Shopping town USA

Victor Gruen, der Kalte Krieg und die Shopping Mall

Im Jahr 1943 lud die US-amerikanische Zeitschrift “Architectural Forum” Victor Gruen und seine Frau Elsie Krummeck ein, an einem Austausch von Visionen zur architektonischen Gestaltung der Nachkriegszeit teilzunehmen. Die Redakteure der Nummer “Architecture 194x” forderten anerkannte Modernisten wie Mies van der Rohe und Charles Eames auf, Teile einer Modellstadt für das Jahr 194x zu entwerfen, also für jenes unbekannte Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg zu Ende sein würde.[1] Das Architekturbüro Gruen & Krummeck Partnership sollte einen Prototyp für ein “regional shopping center” entwerfen. In ihren Vorgaben siedelten sie das Einkaufszentrum am Stadtrand auf einer Verkehrsinsel zwischen zwei Schnellstraßen an; es sollte die Fußgängerzone im Zentrum der Stadt – Downtown – ergänzen. “Wie kann Shopping einladender gestaltet werden?”, fragten die Redakteure Gruen und Krummeck, die zum Zeitpunkt des Wettbewerbs für ihre spektakulären Glasdesigns von Boutiquen auf der Fifth Avenue und von nationalen Warenhausketten am Stadtrand bekannt waren.[2]

Die beiden reagierten auf den Auftrag, ein “kleines Nachbarschaftseinkaufszentrum” zu gestalten mit einem Entwurf, der die vorgegebene Größe und Funktion des Zentrums weit überschritt. Das Projekt, so erklärte Gruen später, spiegelte die Unzufriedenheit des Paars in der Stadt Los Angeles wider, wo lange Distanzen zwischen den Geschäften, regelmäßige Verkehrsstaus und fehlende Fußgängerzonen das Einkaufen zur lästigen Arbeit machten. Gruen und Krummeck sahen in Los Angeles die Blaupause eines “automobilreichen Nachkriegs-Amerika”. Ihr Gegenentwurf orientierte sich an den traditionellen Hauptplätzen europäischer Städte. Ausgehend davon schlugen sie zwei zentrale strukturelle Interventionen vor: Erstens, das Auto und die Einkaufenden sollten zwei getrennten räumlichen Einheiten zugeordnet und zweitens, Konsum- und Zivilräume zusammengeführt werden. Auf Basis dieser Prämisse entwarfen Gruen und Krummeck ein Zentrum, das um einen weitläufigen, grünen Platz organisiert war – mit Gartenrestaurants, Milchbars und Musikständen. Der Entwurf integrierte 28 Geschäfte und 13 öffentliche Einrichtungen; zu letzteren gehörten eine Bibliothek, eine Post, ein Theater, ein Vortragssaal, ein Club, ein Kindergarten, ein Spielraum und ein Ponystall.[3]

Die Redakteure von “Architectural Forum” wiesen Gruens und Krummecks Entwurf zurück. Sie bestanden auf einem reduzierten “regional shopping center” und forderten die beiden auf, das eingereichte Projekt in diesem Sinn zu überarbeiten. Gruen und Krummeck reagierten mit einer, wie sich später erweisen sollte, entscheidenden Anpassung: Sie gaben die Idee eines grünen Platzes im Zentrum des Komplexes auf und schlugen den Bau eines geschlossenen, runden Gebäudes aus Glas vor. Den nach innen gerichteten Shoppingkomplex umgaben sie mit zwei Ringen. Der erste Ring sollte als Fußgängerzone dienen, der zweite als Parkplatz. Auch dieser Entwurf gefiel nicht. George Nelson, der Chefredakteur, war entsetzt und argumentierte, dass mit dem zentralen Platz auch der Ort des Verweilens und Flanierens verloren gegangen sei.[4] Für ihn war das Einkaufszentrum als geschlossener Raum nicht vorstellbar. So reichten Gruen und Krummeck letztendlich den Entwurf eines konventionellen Einkaufszentrums ein, mit U-förmig um einen Hof arrangierten Geschäften. Offensichtlich waren jene, die wenige Jahre später das geschlossene Shoppingcenter euphorisch feiern sollten, noch nicht aktiv. Erst zehn Jahre später gelang es Gruen, zwei führende Kaufhaus-Betreiber von der Profitabilität eines in sich geschlossenen Einkaufszentrums zu überzeugen. Unter Ausschluss von Autos, Straßenhändlern, Tieren und anderen potentiellen Störfaktoren und unterstützt von Überwachungstechnologie, verkörperte die Shopping Mall dann die idealtypischen Werte suburbanen Lifestyles – Ordnung, Sauberkeit und Sicherheit.[5] Die öffentliche Einschätzung von Gruens “Architektur der Introversion” änderte sich also im Zuge der 1950er Jahre grundlegend. Was im Detail hatte zu dieser revidierten Evaluation eines geschlossenen, nach innen gerichteten Konsumraumes geführt?

Konsumismus und die Politik der “Eindämmung”

Die Transformation der von Gruen und Krummeck entworfenen Shoppingräume – formal vom Prinzip der Offenheit hin zu jenem der Abgeschlossenheit, in Hinblick auf das Material der Wechsel von Glas zu Zement – kann heute als Manifestation jener tektonischen Verschiebung interpretiert werden, die die politische und kulturelle Landschaft Nachkriegsamerikas erfasst hatte. Gruens zweite Frau und langjährige Partnerin, Elsie Krummeck, die bis zur Geburt ihres zweiten Kindes und der bald folgenden Scheidung an der Entwicklung dieses neuen Bautypus beteiligt war, kommt in der offiziellen Gruen-Historiographie kaum vor. Heute gilt Victor Gruen als der Erfinder der Shopping Mall.

Zwischen Mitte der 1940er Jahre und 1957, im Zuge des Aufkommens einer radikal bipolaren Welt, verschob sich die kollektive Moral der US-Nation von einer bestätigenden Feier des Kriegssieges zu einem ängstlichen Erwarten des Totalen Kriegs. Die geteilte Angst vor dem Dritten Weltkrieg wurde oft verglichen mit einem “Fieber, das die Nation nicht abschütteln konnte”.[6] In einem derart von Angst saturierten Kontext bot die “philosophy of containment” – die “Philosophie der Eindämmung” – ein Instrument zur ermächtigenden Kontrolle ebenso wie zum kontinuierlichen Schüren dieser kollektiven Angst. Und das hermetisch abgegrenzte Einkaufszentrum belieferte diese Philosophie mit einem konkreten Symbol, das zwei Funktionen in sich vereinte: Nach innen hin, also zu den Einkaufenden, signalisierte das Zentrum Sicherheit, Schutz und Zuflucht. Es versorgte die ‘entwurzelten’ BewohnerInnen der aus dem Boden gestampften, suburbanen Landschaften mit einem sinnstiftenden, affektiven Anker. Nach außen, zur rivalisierenden Sowjetunion und den Sympathisanten des Kommunismus, signalisierte das Einkaufszentrum die Überlegenheit des Kapitalismus; es galt als materialisierter Beweis für die Prinzipien des sozialen Egalitarismus und für die Freiheit der Wahl, die dem Konsumismus eingeschrieben waren.

Mit seiner Ikonographie des Bunkers bot das Einkaufszentrum eine räumliche Übersetzung der außenpolitischen Strategie der “Eindämmung” und etablierte damit die materialisierte Voraussetzung für weitere, subtilere Formen der sozialen und kulturellen “Eindämmung”. Das Einkaufszentrum unterstützte etwa die “Eindämmung” von Frauen, die sich nach der Rückkehr der männlichen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Erwerbsmarkt zurückgezogen hatten und ihre Arbeitskraft in Kindererziehung, Hausarbeit und Konsum investierten. Und es bot den weißen BewohnerInnen der Vorstadt eine bewachte Sicherheitszone, die zwar Urbanität simulierte, aber zugleich Homogenität versicherte. Aufgrund dieser Konstellation ist die Geschichte des Einkaufszentrums unvermeidlich auch an eine Geschichte der rassistischen Politik geknüpft.

Victor Gruen, geboren 1903 als Victor David Grünbaum, war in Wien aufgewachsen; vier Monate nach dem “Anschluss” Österreichs gelang ihm 1938 die Flucht in die USA. Als der jüdische Emigrant begann, das Konzept des “regional shopping centers” zu bewerben, argumentierte er, dass alle großen europäischen Städte auf eine solide Kombination aus kommerziellem und sozialem Raum gebaut waren. Im Gegensatz dazu, so insistierte Gruen, stellten die amerikanischen Vorstädte mono-funktionale Teppichlandschaften dar, die sich aus Ansammlungen individueller Eigenheime zusammensetzten. Zur Stärkung des zivil-gesellschaftlichen Lebens in den öden Ausdehnungen schlug Gruen vor, diese mit sogenannten “Shopping Towns” zu versetzen. Als ein Mann mit großen Visionen propagierte der selbsternannte “people’s architect” den Bau gigantischer Projekte, die kommerzielle und zivilgesellschaftliche Aktivitäten in sich vereinten und isolierten Hausfrauen, einsamen PensionistInnen und streunenden Teenagern einen Ort zum Verweilen boten.[7]

Es war nicht einfach, Sponsoren für Projekte dieser Größenordnung zu finden. Gruen musste seine Ideen vermarkten. Er nützte die Angst im Kalten Krieg und bewarb die Shopping Mall als Bunker- und Evakuationszone im Falle eines kriegerischen Angriffs, obwohl er im Vorkriegs-Wien als engagierter Sozialist im Politischen Kabarett aktiv gewesen war; und er versprach die Materialisierung von Konsumträumen, obwohl er selbst das Einkaufen hasste.[8] Als Gruen später seine architektonischen Träume realisieren konnte, versinnbildlichte die Shopping Mall etwas weit größeres als von ihm selbst in seinen Konzepten vorgesehen. Zwischen Gruens erstem Entwurf aus dem Jahr 1943 und dem Boom von Einkaufszentren eineinhalb Jahrzehnte später hatte sich die Rolle des Konsumismus in den USA grundlegend verändert: Konsumismus war nicht mehr eine, sondern die treibende Kraft im Nachkriegsamerika. Deshalb ist die Lebensgeschichte Gruens eng mit einer der Tragödie des Kapitalismus verknüpft: Innerhalb von fünfzehn Jahren absorbierten Kommerz und Profitgier der Immobilienspekulanten sämtliche zivil-gesellschaftlichen Räume, die Gruen ursprünglich in den Entwurf der Shopping Mall eingeschrieben hatte. Aus den polyfunktionalen “Shopping Towns” wurden gigantische Verkaufsmaschinen, die im Dienste der beiden axiomatischen Prinzipien standen, welche die Zeit definierten: Konsumismus und die “Politik der Eindämmung”.

Angst und Suburbanisierung

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg empfahl der in Moskau stationierte US-Botschafter George Kennan der anscheinend Furcht erregenden Ausweitung des Kommunismus mit einer sogenannten “Politik der Eindämmung” entgegenzuwirken. Die US-amerikanische Außenpolitik versuchte in der Folge, den Kommunismus mit politischer Diplomatie, militärischen Interventionen und der verführerischen Macht des Konsums einzugrenzen. Während die Außenpolitik auf das Prinzip “Eindämmung” ausgerichtet war, setzte die zivile Verteidigung zu Hause auf das Prinzip “Zerstreuung”. Die innenpolitische Position bestätigte die bestehende urbane Zersiedelung, die bereits 1944 mit der Verabschiedung des “GI Gesetzes” initiiert worden war. Der “Serviceman’s Readjustment Act” (SRA) sollte eine besondere Anerkennung der von den rund 16 Millionen GIs des Zweiten Weltkriegs geleisteten Dienste darstellen; darüber hinaus sollte das Gesetz der drohenden Wohnungskrise entgegenwirken und die Nachkriegswirtschaft stimulieren. Der SRA bot den ehemaligen Soldaten eine staatliche Kreditgarantie, die ihnen ermöglichte, ohne Baranzahlung ein Eigenheim zu kaufen. Fünf Millionen Veteranen kamen auf diese Weise zum Hausbesitz. In der Praxis waren dieser ‘Demokratisierung’ allerdings eindeutige Grenzen gesetzt: Bis in die späten 1950er Jahre verhinderten die Ausgrenzungspraktiken der Immobilienkonzerne und HausbesitzerInnen, die vielfach staatlich sanktioniert waren, die Expansion afro-amerikanischer InnenstadtbewohnerInnen in die Vorstadt. Öffentliche Förderungen wie das “GI Gesetz” wurden letztlich zur Stabilisierung rassistischer Segregation eingesetzt.

StadthistorikerInnen zufolge wurde die Flucht aus der Innenstadt in die Vorstadt außer durch den erwähnten Rassismus und die staatlichen Förderungen auch durch niedrige Immobilienpreise sowie Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum vorangetrieben. Oftmals wird argumentiert, dass das “GI Gesetz” die finanzielle Basis für die “Eroberung der suburbanen Front” durch die Veteranen bot, aber die mentalen und psychologischen Bedingungen, welche die Familien der Mittelschicht aus der Stadt trieben, über ein politisches Klima hergestellt worden waren, in dem ständig von urbaner Verletzlichkeit und einem drohenden Atomangriff die Rede war.[9]

Wie sehr das Stadtleben in der Öffentlichkeit problematisiert wurde, illustriert ein am 18. Dezember 1950 in der Zeitschrift “Life” veröffentlichter Artikel mit dem Titel, “How U. S. Cities Can Prepare for Atomic War”. US-amerikanische Städte seien die fragilsten Zielscheiben der Welt, konstatierte die Zeitschrift und warnte: Als erstes käme die unmittelbare und totale Zerstörung eines weiten Gebiets, mit Hunderttausenden Opfern; der Verkehr wäre lahm gelegt, Elektrizität und Wasser abgeschaltet, die Lebensmittelversorgung unterbrochen. Die Städte würden in einer panikartigen Flucht verlassen.

Die Zeitschrift druckte ein Interview mit Norbert Wiener ab, dem Erfinder der Kybernetik, der sich für die Einrichtung von “Life Belts”, von Lebensgürteln, am Stadtrand einsetzte. Diese Gürtel sollten die Suburbanisierung in Friedenszeiten und die Zivilverteidigung im Krieg unterstützen. Die Karte, die zur Illustration von Wieners Argumentation diente, zeigte den “Life Belt” einer nicht weiter identifizierten Stadt; er verband mehrere Spitäler, Lagerhallen, Werkstätten, Öllager, einen Bahnhof und ein Einkaufszentrum.[10] Das Einkaufszentrum war damit Bestandteil des zivilen Verteidigungsprogramms geworden.

Während die Zeitschrift “Life” sich mit der Frage beschäftigte, wie Städte umorganisiert werden sollten, um die Zahl der Opfer nach einem Atomangriff möglichst gering zu halten, griffen öffentliche Schulen in den als gefährdet erachteten Städten zu drastischeren Maßnahmen: Zwischen August 1950 und April 1951 führten öffentliche Schulen in New York City, Los Angeles, Chicago, Detroit, Milwaukee, Fort Worth, San Francisco und Philadelphia regelmäßig Luftangriffsübungen durch. Diese “Duck and Cover”-Übungen sollten das Bewusstsein der Gefahr schärfen und die Reaktion der Kinder naturalisieren. In New York verteilten die LehrerInnen öffentlicher Schulen Halsbänder an ihre SchülerInnen, um eine Identifikation der Leichen nach einem Angriff zu erleichtern.[11] Eine Politik der Angst war allgegenwärtig; Angst war in die Routinen des städtischen Alltags eingeschrieben.

1951 gipfelte das “Duck and Cover” in der Einführung des zivilen Verteidigungsprogramms “Federal Civil Defense Administration” (FCDA). Der Vorsitzende Millard Caldwell forderte ein Programm, das den Bau von öffentlichen Bunkeranlagen national koordinieren sollte, und motivierte zur “Stützung” bestehender Gebäude auf privater Basis. Ausgestattet mit einem lächerlich geringen Budget musste das Programm letztlich seine Mission auf Öffentlichkeitsarbeit reduzieren. Zur Verbreitung der Philosophie des “Duck and Cover” wurden Wanderausstellungen, zehn Millionen Comics und 55 Millionen brieftaschengroßer Karten produziert, die über die Schritte nach einem Angriff unterrichteten. FCDA produzierte auch “Bert, the Turtle”, einen Zeichentrickfilm über eine glücklich dahintrottende Schildkröte, die den ZuseherInnen zeigen sollte, wie man sich vor einer Atomexplosion schützt.[12]

Bei “Duck und Cover” dominierte weiterhin die populäre Imagination der zivilen Verteidigung, obwohl die wirtschaftsbewusste Regierung Eisenhower längst von Bunker- auf Evakuationsverfahren umgeschwenkt war, und Victor Gruen stand mit seinem neuen Partner Karl Van Leuven auf einem riesigen Feld zehn Kilometer außerhalb des Stadtzentrums von Detroit: “Da waren diese monströsen Maschinen, die die Erde umgruben, wegschoben und ein Gebiet von acht Quadratkilometern brachlegten”, erinnerte sich Van Leuven, der vor seinem Einstieg in die Firma Gruen & Krummeck Partnership beim Disney-Konzern gearbeitet hatte. Während sie den Planierraupen beim Niederwalzen des Areals zusahen, wandte sich Gruen zu Van Leuven und meinte: “Mein Gott, also wir haben wirklich Nerven.”[13]

Northland Center, Detroit

Seinen Ausführungen zufolge nahm Gruen erstmals 1948 mit dem führenden Kaufhauskonzern der J. L. Hudson Company Kontakt auf. Gruen stattete dem Hudson Kaufhaus in Downtown einen Besuch ab und schrieb dann dem Präsidenten Oscar Webber einen eindringlichen Brief, in dem er ihn aufforderte, die Abwanderung in die Vorstadt ernst zu nehmen und Filialen in den expandierenden Suburbs Detroits zu eröffnen.[14]

Drei Jahre später präsentierte Victor Gruens Architekturbüro dem Konzern ein 20-Jahresprogramm.[15] Um die führende Position, die Kaufhäuser bis dahin in den Stadtzentren gehabt hatten, auch im Kontext der Suburbanisierung halten zu können, hatten Gruen und Van Leuven ein Konzept entworfen, das vier regionale Einkaufszentren koordinierte. Eastland-, Northland-, Southland- und Westland Center sollten ihrer Vorstellung nach weit mehr sein als eine Ansammlung von Geschäften; die regionalen Einkaufszentren waren als “Kristallisationspunkte des kommunalen Lebens in der Vorstadt” gedacht. Ihr Standort lag ca. zehn Kilometer außerhalb der Innenstadt, im Zentrum der boomenden Vorstädte.[16]

Den Hintergrund dieser propagierten Geographie erläuterte Gruen ein paar Monate später in einer Ausgabe der Architekturzeitschrift “Progressive Architecture”. “Bringt Zerstreuung Sicherheit?”, fragten die Herausgeber und luden Gruen ein, seine Pläne für Hudson zu präsentieren. Sein Entwurf illustriere, betonte er, “wie vier massive Einkaufszentren, die entfernt von den industriellen Angriffszielen lokalisiert werden, die allgemeinen Bedürfnisse in Friedenszeiten befriedigen und, falls notwendig, in Kriegszeiten auch als Verteidigungszentrale zur Rehabilitation, Relokalisierung und Ersten Hilfe eingesetzt werden können.”[17]

Das Einkaufszentrum und – in Folge – die Shopping Mall wurden an der Schnittstelle zwischen der Politik des Kalten Krieges und des Nachkriegskapitalismus gezeugt. Sie sind Kinder der Nachkriegsängste und der Konsumträume und illustrieren als solche die Spannung zwischen der Angst vor der totalen Auslöschung und der Euphorie der Konsumutopie.[18] Es ist kein Zufall, dass das erste Einkaufszentrum in den USA gebaut wurde, während die Nation ihren ökonomischen Höhepunkt erreichte, und die BürgerInnen leidenschaftlich die Vor- und Nachteile von Bunkern versus Evakuationszonen debattierten. 1953 ließen monatlich 145.000 AmerikanerInnen ein neues Telefon anschließen; 600.000 AmerikanerInnen erstanden in diesem Jahr einen neuen Fernseher und eine halbe Million ein neues Auto.[19]

Bereits während des Zweiten Weltkriegs hatte Präsident Roosevelt wiederholt die konsumierende Heimatfront für militärische Zwecke mobilisiert. In Europa kämpften viele US-amerikanische Soldaten nicht nur gegen das nationalsozialistische Regime, sondern auch für die Durchsetzung eines “American way of life”, also für Fernsehapparate, Waschmaschinen und Autos. Nach dem Krieg bildete die Ideologie des Konsumismus die zentrale Ingredienz der amerikanischen Lebensweise. Und in diesem Zusammenhang wurde das Nachkriegsideal des Bürgers geboren oder vielmehr das der Bürgerin, die sich als Konsumentin definierte: Konsum wurde als privates Vergnügen und als zivile Pflicht definiert.[20]

Dieser spezifische Nexus von Kräften inspirierte Gruen sichtlich zum Denken im großen Stil. Das Northland Center war das erste der vier Zentren, die in der Vorstadt Detroits realisiert wurden. Der 30-Millionen-Dollar-Komplex, in dem ein Kaufhaus und bis zu hundert Geschäfte untergebracht waren, rekurrierte auf ein sogenanntes Cluster-Schema. Der Komplex bestand aus fünf Gebäuden, die U-förmig um einen Hof angeordnet waren, der mit Brunnen, Bänken, Skulpturen und Säulengängen ausgestattet wurde. An der Schnittstelle zwischen Hof und Schaufenstern stellte die Arkade ein, wie Gruen erklärte, “essentiell städtisches Ambiente” her.[21] Im Northland Center realisierte er einige jener architektonischen Elemente, die er gemeinsam mit Elsie Krummeck für das Einkaufszentrum im Kontext des Projekts “Architecture 194x” entworfen hatte. Dem Komplex waren ein riesiger Parkplatz und eine private Schnellstraße vorgelagert, das Zentrum beherbergte neben kommerziellen auch mehrere zivil-gesellschaftliche Einrichtungen wie einen Kindergarten, mehrere Konferenzräume und einen Zoo. Es sei, schwärmte Gruen bei der Eröffnungszeremonie am 22. März 1954, das “erste Einkaufszentrum der Zukunft”.[22]

Nicht zufällig war es Gruen gelungen, seine Vision einer Einkaufsstadt in Detroit zu realisieren: In der Zwei-Millionen-Einwohnerstadt waren die drei größten Autokonzerne – Chrysler, Ford und General Motors – beheimatet. Im Lauf der 1950er Jahre hatten diese eine wohlhabende Mittelschicht, mit signifikanter Kaufkraft hervorgebracht. Detroit war als ökonomisches Paradies bekannt; zugleich galt es aber aufgrund der Konzentration von Industriebetrieben als potentielle Zielscheibe eines atomaren Angriffs. Der Ford-Konzern hatte deshalb einen eigenen Bunker; die lokale Zivilverteidigung bot regelmäßig Kurse und Trainingseinheiten zur Vorbereitung für den Notfall an. Und die Stadt verfolgte einen aggressiven Dezentralisierungsplan.[23]

Als kumulatives Ergebnis dieser Bestrebungen galt Detroit als Musterbeispiel der Suburbanisierung. Wohlhabende, weiße InnenstadtbewohnerInnen zogen in die Vorstadt, wo sie sich in “sicheren”, das heißt ‘rassenspezifisch’ segregierten, Gegenden niederließen. Die Straßen, die zur Erschließung der vorstädtischen Projekte erforderlich waren, wurden nicht selten quer durch afro-amerikanische Arbeiterbezirke gelegt – die neue Stadtplanung zielte darauf ab, neue Lebensräume herzustellen und zugleich alte Problemzonen zu vernichten. Im Jahr 1953 ernannte Präsident Eisenhower Charles Erwin Wilson, den Präsidenten von General Motors (GM), zu seinem Verteidigungsminister. 1955 war GM der erste US-amerikanische Konzern, dessen Einnahmen die Ein-Milliarden-Dollar-Grenze überschritten, im selben Jahr gab GM stolz die Zerstörung des öffentlichen Straßenbahnnetzes bekannt und setzte damit einen entscheidenden Schritt in Richtung Privatisierung der Fortbewegungsindustrie.[24] Im Zuge der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen des Northland Centers im Jahr 2004 erinnerte die Zeitschrift “The Detroit Free Press” an Bürgermeister und Immobilienbüros, die Afro-AmerikanerInnen und andere ethnische Minderheiten daran gehindert hatten, sich in den vorstädtischen Neubaugebieten niederzulassen. Wenn schwarze BewohnerInnen dennoch den Versuch unternommen hatten, in Detroits Vorstadt zu ziehen, dann waren sie oder ihre Häuser nicht selten von den Nachbarn attackiert worden.[25]

Angesiedelt inmitten dieser sich ängstlich abschirmenden Communities, bot das erste regionale Einkaufszentrum den weißen VorstädterInnen einen sicheren und sauberen Mikrokosmos, der ihnen völlige Abkehr von der innerstädtischen Einkaufsstraße ermöglichte. Das Einkaufszentrum als hermetisch abgegrenzte, von einer Mauer umgebene Stadt markierte damit deutlich die Grenzen des Konzepts eines urbanen Knotenpunkts in der Vorstadt, das Gruen so lange propagiert hatte.[26] In seinen anfänglichen Entwürfen hatte er stets die Produktivität eines Konkurrenzverhältnisses zwischen suburbanen und innerstädtischen Einkaufszonen postuliert. Gruens Diagnose eines akuten Bedürfnisses nach Soziabilität in der Vorstadt war richtig gewesen, aber er hatte die ‘rassenspezifischen’ Implikationen dieses Bedürfnisses völlig unterschätzt. Das Einkaufszentrum war zwar vor dem Hintergrund der Ängste des Kalten Krieges und der Euphorie der Konsumutopie entworfen worden, aber seine Verbreitung wurde von dem Bedürfnis nach geografischer Abschirmung und, damit verbunden, dem Bedürfnis nach strategischer “Eindämmung” der Afro-AmerikanerInnen in der Innenstadt geschürt.

Öffentliche Förderungen unterstützten diese Trends unverblümt. Als 1954 die nationale Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen eine massive Fluchtbewegung – “White Flight” – und einen entsprechenden Bauboom in der Vorstadt auslöste, belohnte die Regierung Eisenhower die Besitzer der Einkaufszentren mit einem Bonus: Das Bundesprogramm mit dem Namen “accelerated depreciation”, also “beschleunigte Wertminderung”, ermöglichte den Inhabern kommerzieller Gebäude, ihre Baukosten von der Steuer abzuschreiben und dabei sogar völlig unabhängige Ausgaben abzurechnen. Da diese staatliche Unterstützung nur für neue Bauten in Anspruch genommen werden konnte, provozierte das Programm eine bis dahin beispiellose Vermehrung von Einkaufszentren. Unmittelbar nach Verabschiedung des Programms wurden in den USA 25 neue regionale Einkaufszentren gebaut.[27]

Little Mrs. Shopper

Dieser Ausbau von Konsumraum zeigte dezidierte Auswirkungen auf die Raumökonomie der Geschlechter. Im Zusammenhang mit seinen Plänen für die Einkaufsstadt hatte Gruen von Anfang an für sich in Anspruch genommen, für Frauen zu bauen. Die neuen Zentren sollten Frauen ihren Alltag erleichtern. “Neben dem Kochen verbringt die Hausfrau schrecklich viel Zeit beim Einkaufen”, konstatierte Gruen 1953 in einer Radiosendung. Ausgestattet mit mobilen Bauklötzen und Modellbäumen illustrierte er für die Moderatorin im Studio, wie “unsere Frau Shopper” Ruhe und Komfort in einem Einkaufszentrum finden kann, das von der “schmutzigen Hauptverkehrsstraße” entfernt und in einen “ruhigen Park” verlegt wird.[28] Nach Gruens Definition basierte Shopping auf einer Kombination aus Arbeit und Freizeit.[29] Das Einkaufszentrum sollte Frauen einen sozialen und kulturellen Ort bieten und der Isolation der Vorstadt entgegenwirken. Es sollte jenen Frauen das Leben erleichtern, die keinen Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln und Kinderbetreuungseinrichtungen hatten – Frauen, mit dem Gefühl, so Gruen, “dass ihr Leben leer und langweilig” sei, weil “es nichts zu tun gab in der Vorstadt”.[30]

Dass die Geschlechterpolitik der 1950er Jahre auf polarisierte Differenzierungen zurückgriff, ist heute fast schon ein Allgemeinplatz. Frauen, so suggerieren die historischen Dokumente, suchten angesichts der Kriegsbedrohung im privaten Raum Schutz. Während sie sich anscheinend in das Eigenheim zurückzogen, stand Männern eine andere Form von Selbstversicherung zur Verfügung: 1953, als das Männermagazin “Playboy” erstmals erschien, meinte der Chefredakteur Hugh Hefner die erotischen Fotos von Marilyn Monroe böten Männern “eine kleine Zerstreuung von den Ängsten des Atomzeitalters”.[31]

Empirische Daten bestätigen tendenziell die These von den 1950er Jahren als goldenem Zeitalter der amerikanischen Familie: In den Nachkriegsjahren heirateten junge amerikanische Frauen und Männer häufiger und früher als EuropäerInnen. Sie gründeten große Familien und wurden weit weniger oft geschieden als die Generation vor oder nach ihnen. “Die Strömung des Mainstreams war so stark, daß du dich nur einen Schritt vom Ufer entfernen mußtest und schon warst du im Hafen der Ehe und Mutterschaft gelandet”, erinnerte sich Brett Harvey in dem Buch “The Fifties: A Woman’s Oral History”.[32] Eingebettet in die Verklärung der Kleinfamilie wurde Hausarbeit nicht als Arbeit, sondern als persönliche Erfüllung definiert. Die Verpflichtung zur “expressiven Hausarbeit” verband sich mit dem verpflichtenden Konsum einer Bandbreite an Waren, die auf dem Versprechen beruhten, Hausarbeit in eine befriedigende Arbeit der Liebe zu verwandeln.[33]

Im Gegensatz zur gängigen Annahme, dass Frauen dieses Dezenniums ausschließlich als Hausfrauen und Mütter tätig gewesen seien, nahm die Teilnahme der Frauen am Erwerbsmarkt in diesen Jahren sukzessive zu. Ende der 1950er Jahre machten Frauen etwas mehr als 35 Prozent der nationalen Erwerbskraft aus.[34] Lizabeth Cohen und andere Feministinnen argumentieren, dass das Image der unterwürfigen Hausfrau, das vielfach an die 1950er Jahre geheftet wird, primär Ergebnis der sogenannten Depressionsjahre ist, also der 1920er und 30er Jahre, als erwerbslose Ehemänner und Väter sich nach geschlechtsspezifischer Ermächtigung sehnten und ihre Töchter und Ehefrauen sie in der Bestätigung des Images eines starken, männlichen Alleinerhalters unterstützten.[35] Parallel dazu war die Unterlegenheit der Frauen in den 1950er Jahren in den USA legal abgestützt: Frauen konnten selbst keinen Kredit aufnehmen, kein Haus kaufen, keine Versicherung abschließen oder einen Vertrag unterzeichnen.

Southdale Center, Minnesota

1952, während Gruen noch an dem Totalumbau der Stadt Detroit arbeitete, beauftragten ihn die Besitzer des Dayton Kaufhauses in Minnesota mit der Entwicklung eines, dem suburbanen Lebensstil angepassten, Kaufhaustypus. Gruen präsentierte in der Folge ein noch verwegeneres Konzept, als jenes, das er für Detroit entwickelt hatte. Er schlug vor, eine “umfassende neue Community”, also eine ganze Stadt, zu bauen. Allen Warnungen zum Trotz erwarb die Familie Dayton ein großes Grundstück zehn Kilometer außerhalb des Zentrums von Minneapolis. Für das Areal entwarf Gruen ein Projekt bestehend aus Wohnsiedlungen, Privathäusern, einem Park, medizinischem Zentrum, See, Straßennetz und einem einzigartigen Einkaufszentrum.[36] Modelliert nach der “Galeria” in Mailand entwickelte Gruen hier das Konzept eines Einkaufszentrums, das als die erste gänzlich geschlossene und künstlich klimatisierte Shopping Mall in die Geschichte eingehen sollte. Der Komplex war um ein überdachtes, hell beleuchtetes, zweistöckiges Atrium organisiert, in dem zwei Kaufhäuser und 72 Geschäfte untergebracht waren.

Das Southdale Center wurde 1956 eröffnet, die Presse feierte das 20-Millionen-Dollar-Projekt als Welterfolg. Die lokalen Zeitungen begrüßten die “lebendige Umgebung”; “Architectural Record” pries den Transfer des attraktiven “Außen nach innen”.[37] Aber bereits ein Jahr nach der Eröffnung brachte “Minneapolis Minn. Tribune” einen Artikel, der auf einen Widerspruch in Gruens konzeptioneller Triade Frauen-Kommerz-Gemeinschaftsleben verwies: Unter dem Titel “Vorstadt oder Zentrum? In welche Richtung wird Frau Shopper gehen?” wurde diskutiert, dass mit der Einführung des Einkaufszentrums “Mrs. Minneapolis Housewife” mehrere Einkaufsmöglichkeiten zur Verfügung standen. Die Hausfrau könne sich fein machen und in die Innenstadt gehen oder “die Kinder zusammensammeln und schnell einkaufen gehen – mit den Lockenwicklern in den Haaren”. Weil das Einkaufszentrum “konventionell und ungezwungen” sei, schloss die Zeitschrift, “gehört die Zukunft dem Einkaufszentrum”.[38]

Mit seiner Betonung der pragmatischen Funktionalität des Einkaufszentrums verwies der Artikel auf die Grenzen von Gruens Vision einer kollektiv geteilten Agora. Das Einkaufszentrum diente der alltäglichen Erleichterung der BewohnerInnen der Vorstadt; weder für die Besitzer noch für die Einkaufenden stand dabei die kollektive Investition in eine kommunale Öffentlichkeit im Vordergrund. “[A]ll dressed up and no place to go” – also: Fein gemacht, aber ohne einen Ort, wo man Hingehen könnte, beschrieb Gruen einige Jahre später die Misere des suburbanen Lebensstils.[39]

Letztlich gelang es Gruen mit seinem Konzept des Einkaufszentrums, auch einen sozialen Ort für Hausfrauen zu realisieren. Die Hausfrauen und andere, die außerhalb des Erwerbslebens positioniert waren – PensionistInnen, Kinder und Jugendliche – fanden im Einkaufszentrum und später in der Shopping Mall einen sozialen Fluchtpunkt: Den empirischen Forschungen von Jerry Jacobs zufolge manifestierten die Shopping Malls einen Ort des Zeitvertreibs (“passing time”), der Soziabilität (“meeting friends”) und der Kontinuität (“nothing unusual happens”).[40] Aber eingebettet in die Verkettung der Geschlechterpolitik mit den Angst-getriebenen Agenden des Kalten Kriegs versorgte das Einkaufszentrum die Frauen am Ende mit Schutz ebenso wie mit sogenannter “Eindämmung”: Es bot jenen buchstäblichen Schutz, die sich vor einem Bombenangriff fürchteten; und es versprach jenen emotionalen Schutz, die an der suburbanen Einsamkeit, Entwurzelung und Langeweile litten. Ohne Zweifel erleichterte das Einkaufszentrum den Alltag der Frauen, die als nationale Reproduktionsarbeiterinnen tätig waren, aber es bestärkte auch die traditionelle Definition der Frauen als Hausfrauen und Fürsorgerinnen und bestätigte deren Verortung im Konsumraum. Gruens Diagnose der wachsenden Isolation und Frustration von Frauen war richtig gewesen, aber erneut hatte er die politische Kraft, die die geschlechtsspezifische räumliche Polarisierung vorantrieb, massiv unterschätzt. “Suburbia war nun ein ausgetrocknetes Land, das untertags ausschließlich von Frauen und Kindern bevölkert wurde und eindeutig nach Familieneinkommen, sozialem, religiösem und rassenspezifischem Hintergrund unterteilt war”, diagnostizierte Gruen 1960 in seinem Buch, “Shopping Towns USA. The Planning of Shopping Centers”.[41]

Küche etc.

Die spezifische Verknüpfung von Schutz und räumlicher Eingrenzung im Bereich der Frauenpolitik wird besonders deutlich, wenn sie im Kontext der Politik des Kalten Krieges analysiert wird. Am 23. Juli 1959 besuchte Vizepräsident Richard M. Nixon Prämierminister Nikita Chruschtschow in Moskau. Nixons Aufgabe war es, sowjetische PolitikerInnen durch eine Amerika-Ausstellung zu führen – neueste Modelle von Einfamilienhäusern, Werkzeugen, Autos, Modeartikeln und das kostenlose Ausschenken von “Pepsi” sollten illustrierten, “was … Freiheit bedeutet”. Vor dem Modell einer neuen Einbauküche philosophierte Nixon über die Semiotik von Haushaltsartikeln: “Für uns ist Vielfalt, das Recht auf die freie Wahl … das Allerwichtigste … Bei uns wird eine Entscheidung nicht oben von einem Vertreter der Regierung getroffen … Wir haben verschiedene Produzenten und viele verschiedene Waschmaschinen, damit die Hausfrau frei wählen kann.”[42]

Zwei Jahre vor Nixons Besuch in Moskau hatte die Sowjetunion den ersten Satelliten, “Sputnik”, ins Weltall gesandt. Von da an war die Beziehung zwischen der UdSSR und den USA angespannt. “Wäre es nicht besser, wenn wir uns über die relativen Vorteile von Waschmaschinen als über die Stärke von Raketen messen würden?”, fragte Nixon. Und Chruschtschow entgegnete: “Sie sind der Anwalt des Kapitalismus; ich bin der Anwalt des Kommunismus. So lasst uns vergleichen.” Nixon prahlte, dass drei Viertel aller 44 Millionen amerikanischen Familien im Besitz eines Eigenheimes waren, sie besaßen außerdem 56 Millionen Autos, 50 Millionen Fernseher und 143 Millionen Radios. “Die USA kommt dem Ideal einer klassenlosen Gesellschaft – Wachstum für alle – am nächsten”, schloss Nixon. Das “Modellhaus”, erklärte er, sei keine Villa, sondern ein einfaches Haus im Ranchstil, für Durchschnittsarbeiter durchaus erschwinglich. Das Haus sei mit modernen Geräten ausgestattet, die “das Leben der suburbanen Ehefrau erleichtern”.

Während die beiden Staatsmänner vehement die Definition von Freiheit verhandelten, fanden sie zusammen, wenn es um die Positionierung von Frauen ging. Als Nixon die jungen Russinnen, die Badeanzüge und Sportbekleidung vorführten, mit bewundernden Blicken begutachtete, kommentierte Chruschtschow: “Sie sind also auch für die Mädchen.” Und als Nixon eine Maschine, die von alleine den Boden wischte, inspizierte, meinte er: “Da braucht man keine Frau mehr.”[43] Nixons Postulat der Konsumption versprach die Aufhebung von Klassendifferenzen, der utopische Aspekt des Konsumismus stellte Männern gleichen Zugang zum suburbanen Traumhaus in Aussicht. Frauen versicherte dieser Traum eine bessere Zeitökonomie bei der Pflege dieses Hauses. Nixons Bemerkungen zufolge, zielte Konsumismus auf das Tilgen von Klassendifferenzen bei gleichzeitiger Stärkung von Geschlechterdifferenzen.[44] Nixons Klassenpolitik strebte Gleichstellung an, seine Geschlechterpolitik suchte jedoch die räumliche Eingrenzung, das heißt “Eindämmung”, der Frauen.

Die Welt als Shopping Mall

1957, ein Jahr nach der Eröffnung des Southdale Center, wurden in den USA 940 Einkaufszentren eröffnet. Die Anzahl verdoppelte sich noch einmal bis 1960 und abermals in den Jahren bis 1963. Zu diesem Zeitpunkt hatten viele KritikerInnen der Suburbanisierung, inklusive Victor Gruen, längst erkannt, dass die idealtypische Mall-Matrix hinsichtlich zweier Ziele versagt hatte: Sie ergänzte nicht, wie gedacht, die Innenstadtökonomie, sondern zog wertvolle Ressourcen von dort ab, darüber hinaus bereicherte sie nur bedingt das zivil-gesellschaftliche Angebot in der Vorstadt. Zivil-gesellschaftliche Einrichtungen wurden im Laufe der Jahre zusehends aus dem Profil der Einkaufszentren gestrichen und durch kommerzielle Einrichtungen, die vielfach Öffentlichkeit simulierten, ersetzt. Im Zuge der Verbreitung der neuen Konsumtypologie wurde aus dem Konzept der Welt in der Shopping Mall eine Welt als Shopping Mall. Prinzipien die im Kontext der Shopping Mall entwickelt wurden – zum Beispiel “übergreifende Attraktion, Hyperkonsumption – bestimmten zunehmend scheinbar kommerzunabhängige Einrichtungen wie Kulturzentren, Freizeitzonen oder Museen.[45]

Die Dissemination der Shopping Mall gilt als materialisierter Beweis für die hegemoniale Durchsetzung der Konsumideologie: Die Shopping Mall, argumentierte William Kowinski, “war die Kulmination aller amerikanischen Träume, anständig ebenso wie verrückt; es war die Erfüllung, das Modell eines Nachkriegsparadieses”.[46] In der Shopping Mall fanden die Hausfrauen der aus der Innenstadt geflüchteten Familien die Requisiten zur Ausstattung des Eigenheimes. Letzteres, postuliert Lynn Spigel, funktioniert seither als eine Form von Theater – “eine Bühne auf der eine Ansammlung bourgeoiser, sozialer Konventionen aufgeführt wird”. Werbung, Zeitschriften und Lehrbücher der Nachkriegsjahre lieferten die Skripte dieser Dramen und Komödien. Sie suggerierten die Wahrnehmung der Einfamilienhäuser als Showcase und empfahlen Inszenierungsformen, die spektakuläre Szenen unterstützten.[47]

Die Shopping Mall bot in diesem Zusammenhang eine Art Mega-Bühne, auf der das Drama des “American Way of Life” auf den Punkt gebracht werden konnte. Als leidenschaftlicher Conferencier des Politischen Kabaretts hatte Gruen zwischen 1926 und 1934 in Wien Erfahrung mit trickreicher Inszenierungstechnik gesammelt, die Arbeit im antisemitischen Wien hatte ihm die Kunst der poetischen Metapher, raffinierten Symbolsprache und subtilen Indikation beigebracht. Während der gelernte Maurer und Baumeister untertags mit der Modernisierung von Wohnungen und Geschäftslokalen jüdischer FreundInnen beschäftigt war, hatte er sich am Abend der Kunst der humoristischen Appropriationen gewidmet: So wog Gruen einmal auf der Bühne potentiell prekäre Worte auf einer Marktwaage ab, nachdem er von einem Polizeibeamten gewarnt worden war, er solle in Zukunft seine Worte auf die Waagschale legen.[48] Gruen schrieb Gedichte, Volksstücke und Pamphlete, moderierte Abendvorstellungen. Nach der Flucht in die USA versuchte Gruen erst mit der “Refugee Artists Group” das Kabaretts für den New Yorker Broadway zu übersetzen; dann entschied er sich aber trotz seines Erfolgs für eine Rückkehr zur Architektur. Er interessierte sich für die Gestaltung spektakulärer Bühnen, die mit einem nicht-referentiellen Modernismus einerseits und einem bis dahin unbekannten Maß an räumlicher Kontrolle andererseits eine ideale Projektsfläche für ein “imaginäres Anderswo” boten, die ungeahnte Möglichkeiten der performativen Selbstinszenierung versprachen.[49]

Implosion

In den späten 1950er Jahren, während die Shopping Mall noch immer als ein Symbol für den nordamerikanischen Nachkriegswohlstand galt, verwiesen soziale Bewegungen zunehmend auf die “Eindämmung” von Frauen und Schwarzen, die notwendig war, um diesen Traum aufrecht zu erhalten. So wie in anderen Momenten der ausgeprägten Unterwerfung brachen auch in diesem Zusammenhang Kräfte des Widerstands bereits im Kontext einer scheinbar willenlosen Anpassung auf. Die Beschreibung der 50er Jahre als Jahrzehnt der Hyperkonformität und der erfolgreichen räumlichen Eingrenzung macht wenig Sinn angesichts einer Bürgerrechtsbewegung, die in eben diesem Jahrzehnt eine weitestgehende Auflösung der institutionalisierten ‘Rassensegregation’ durchsetzte. Eine Reihe von weißen, männlichen Autoren kritisierte die abgekapselte Lebensweise in der Vorstadt und artikulierte ihre Frustration mit den Bedingungen einer normierten Massengesellschaft.[50]

Ende der 50er Jahre folgte die Kritik feministischer Autorinnen, welche die “Orgie der Häuslichkeit” auf den Kopf zu stellen versuchte. Das von Betty Friedan veröffentlichte Exposé zur restriktiven Häuslichkeit “The Feminine Mystique” war ein Bestseller. Friedan definierte Häuslichkeit und Konsumismus als die zwei zentralen Instrumente zur Eingrenzung von Frauen – sie hielten die Hausfrauen auf Trab, “und verdeckten die wachsende Leere”. Den Fokus der Frauen auf diese kollektiven Pflichten zu richten, schrieb Friedan, “macht Sinn (und Dollars), wenn man berücksichtigt, daß Frauen die primären Kunden der amerikanischen Geschäfte sind. … [D]ie wahrlich wichtige Rolle, die Frauen als Hausfrauen zukommt, ist die der Konsumentin – sie sollen mehr Dinge für das Haus kaufen.”[51] In ihrer Forderung, das Private sei politisch, entblößte eine Generation von Feministinnen die der Politik räumlicher “Eindämmung” inhärente misogyne Ausgrenzungspolitik.

Wann Gruen seine eigene Fehleinschätzung erkannte, lässt sich nur schwer rekonstruieren. 1964 kritisierte er die USA für die Zerstörung der essentiellen Tugenden einer städtischen Lebensweise – “Intimität, Verschiedenheit und Vielfalt”.[52] Und 1968, als US-amerikanische Städte in Flammen aufgingen, Afro-AmerikanerInnen Integration forderten, Anti-Kriegs-AktivistInnen gegen Nordamerikas Intervention in Vietnam protestierten und Feministinnen patriarchale Institutionen öffentlich angriffen, entschied sich Gruen nach Wien zurückzukehren. Für den Rest seines Lebens betonte er, dass Immobilienkonzerne sein Konzept entführt und die Shopping Mall auf “Verkaufsmaschinen” reduziert hätten. Er “stritt die Vaterschaft ein für alle mal ab” und weigerte sich, “Alimente für diese Bastardprojekte zu bezahlen”.[53] Er interessierte sich für Ökologie, konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf Konzepte der “sich-selbst-erhaltenden Stadt” und der “zellularen Metropolis” und war in der Anti-Atomkraftwerksbewegung aktiv. Bauen für die Frauen war für ihn kein Thema mehr.

Dieser Artikel basiert auf Forschungen im Zusammenhang eines APART Stipendiums das von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften finanziert wird und erscheint in leicht abgeänderter Form in Anette Baldauf, Entertainment Cities, SpringerWienNewYork: 2008, ISBN 978-3-211-71572-7

 

Referenzen:

[1] M. Jeffrey Hardwick, Mall Maker. Victor Gruen, Architect of the American Dream, Philadephia 2004, 125.

[2] Victor Gruen, Centers of the Urban Environment. Survival of the Cities. Van Nostrand Reinhold Company, New York 1973, 15 (alle Übersetzungen, wenn nicht anders ausgewiesen, von A. B.).

[3] Victor Gruen u. Larry Smith, Shopping Towns USA. The Planning of Shopping Centers, New York 1960.

[4] Hardwick, Mall Maker, wie Anm. 2, 82.

[5] Richard Longstreth, City Center to Regional Mall. Architecture, the Automobile, and Retailing in Los Angeles, 1920-1950, Cambridge 1997, 308.

[6] Philip Taubman, Secret Empire: Eisenhower, the CIA, and the Hidden Story of America’s Space Espionage, New York 2003.

[7] Otto Kapfinger, Victor Gruen und Rudi Baumfeld. “Traumkarriere einer Partnerschaft”, in: Matthias Boeckl Hg., Visionäre & Vertriebene. Österreichische Spuren in der modernen amerikanischen Architektur, Berlin 1995, 255ff.

[8] Walter Guzzardi, Jr., “An Architect of Environments”, in: Fortune, January (1962), 134; Library of Congress, Papers of Victor Gruen (LoCPVG) 1886-1991, ID No. MSS81474, box 21.

[9] Kathleen Tobin, “The Reduction of Urban Vulnerability: Revisiting 1950s American Suburbanization as Civil Defense”, in: Cold War History, 2, 2 (2002), 1-32.

[10] “How U. S. Cities Can Prepare for Atomic War”, in: Life Magazine, 25 (1950), 77-82, 85f.

[11] JoAnne Brown, “A is for Atom, B is for Bomb”, in: The Journal of American History, 75, 1 (1988), 80.

[12] “Duck and Cover” (1951), Prelinger Archive: www.archive.org/details/DuckandC1951, Zugriff: 18. 7. 2005.

[13] Hardwick, Mall Maker, wie Anm. 2, 125.

[14] Hardwick, Mall Maker, wie Anm. 2, 106.

[15] Victor Gruen, LoCPVG, box 79.

[16] Gruen/Smith, Shopping Towns, wie Anm. 4.

[17] “The Architect and Civil Defense”, in: Progressive Architecture, Sept. (1951).

[18] Timothy Mennel, “Victor Gruen and the Construction of Cold War Utopias”, in: Journal of Planning History, 3, 2 (2004), 116-150.

[19] Tom Lewis, Divided Highways. Building the Interstate Highways, Transforming American Life, New York 1997.

[20] Lizabeth Cohen, A Consumer’s Republic. The Politics of Mass Consumption in Postwar America, New York 2003, 119.

[21] Hardwick, Mall Maker, wie Anm. 2, 130.

[22] Northland Center, VG’s Speech at press preview, Speech Nr. 9, Northland, March 15, 1954, LoCVGC, box 81, Vol. A, 1943-1956.

[23] The Detroit News, April 17, 1951.

[24] Shrinking Cities, www.shrinkingcities.com/detroit.0.html, Zugriff: 28. 7. 2005.

[25] Sheryl James, “Frenzy of Change. How Northland, now 50, jumpstarted suburbs’ growth”, in: Detroit Free Press, March 18, 2004.

[26] Margaret Crawford, “The World in a Shopping Mall”, in: Michael Sorkin Hg., Variations on a Theme Park. The New American City and the End of Public Space, New York 1992, 3-30, 15.

[27] Thomas W. Hanchett, “U. S. Tax Policy and the Shopping-Center Boom of the 1950s and 1960s”, in: American Historical Review, 101 (1996), 1082-1110.

[28] Radio Reports, Inc., Victor Gruen Shows Model Shopping Center of the Future, January 25, 1953; LoCPVG, box 71, Folder 2.

[29] Victor Gruen, Centers of the Urban Environment. Survival of the Cities, New York 1973, 70.

[30] NBC, Show, October 9, 1955, Channel 4; LoCPVG, box 81.

[31] Barbara Ehrenreich, The Hearts of Men: American Dreams and the Flight from Commitment, New York 1983.

[32] Harvey Brett, The Fifties: A Woman’s Oral History, New York 1993; vgl. Steven Mintz u. Susan Kellogg, Domestic Revolutions. A Social History of American Family Life, New York 1988.

[33] Elaine Tyler May, Homeward Bound. American Families in the Cold War Era, New York 1988.

[34] Chafe William, Chafe, The American Woman: Her Changing Social, Economic and Political Roles 1920-1970, New York 1972.

[35] Cohen, Consumer’s Republic, wie Anm. 21.

[36] Hardwick, Mall Maker, wie Anm. 2, 143.

[37] Minneapolis Morning Tribune, June 18, 1952; Design for a Better Outdoors Indoors, Architectural Record, June 1962.

[38] “Suburb or Loop? Which direction is Mrs. Shopper going?”, in: Minneapolis Minn. Tribune, Jan. 6, 1957; LoCPVG, Oversized 5.

[39] Victor Gruen, The Heart of Our Cities. The Urban Crisis: Diagnosis and Cure, New York 1964, 67.

[40] Jerry Jacobs, The Mall. An Attempted Escape from Everyday Life, Illinois 1984.

[41] Gruen/Smith, Shopping Towns, wie Anm. 4, 21.

[42] Cohen, Consumer’s Republic, wie Anm. 21, 126.

[43] CNN Cold War, www.cnn.com/SPECIALS/cold.war/episodes/14/documents/debate/, Zugriff: 25. 7. 2005.

[44] May, Families, wie Anm. 34, 16ff.

[45] Crawford, World, wie Anm. 27.

[46] William Severini Kowinski, The Malling of America. An Inside Look at the Great Consumer Paradise, New York 1985.

[47] Lynn Spigel, “From Theater to Space Ship: Metaphors of Suburban Domesticity in Postwar America”, in: Roger Silverstone Hg., Visions of Suburbia, London 1997, 217-240.

[48] Victor Gruen, Ein realistischer Träumer. Rückblicke, Einblicke, Ausblicke, Wien (unveröff. Manuskript) 1979, 73.

[49] Anne Friedberg, Window Shopping. Cinema and The Postmodern, Berkeley 1993, 57.

[50] U. a.: David Riesman (1950), C. Wright Mills (1951), J. D. Salinger (1951), William Whyte (1956), Norman Mailer (1957).

[51] Betty Friedan, The Feminine Mystique, New York 1963, 197, 218f [dt. Der Weiblichkeitswahn oder die Mystifizierung der Frau. Ein vehementer Protest gegen das Wunschbild von der Frau, Reinbek bei Hamburg 1966].

[52] Gruen, Heart, wie Anm. 40, 147.

[53] Gruen, Heart, wie Anm. 40, 222; Victor Gruen, Shopping Centers: Why, Where, How?, speech before Third Annual European Conference of the International Council of Shopping Centers, London, Feb. 28, 1978; LoCPVG, box 78.

 

Published 25 May 2007
Original in German
First published by L'Homme 2/2006

© Anette Baldauf / L'Homme / Eurozine

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