Soziologie des Islams

Georg Stauth,

Islamische Kultur und moderne Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie des Islams

transcript , Bielefeld 2000

292 Seiten, 58 Mark.

Islamistische Terrorakte in Algerien, Berichte über die Zerstörung von Buddhastatuen durch die Taliban in Afghanistan, verschärfte Verfolgung von Regimekritikern im Iran… die internationalen Nachrichten sind gefüllt von Meldungen über die gesellschaftlichen Folgen des politisierten Islams. Die deutlich werdende Gewalt, das Leiden der Opfer, die Undurchsichtlichkeit der involvierten Gruppen und ihrer Forderungen rufen Unverständnis und Erschrecken hervor. Angesichts dessen bieten die gesammelten Aufsätze zur Soziologie des Islams von Georg Stauth die Möglichkeit, aus der Distanz derartige Ereignisse zu reflektieren. Sein Buch Islamische Kultur und moderne Gesellschaft ist weder eine Auseinandersetzung über die Wesenszüge und grundlegenden Prinzipien des Islams, noch eine Darstellung der Ziele und Handlungen fundamentalistischer Gruppierungen. Es geht vielmehr um die Bedingungen und Formen der Zirkulation moderner Ideen des Islams, die der Autor in einen Zusammenhang von kultureller Globalisierung und gesellschaftlicher Modernisierung stellt.

Vier Abschnitte unterteilen die Texte, die zum einen auf empirischen Arbeiten in den 70er Jahren in Ägypten beruhen und zum anderen methodologische Überlegungen zu kulturübergreifender Forschung (Teil I Der Islam und die “fundamentals” der Moderne) und theoretische Reflexionen zu Globalisierung und Soziologie des Islams darstellen (Teil II Modernität, Globalisierung und Islam, Teil IV Islam und Soziologie). Es handelt sich dabei um Vorträge beziehungsweise Aufsätze, die in verschiedenen englisch- oder deutschsprachigen Fachzeitschriften seit Ende der 80er Jahre erschienen sind. Die bereits zurückliegenden Erscheinungsdaten nehmen den einzelnen Texten nichts von ihrer Qualität. Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen gewinnen sie im Gegenteil an Anschaulichkeit und leisten einen wichtigen Beitrag zur Entemotionalisierung der sogenannten Fundamentalismusdebatte, indem die verschiedenen Ideen vom Islam als moderne Selbstbeschreibungen thematisiert werden.

Ausgangspunkt der das gesamte Buch durchziehenden These, daß die aktuellen Entwicklungen in der islamischen Welt Ausdrucksmodi der kulturellen Globalisierung sind und damit von allgemeingültigen soziologischen Kategorien getragen werden, ist eine Kritik der “modernen Essentialisierung des Islams” (vgl. Teil I Der Islam und die “fundamentals” der Moderne). Der Blick, den westeuropäische und nordamerikanische Journalisten und Wissenschaftler auf die Erscheinungsformen des politisierten Islams werfen, ist in den Augen des Autors das Produkt eines “Gefangensein im Innerlichkeits-Syndrom”, das religiös begründetes Verhalten anderer “nur gegen den Wert strengster innerer Wahrheit” und “Geschlossenheit” einzuordnen weiß. Die Suche nach dem authentischen, “wahren” Islam verstelle die Sicht auf die gesellschaftlichen Prozesse, die Veränderungen im Gebrauch islamischer Ideen hervorrufen. Gleichzeitig bleibe dadurch das interagierende Verhältnis von Begriffen und Perspektiven unbeachtet, die nicht nur das verstehende Betrachten des anderen (des Islams), sondern auch “die Formen der Beherrschung, Destruktion und sodann der Rekonstruktion der Kultur” durch eben diesen anderen selbst bestimmen. Eine Soziologie des Islams muß daher immer auch mit einer Selbstreflexion einher gehen, die nach den Wirkungen der analytischen Muster und kulturwissenschaftlichen Beschreibungen innerhalb der muslimischen Welt fragt. Es sei eben nicht einsehbar, daß globalisierte Kommunikation die Kultur und den Glauben des anderen nicht in dem Maße verändere, wie sie die christliche Religion transformiere.

Die dörfliche, traditionale Lebenswelt werde wie die Gesellschaften der ersten Welt durch die “Zeichen- und Bildwelt des Konsumismus” zerstört, was Georg Stauth im Rahmen einer (gemeinsam mit Hans-Günter Semsek veröffentlichten) Auseinandersetzung über die Luhmannschen System- und Lebensweltbegriffe in bezug auf periphere Gesellschaften darstellt. Die Auflösung der Binnenstrukturen der sozialen Gemeinschaften führe in eine von außen geleitete Rationalisierung “der Dörfer” und damit in eine simulative, “idyllisierende Bildproduktion” über die Lebenswelt, die von sozial-religiösen Bewegungen radikalisiert werden kann. “Den Realitätsgehalt, die Sinnvertiefung, erfährt die Bildproduktion im systemischen Außenbezug” (S. 53).

Die Lektüre, die Georg Stauth von Foucaults Reportagen über die iranische Revolution von 1978 vornimmt, erhellt einen spezifischen Punkt der Instrumentalisierung des Islams im Kontext von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen: nämlich den des Herrschaftsumsturzes und der Machtformation durch Spiritualität. Der “unzeitgemäße” und unterdrückte Islam wird hier als religiöse Technik des Aufstandes behandelt. In den Augen des Autors besteht die Qualität der Gedanken Foucaults darin, aufgezeigt zu haben, daß spirituelle Formen der Individuierung eine Dynamik für neue Modi der Vergesellschaftung besitzen.

Die kulturelle Globalisierung beruht nach Ansicht von Georg Stauth auf einer perzipierten Vision Europas, die das Eigenverständnis der islamischen Welt stärker als das eigene historische Gedächtnis geprägt hat. Ein über Kolonialisierung und Kulturbegegnung angeeignetes Geschichtsbild werde damit zur Folie für die Rekonstruktion der eigenen Geschichte. Das “Eigene” und “das Fremde” verschränken sich in einer unauflöslichen Weise ineinander, indem Symbole und Inhalte der “eigenen” Kultur mit “fremden” Mitteln erneut hergestellt werden. In dem Kontext so strukturierter Identitätspolitik werde das Charisma zu einem Instrument moderner Selbstbehauptung, das nichts mit einem wie auch immer definierten inneren Wesenszug des Islams zu tun habe. Seine Basisprinzipien werden – so die Analyse von Georg Stauth – zu Worthülsen in einem “universellen Ringen um säkulare Wertrationalitäten” (vgl. S. 100).

In einem weiteren, 1993 verfassten Aufsatz über den “Islam als Selbstbegriff nicht-westlicher Modernität” (vgl. S. 103-130) nimmt der Autor die Analyse über die Wechselbeziehung zwischen “Eigenem” und “Fremden” hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Islam und Modernität aus der Perspektive muslimischer Denker noch einmal auf. Hier werden die Schriften von drei Theoretikern – Fazlur Rahman (1919-1986), Malik Bennabi (1905-1973) und Ali Shari’ti (1933-1977) – unter der Fragestellung untersucht, welche Modernisierungsversuche und emanzipatorischen Ansprüche innerhalb des Islam entwickelt worden sind. Georg Stauth stellt dabei das Paradox heraus, daß die Moderne ihr Entstehen u. a. dem Aufkommen des religiösen Fundamentalismus verdankt, was wiederum heute einer radikalen islamistischen Politik förderlich ist. So kann man aus den Schriften der islamischen Denker einerseits eine Kritik am Monopol der Orthodoxie und eine “rationalistische, utilitaristische und funktionale Reinterpretation” des religiösen Texts herauslesen (vgl. S. 122). Andrerseits führt jedoch die entwickelte Utopie von der Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, (“Ummatismus-Utopie”) in eine Vision der kollektiven Selbstbeschreibung, die ein dynamisches, produktives Verhältnis zwischen dem individuellen Selbst und der Staats- und Rechtsordnung unmöglich macht. Islamisch-fundamentalistische Bewegungen und Politik instrumentalisieren genau diese Ambivalenz, indem sie rationalistische, utilitaristische und funktionale Textauslegungen als ein Mittel zur Essentialisierung der eigenen Gruppe benutzen. In diesem Prozeß werden in den Augen Georg Stauths generalisierte Grundorientierungen formaler Rationalität und Technologie deutlich, die wiederum die substantiellen Fragen nach Differenz in der Moderne provozieren. In diesem Sinne behandelt der Autor den Fundamentalismus als “multivariate Produktion moderner Selbst-Sichten” (vgl. S. 134), die auf der “moralischen Überschreitung” tradierter Überlieferung und Normen beruhen (vgl. 148) und eine Transgression gelebter Wertewelten und Lebensformen darstellen (vgl. S. 150). Diese theoretischen Überlegungen und Thesen werden anhand von Beobachtungen in ägyptischen Dörfern in dem Abschnitt III “Islamisierung und materielle Kultur” in drei verschiedenen Aufsätzen veranschaulicht und als konkrete Praxis von Akteuren sichtbar.

Im vierten und letzten Abschnitt des Buches werden die Transformationen der islamischen Tradition aus einer soziologischen Perspektive noch einmal aufgenommen, wobei die Thesen aus den vorausgehenden Texten zum Teil wiederholt werden. Zunächst wird auf einer theoriegeschichtlichen Ebene eine vergleichende Lektüre von Max Webers und Ignaz Goldziher Soziologie des Islams vorgenommen. Beide Autoren erkennen in den Augen von Georg Stauth das Paradox der islamischen Glaubenslehre, das auf der Offenheit der Gelehrtenschicht für die Lebens- und Religionspraxis lokaler Gemeinschaften beruht, die zu dem “skriptualistischen, textifizierten und ritualistischen Kanon” der Lehre in einem klaren Gegensatz standen. Für Goldziher werde der Islam dadurch zu einer Alternative zur Lebensform in der Moderne, während er für Weber damit zur Antithese moderner Lebensweise werde (vgl. S.236, 237). Die klassischen religionssoziologischen Überlegungen zum Islam haben nach Georg Stauth in eine wissenschaftliche Betrachtungsweise geführt, die einerseits in dem Versuch, Wesen und Struktur des Islams trotz der zu beobachtenden Vielfalt zu bestimmen, und andrerseits in der Dichotomie von Moderne versus Vormoderne gefangen bleibt. Dieses will der Autor mit neuen Fragestellungen aufbrechen. In diesem Zusammenhang fragt er daher danach, was mit einer “traditionalen Religion” geschieht, die zu moderner Religion wird und damit moderne Ideologie in ihrer gesellschaftlichen Funktion ersetzt (vgl. S. 240). Eine neue Forschungsperspektive sieht Georg Stauth in diesem Zusammenhang in der “Soziologie der Entgrenzung”, die dem Problem nachgeht, wie sich Aneignungen der Idee “Islam” im Rahmen von Ordnungsvorstellungen transformieren und wie sich lokale Ordnungsvisionen in verschiedene Ideen vom Islam überführen (vgl. S. 258). Entscheidend sind für den Autor hier die “Wert-Umwertungen” und Transgressionen hergebrachter Ordnungsvisionen, die neue Lebensstile und eine Öffnung des sozialen und geographischen Horizonts produzieren und gleichzeitig mit einer “politischen Rationalisierung der Religion” einher gehen (vg. S. 255). In diesem Prozeß pluralisiere sich die Aneignung des Islams auf der Ebene der Alltagsinteraktionen, die wiederum von “quergelagerten” universell wirksam werdenden Wandlungsdynamiken bestimmt seien. Die faktische Differenzierung der islamischen Ideen und Projekte geben in den Augen Stauths den lokalen Gemeinschaften eine strategische Bedeutung, die gleichzeitig auf die moderne Rolle “des Islams” verweist (vgl. S. 266).

Published 1 October 2001
Original in German
First published by Mittelweg 36

Contributed by Mittelweg 36 © Nikola Tietze / Mittelweg 36 / Eurozine

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