europa geht, eine individuelle Entscheidung. Es gibt dank Internet mehr Informationen über die Länder, in denen man ankommen möchte. Das ist ein großer Unterschied. Die Erinnerung bleibt oft in den Handys gespeichert, die Mobiltelefone schlagen gleichzeitig Brücken zu verbliebenen Angehörigen in die Heimat. Flucht kann deshalb der Beginn eines neuen Lebens sein, etwa wenn sie individuell entschieden wird, wie etwa aus der DDR oder den Staaten des Ostblocks, aber auch aus Syrien. Es ist eine bewusste Entscheidung, ein autoritäres Regime zu verlassen, weil der persönliche Leidensdruck zu groß geworden ist, obwohl von außen betrachtet dort ein Weiterleben möglich gewesen wäre. Dem geht oftmals ein langer Abwägungsprozess voraus: Gehen oder bleiben?

Ankommen bleibt immer ein Prozess. Verräterisch ist jedoch, wie sehr unsere Vorstellung von einem neuen Leben materiell geprägt ist. Man rettet durch eine Flucht in der Regel nicht mehr als sein Leben und bewahrt beim Ankommen seine körperliche Unversehrtheit. Das ist schon einmal sehr viel, aber geschieht um einen hohen Preis. Viele kommen in Ländern an, in denen sie dauerhaft nicht willkommen sind, als Bürger zweiter Klasse oder manchmal nicht einmal das. Dann warten Staatenlosigkeit und Lagerexistenz auf sie, oftmals über Generationen. Deshalb zögere ich, ihren Verlust als Verzicht zu bezeichnen, weil dabei stets das Moment der Freiwilligkeit und der bewussten Entscheidung aufscheinen will. Zudem suggeriert Verzicht, es gäbe eine Alternative, nämlich zugunsten von etwas. Das mag im Einzelfall zutreffend sein, ja, es gibt sogar unendlich viele geglückte Ankunftsgeschichten. Verzicht beschreibt in der historischen Langzeitperspektive jedoch nur unzureichend die Dimensionen des Verlorenen.

Verlust ist für alle Flüchtlinge immer eine sehr persönliche Erfahrung. Anders jedoch verhält es sich mit dem nachträglich geübten Verzicht, der für Flüchtlinge und Vertriebene ein bewusster und oft sehr politischer Vorgang sein kann. Hier fällt mir ein Beispiel aus der westdeutschen Nachkriegsgeschichte ein, das exemplarisch für die Ambivalenz von Verlust und Verzicht steht. 1963 grüßte der damalige SPD-Vorsitzende Willy Brandt ein Treffen von schlesischen Vertriebenen mit den Worten «Verzicht ist Verrat, wer sollte das bestreiten». Seine Worte richtete er im Namen der Parteiführung an Millionen Vertriebene, die noch lange Jahre nach dem Verlust ihrer Heimat hofften. Seine Worte stehen stellvertretend für viele westdeutsche Politiker, die aus politischem Kalkül jene Hoffnungen mit Worthülsen befeuerten, wonach die Vertriebenen einst in ihre alte Heimat zurückkehren könnten. Doch allmählich wandelten sich die Zeitläufte.

Zunehmend setzte sich die Erkenntnis durch, dass nur ein endgültiger Verzicht auf Ansprüche am Ende einen Neuanfang bedeuten kann. Wandel durch Annäherung, lautete fortan die Devise. Die polnischen Bischöfe gingen bereits 1965 voran, als sie den Deutschen die Hand reichten: «Wir vergeben und bitten um Vergebung.» Dem folgte der Kurswechsel in der Bundesrepublik. Viele Vertriebene taten sich schwer, die – jahrzehntelang als Wählerklientel gehätschelt – an den Versprechungen der Politik festhalten wollten. Viele von ihnen fühlten sich verraten. Hunderttausende Vertriebene demonstrierten gegen die Ostverträge, die Unionsparteien riefen sogar das Bundesverfassungsgericht an. Doch die Uhr ließ sich nicht mehr zurückstellen. Der Kniefall des deutschen Bundeskanzlers vor dem Mahnmal im einstigen Warschauer Getto ging um die Welt.

Die langjährige Herausgeberin der ZEIT, Marion Gräfin Dönhoff, unterstützte diese neue Ostpolitik, obwohl sie selbst ihre ostpreußische Heimat verloren hatte. Das lag damals erst fünfundzwanzig Jahre zurück, in der Geschichte weiß Gott kein langer Zeitabschnitt. Es ging 1970 auch um die endgültige Aufgabe einer Illusion. Sie, die Intellektuelle, hatte den notwendigen Verzicht auf das unwiederbringlich Verlorene verstanden. Nicht alle konnten diese politische Kehrtwende nachvollziehen. Für viele war es zudem hart, nun von Menschen in Deutschland zum endgültigen Verzicht aufgefordert zu werden, die selber gar nichts verloren hatten. So sehr Marion Dönhoff die Bedeutung dieser politischen Geste verstand, so sehr blieb sie doch auch in ihrem Schmerz gefangen. Deshalb schlug sie die Einladung Brandts aus, gemeinsam mit der bundesdeutschen Delegation im Dezember 1970 nach Warschau zu reisen. Sie konnte nicht, wie sie später sagte, auf den endgültigen Verzicht ihrer Heimat mit einem Glas Sekt anstoßen.

«Es mag dem Exilanten gelingen, dort, wohin er geht, neu auszutreiben, zu erblühen, ein günstiges Klima zu finden», meint der türkische Journalist Can Dündar, der nach Deutschland flüchtete, «doch wie bei jeder von der Wurzel gebrochenen, aus ihrem Boden, ihrer natürlichen Flora gerissenen Pflanze ist ungewiss, ob er in der Erde, in die er umsiedelt, Wurzeln schlagen kann. Entweder behauptet er sich, oder er verwelkt und vergeht.» Ob wir uns der Wurzel-Metapher anschließen oder nicht, aber Can Dündar bringt die Ambivalenz auf den Punkt, die jeder Flüchtling kennt. Darüber kann kein noch so hoffnungsvolles neues Leben hinwegtäuschen. Wie es weitergeht, bleibt ungewiss. Heimat oder das, was wir darunter verstehen, bleibt für Flüchtlinge zeitlebens eine Leerstelle. Gegen ihren Willen geben sie die wärmende Vertrautheit ihres Zuhauses auf. Das zeigt, dass Verzicht und Flucht am Ende nicht recht zusammenpassen, weil der «Verzicht» von Flüchtlingen nicht freiwillig erfolgte, sondern erzwungen ist. Wenn überhaupt in der persönlichen Erfahrung von Verzicht gesprochen werden kann, zwingt ihr Verlust Flüchtlingen einen Verzicht auf. Dieser bindet unendliche Kräfte. Nach der Ankunft ist es vielen wichtig, aus der alten Identität Kraft zu schöpfen, um die neuen Herausforderungen auch nur ansatzweise meistern zu können. Manche würden vielleicht gern loslassen, sogar verzichten, aber das bleibt ein Kraftakt. Deshalb tragen sie ihr schweres Gepäck – ihren existenziellen Verlust – häufig ein Leben lang mit sich, und manchmal sogar darüber hinaus.

Published 14 March 2022
Original in German
First published by Wespennest 181 (2021)

Contributed by Wespennest © Andreas Kossert / Wespennest

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