So viel Österreich

Mutmaßungen über die Erfindung eines Landes

I.

Zwei Bücher, in denen ich nachschlage, während ich diesen Essay verfasse, liegen neben mir auf dem Schreibtisch, das eine, ältere ist nicht einmal halb so groß wie das andere, neue, ganz gegenwärtige. Beide haben denselben Titel: Österreich, das eine ist aus dem Jahre 1948, das andere aus dem Jahre 2010. Von dem einen, von Ernst Marboe zusammen mit einem Redaktionsteam im Auftrag des Bundespressedienstes in der Österreichischen Staatsdruckerei herausgegeben, glaube ich inzwischen mit einiger Bestimmtheit, dass es sich in der Austriaca-Sammlung der elterlichen Bibliothek, genauer in deren mütterlichem Teilbereich befunden hat. Oder ich hab es in der Bibliothek meiner Tante gesehen, einer verlässlich konservativen Amtsrätin im Außenministerium. Österreich war schon deshalb ein Thema in unserer Familie, weil mein Vater einer jener Deutschen war, die Österreich so lange und innig liebten, wie es keinen staatlichen Eigensinn entwickelte. Das scheint mir aktuell zu sein, denn das Gefährliche an den Deutschen ist aus der Sicht des gelernten Österreichers, dass jene, ganz anders als alle anderen Nachbarn, sich in dem niedlichen und gemütlichen Nachbarland so heimisch fühlen und in einem Akt von halbbewusster Wahrnehmungsverweigerung die kleinen Unterschiede oft gerne übersehen wollen.

Das Buch von Ernst Marboe war medientechnisch gesehen schon anno 1948 absichtsvoll antiquiert und verströmte das Aroma von sehr viel Vergangenheit. Das Buch mit dem hellrotbraunen Einband und dem goldenen Rautenmuster unter dem Schutzumschlag korrespondierte mit der Konservativität des Autorenteams – darunter Fritz Heer und Hans Koren. In seiner ganzen Diktion erinnert es mich an jene patriotischen Autoren, die, oftmals nicht ganz ohne völkisches Intermezzo in den Jahren zwischen 1938 und 1945, Österreich nach dem Zusammenbruch von Hitlers Deutschland etwas zu angestrengt zu lieben begannen. Es erinnert mich an Leseabende in der Familie, in denen mein älterer Bruder meiner Mutter und mir – ohne den abwesenden Vater versteht sich – Bücher wie zum Beispiel Bruno Brehms Zu früh und zu spät vorzulesen hatte oder wir gemeinsam die Skierfolge von Karl Schranz bejubelten. Das 1936 zum ersten Mal publizierte Buch Brehms erschien nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Jahreszusatz 1809, und sein Beinahe-Held ist natürlich jener Erzherzog Karl, dem es, wie sattsam bekannt, nur einmal gelang, Napoleon zu schlagen, eine Vorwegnahme all jener vielen militärischen Pannen und Niederlagen, die die Habsburgermonarchie fünfzig Jahre später erlitt. Eine frühe und folgenreiche Übung und Einübung in den österreichischen Patriotismus könnte man dies nennen.

Das andere, mindestens ebenso denk- wie merkwürdige Buch hat einen jener nichtssagenden Untertitel, wie man ihn von solchen Büchern kennt, die ich als Jubiläumsbücher ohne Jubiläum bezeichnen möchte. Herausgegeben ist dieses Buch von einer der schillerndsten Figuren der Zweiten Republik, dem ehemaligen sozialdemokratischen Finanzminister und Vizekanzler Hannes Androsch, der sich in dem 3,5 Kilo schweren und dickleibigen Buch selbst als Historiker versucht und um sich ein gesamtösterreichisches großkoalitionäres Autorenteam versammelt: Adam Wandruszka, Karl W. Schwarz, Peter Kampits, Wendelin Schmidt-Dengler, Anton Pelinka oder Gerald Stourzh. Ehrenwerte Namen einer abtretenden und abgetretenen Generation, die sich noch einmal an den großen Narrativen abarbeiten, die die imaginäre Nation Österreich zusammenhält.

Freilich wäre es allzu billig, über diese großspurigen und zugleich tönernen Selbstfeierlichkeiten einfach zu lachen; viel angemessener erscheint es mir, beide Formate einer gleichsam symptomatischen Lektüre zu unterziehen, die auf etwas ganz anderes verweist: auf die Schütterkeit und Unsicherheit jenes selbsterfundenen Gebildes, das auf den Buchdeckeln beider Bücher aufscheint: Österreich. Es handelt sich um eine Brüchigkeit, für die mir die Formel der Eigenschaftslosigkeit, die Robert Menasse in seinem noch immer anregenden und aktuellen Essay von Musils Roman auf die Zweite Republik übertragen hat.

II.

Die beiden Buchprojekte, eigentümliche Formen repräsentativer Selbstwerbung, die mehr als sechzig Jahre voneinander trennt und die trotz aller Unterschiede doch erstaunliche Gemeinsamkeiten haben, sind hochkarätiges Quellenmaterial für die Analyse jenes Prozesses, den man seit Benedict Anderson als Nationsbildung oder als die Konstituierung imaginärer Gemeinschaften bezeichnet. Imaginär an diesen ist, dass sie abstrakt und konkret zugleich sind, abstrakt, weil sie auf eine nicht greifbare staatliche Entität verweisen, konkret, weil sie dank medialer Formatierung sich den Anschein personaler Konkretheit geben. Ich meine den symbolischen Bestand an Erzählungen und stereotypen Bildkomplexen, die Österreich konstituieren. So enthält der opulente Band des ehemaligen sozialdemokratischen Vizekanzlers einen Foto-Essay von Peter Rigaud, wo ganz ohne Ironie alles aufgeboten wird, was österreichisch ist und sein soll: von den Lipizzanern bis zu den Alpenmilch-Kühen, von den Wiener Sängerknaben bis zur Mehlspeise, von Fronleichnam bis zu den Weinbauern. Der Naschmarkt als Multikulti-Bereich fügt sich da als neues Element ganz gut ein.

Nationen sind bekanntlich Gemeinschaften, die durch die Wiederholung von narrativen Kernbeständen immer aufs Neue erfunden werden, und das ist auch so zu verstehen, dass sie dadurch charakterisiert sind, was sie nicht erzählen. So präsentiert Ernst Marboes Band in einem “Illustrierten Feuilleton”, wie das so hübsch heißt, seinem Nachkriegspublikum eine höchst selektive und gefällige Auswahl aus jenem Erzählbestand, der Österreich bildet: die Türkenbelagerung anno 1683, das Barock und die Ringstraße, Grillparzer und “Metternichs Politik der europäischen Mitte”, Musik und viele Habsburgica. Mehr als ein Drittel nimmt die Folklore der österreichischen Bundesländer ein; aber auch der dritte Teil “Von der ersten zur zweiten Republik” konzentriert sich überwiegend auf Kulturgeschichtliches (Gastronomie, spanische Reitschule, Augarten-Porzellan), um den Österreich-Reigen sodann mit dem programmatischen Kapitel “Österreich – Europas Jedermannsland” zu beschließen. Der Band von 1948, der mit bewusst historisierenden Illustrationen von Eugenie und Hans Robert Pippal und anderen ausgestattet ist, enthält im Übrigen bereits nahezu alle Themen der diversen Landesausstellungen der 1970er- und 1980er-Jahre.

1948 gehört in das Umfeld der Gründerjahre Österreichs als einer kleinen und zugleich jungen Nation. Zur Logik des Nationalismus, wie sie Hobsbawm beschrieben hat, gehören nicht nur die erfundenen Traditionen, sondern auch das schmeichlerische Selbstbild juveniler Dynamik. Das Bemerkenswerte am österreichischen nation building nach 1945 stellt der Umstand dar, dass dieses Moment beinahe völlig fehlt. In dem selbstgestrickten narrativen Gewebe gibt es keine wirklichen Helden und schon gar nicht eine dynamische Gegenwart. Diese wird Androschs Band gleichsam im Pantheon österreichischer Sportler nachreichen, die beide Momente enthalten: Jugendlichkeit und Frische und ein zeitgemäßes Heldentum, ein Surrogat für die fehlenden Helden der Geschichte. Denn wenn man eines über die langlebigste Adelsfamilie auf dem Kontinent sagen kann, dann ist es ihre ungeheure Mediokrität, ihr Misstrauen gegenüber Größe. Kein Wunder, dass der einzige klassische Held der österreichischen Geschichte, Prinz Eugen, ebenso wenig ein Einheimischer war wie Österreichs wichtigster Politiker im 19. Jahrhundert: Metternich.

III.

Was in Marboes Band nicht erzählt werden kann, darf und soll, lässt sich an fünf Fingern abzählen: die Konflikte in der späten Monarchie, die Geschichte der Gegenreformation, die Traditionen des Antisemitismus, der Nationalsozialismus und der Bürgerkrieg. Hitler und der Nationalsozialismus kommen im Register des Bandes erst gar nicht vor. Die einschlägigen historischen Daten finden sich als verschämt-kursive Anmerkungen am Rande des fortlaufenden Textes. Von Verdrängung also keine Rede. Vielmehr wird ein absichtsvolles Schweigen inszeniert, das damals jeder versteht. Scham spielt da ebenso eine Rolle wie die Angst vor Geschichten, die Uneinigkeit stiften könnten. Aber der eigentliche narrative Clou des Bandes besteht darin, wie er das Rote Wien organisch mit dem Ständestaat verknüpft, so als sei Letzterer nur eine konsequente Weiterentwicklung des Ersteren. So wird der Karl-Marx-Hof zum Pendant der Wiener Höhenstraße. Noch Wolfgang Kos’ Ausstellung über den Kampf um Wien hat, freilich unter einer kritischen Perspektive, diesen Zusammenhang suggeriert.

So viele anmutige, liebevolle und gefällige Geschichten!
Das Schmerzvolle und Brüchige ist indes nicht zu übersehen und es macht die Causa Österreich denn in der Tat so einmalig. Nationen müssen aufgrund der ihr zu Grunde liegenden narrativen Logik positiv und erfolgreich, aber auch möglichst alt und jung zugleich sein. Das hängt wohl damit zusammen, dass Geschichte und Geschichten Identitäten konstruieren. Je weiter sich die Geschichte eines Volkes zurückdatieren lässt, umso dauerhafter und gefestigter stellt sich dessen Identität dar. Mozart und die österreichischen Adler sind für die Schaffung des eigenen Selbstbewusstseins heutzutage unverzichtbar, aber ihnen fehlt doch das Alter, die Tiefendimension des beziehungsweise der Tausender. Mit den Jahren und Jahrtausenden wächst nämlich der Schein der Natürlichkeit jener Identitätskonstruktionen, die eben nicht evident, sondern das Ergebnis von narrativen Kalkülen der Gegenwart sind. Im Potlatsch der Altehrwürdigkeit hält der Band von 1948 ein Atout in der Hand. Zwar kannten die alten Griechen Österreich noch nicht, aber immerhin gibt es ja schon die Römer. Vor allem aber gibt es die Venus von Willendorf, die erste nachweisliche Frau auf österreichischem Boden, und die hat doch ein stattliches Alter, das nur mehr in der Tausender-Dimension zu erfassen ist und Abraham und Aristoteles in den Schatten stellt.

Die Venus ist von zwei Sätzen in fiktiv alten Lettern umgeben. Beide Sätze sind beredt: “Wer Österreich auf dem Weltglobus sucht, muss den runden Erdball langsam um seine schiefe Achse drehen, sonst könnte er das Austria des XX. Jahrhunderts leichthin übersehen.” Der andere ebenso symptomatische Satz, eine Frage, lautet: “Wo liegt das vielgenannte Österreich überhaupt? Welches ist sein Platz in Raum und Zeit, in Geschichte und Kultur?”

IV.

Das eigentliche Narrativ, das der jungen Nation Österreich anno 1948 zu Grunde liegt, ist die narzisstische Kränkung. Deshalb und nur deshalb kommt es (bis heute) von seiner Vergangenheit nicht los, kann es sich nicht von seiner einstigen Größe lossagen. Mit Sigmund Freud gesprochen basiert die österreichische Identität seit 1918 auf einer anscheinend unaufkündbaren Melancholie. Für Freud ist der Melancholiker nämlich dadurch charakterisiert, dass er sich nicht von seinem abhanden gekommenen Liebesobjekt zu trennen vermag. Es mag schon sein, dass, wie Franz Schuh meint, Österreichs Identität politisch stärker auf der Legende der immerwährenden Neutralität oder auf Zwentendorf, zweier unschlagbarer goodies, beruht. Aber unter diesen post-historischen Erzählungen lagert noch immer der habsburgische Komplex. Man kann das an den Ausstattungen vieler österreichischer Botschaften ebenso ersehen wie an dem politischen Stehsatz, dass wir, wenn nicht politisch, so doch kulturell eine Großmacht in der Welt darstellen.

Hinter den offiziellen und halb-offiziellen Selbstdarstellungen unseres Landes lugt die Angst hervor, wir könnten in und vor allem von der großen weiten Welt übersehen werden, weil wir so klein (geworden) sind. Deshalb und wegen der Unsicherheiten, die auch eine Folge unserer belastenden Geschichte sind, kommen wir nicht los von dem Zwang, beständig über uns reden, sprechen und erzählen zu müssen. Die österreichische Literatur, der im Androsch-Band zwei Aufsätze gewidmet sind, legt dafür ein eindrucksvolles Zeugnis ab, vor allem jene Literatur, die auf die Restaurationsphase zwischen 1945 und 1968 gefolgt ist. All diese Momente machen ganz unfreiwillig und en passant das ganz und gar Besondere und Einmalige der symbolischen Konstruktion Österreichs, einen Staat auf der Basis einer Kette von Niederlagen und Katastrophen aufbauen zu müssen. Man mag die Naivität des Österreich-Bandes von 1948 belächeln, aber diese Paradoxie war dem Team um Ernst Marboe immerhin bewusst.

Von diesem Erzählzwang beseelt und besessen – und das macht den Band von 2010 eigentlich erschreckender als jenen von 1948 – ist auch das von Hannes Androsch inszenierte Buch. In atemberaubender Analogie mit Augustinus greift es die schmerzhafte Frage der Nichtigkeit des kleinen Österreich noch einmal auf, ohne freilich Bezug auf das Österreich-Buch von 1948 zu nehmen. Von Augustinus stammt das Paradox, dass uns die Zeit selbstverständlich erscheint, wenn wir nicht über sie nachdenken. Wenn wir indes über das Wesen und die Beschaffenheit der Zeit zu meditieren beginnen, dann wird uns diese merkwürdig fremd und unselbstverständlich. Ähnlich verhalte es sich, so die Argumentation des Herausgebers, auch mit Österreich.

V.

Wer ist eigentlich das Publikum all dieser und anderer Austriaca? Vordergründig das Publikum der großen weiten Welt, dem Österreich in der Wahrnehmung bislang entgangen ist, in Wirklichkeit aber sind solche Bücher doch mehr oder weniger für den heimischen Bedarf gemacht. Der stumme Dialog mit der Welt da draußen ist mehr oder minder imaginär. Wir bedürfen dieses Luxus der Selbstfeier, weil wir unserer selbst nicht so sicher sind. Und wie Augustinus im Hinblick auf die Zeit können wir rufen: Es gibt uns wirklich und doch. Deshalb auch müssen wir uns immer wieder laut vorsagen, wer wir eigentlich sind und wie ungerecht es doch ist, dass wir so leicht übersehen werden. Es ist kein Zufall, dass der schwergewichtige und preziöse Band von 2010 ebenso wenig ohne die grandiose imperiale Vorgeschichte der Zweiten Republik auskommt wie sein konservatives Pendant von 1948. Es sind nicht weniger als sechs Beiträge, die sich mit der Geschichte des großen Reiches und des kleinen Landes beschäftigen. Selbst dieses sozialdemokratische Buchprojekt, in dem die Geschichte des Roten Wien – anders als die Kreisky-Ära – übrigens kaum vorkommt, kann diesen Bruch nicht positiv auflösen, weil die habsburgische Vergangenheit noch immer ein symbolisches Kapital darstellt, mit dem wenigstens für die Vergangenheit Größe reklamiert werden kann. Ohne diese Vergangenheit sind wir scheinbar nichts. Aus der Geschichte spult sich all das andere wie von selbst ab: Kunst, Musik, Literatur, Architektur, Religion, Kulinarik, Sport und Mode. War 1948 der Sport nur eine Fußnote, so ist er 2010 auf ein beträchtliches Maß angeschwollen.

Dass ein Land auch Nachbarn hat, ist dem klassischen Nationalismus, der auf dem Prinzip des binären Ausschlusses beruht, eigentlich wesensfremd. Im Falle Österreichs kommt dabei ein weiteres verstecktes und verdecktes Narrativ ins Spiel. Dieses hat einen Namen: Deutschland. Deutschland ist jenes Land, das für die Setzung von Differenz besonders wichtig und zugleich außerordentlich schwierig ist. Und es ist das Land, das nach der Katastrophe von 1945 im Gegensatz zu Österreich weltweit heute mehr denn je sichtbar ist. So ist es bestimmt kein Zufall, dass das Fremde in der Publikation von 2010 eine Stimme hat, nämlich eine deutsche in Gestalt des renommierten Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung Michael Frank. Alle anderen Nachbarn Österreichs kommen in diesem Band ebenso wenig vor wie die aktuellen – internen wie externen – Probleme jenes Landes, das Marboe und sein Team hintersinnig-kalauernd als “Europas Jedermannsland” bezeichnet hatten. Für das Androsch-Team scheint Europa kaum eine Zeile wert.

Selbstredend werden 2010 die Leerstellen von 1948 – mit Maßen – thematisiert. Dass das Androsch-Buch ein so eindrucksvolles wie tönernes und verstörendes Zeitdokument darstellt, verdankt sich dem Umstand, dass es scheinbar noch immer solch traditioneller und linearer Geschichten bedarf. Wie viel unendlich viel Intelligenteres hätte mit diesem nicht nur finanziellen Aufwand bewerkstelligt werden können als dieses staatsmännische Elaborat, das sich ausnimmt als hätte es der HBP selbst als Geschenk für seine Staatsgäste und für seine einheimischen Besucher ediert! Österreich, so scheint es, ist noch immer in den Imaginationen des historischen Bewusstseins des 19. Jahrhunderts befangen, wie sie Hayden White so luzide in seiner bahnbrechenden Untersuchung Metahistory beschrieben hat. Ganz nebenbei finden sich in diesem großkoalitionär konzipierten Band keine Spuren eines linken demokratischen Eigensinns, sozusagen eine versteckte Debatte über die Gegenwart, über die Zukunft eben jenes Nationalstaates, der wir nun endlich sind; über unser Verhältnis zu unseren (nicht-deutschen) Nachbarn, über die Krise der europäischen Demokratie, die neuen Wellen der Migration und jene der politischen Linken. Stattdessen leiden wir noch immer an unserer Kleinheit, an unserem großen Nachbarn, an unserer geringen Präsenz in der Welt, an unserer Unselbstverständlichkeit. Die Weltgeschichte hat uns ungerecht behandelt.
Davon sind auch unsere ungarischen Nachbarn überzeugt. Aber anders als wir scheinen diese zu wissen, wer sie sind, nämlich etwas ganz Besonderes, das Fremde im Eigenen. Weil sie etwa sprachlich so ganz anders sind als ihre Nachbarn, wissen sie immer schon, wer sie sind. Fremde. Wenn wir diese Formel drehen und umkehren, dann wären wir, die sich beständig um uns selbst drehen, im Gegensatz dazu Eigene im Fremden. Aus der daraus sich ergebenden Fragilität und Eigen-Schwäche vermögen wir noch wenig Produktives zu machen. Schon gar nicht in der Politik.

Was in den österreichischen Selbstbespiegelungen so unendlich kurz kommt, 1948 wie 2010, das ist nämlich ein unverwechselbarer und kraftvoller Gestus des Politischen. Dieses Österreich ist, entgegen jenen Erzählungen, die symbolische Maschinerien der Kontingenzvernichtung sind, und unpathetisch betrachtet, ein durchaus passabler, historisch mehr oder minder zufälliger Rahmen, eine Begrenzung, innerhalb derer politischer Gestaltungswille gefragt wäre. Der neue Nationalismus, wie er sich nicht allein in Österreich ausbreitet, wendet sich vermehrt jenem Rahmen zu, anstatt den Raum, der durch den Rahmen entsteht, zu füllen, politisch und kulturell. Im Gegensatz zu den Suggestionen essenzialistischer Identitätskonstruktionen sind Identitäten höchst wandelbar, eben weil sie das Ergebnis symbolischer Akte und Repräsentationen sind, vor allem von Erzählungen, das heißt Manifestationen aus dem Zeithorizont einer sich stets verändernden Gegenwart. Es könnte indes sein, dass Androschs Österreich-Band vielleicht doch ein Ende in einer langen Reihe von kollektiven Selbstlob-Büchern darstellt. Pathos-Verlust ist als Antwort auf falsche Pracht in Wort und Bild in jedem Fall angebracht.

Literatur:

Ernst Marboe (Hg.): Das Österreich-Buch. Wien: Österreichische Staatsdruckerei 1948.

Hannes Androsch (Hg.): Österreich. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. Wien: Brandstätter 2010.

Franz Schuh: Das phantasierte Exil. Essays. Klagenfurt: Ritter 1991.

Robert Menasse: Das Land ohne Eigenschaften. Essay zur österreichischen Identität. Wien: Sonderzahl 1992 (überarbeitete Neuauflage Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995).

Isolde Charim/Doron Rabinovici (Hg.): Österreich. Berichte aus Quarantanien. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000.

Wolfgang Müller-Funk: Komplex Österreich. Fragmente zu einer Geschichte der modernen österreichischen Literatur. Wien: Sonderzahl 2009.

Published 8 November 2011
Original in German
First published by Wespennest 161 (2011)

© Wolfgang Müller-Funk / Wespennest / Eurozine

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