Religion und das Profane

Heute Abend werde ich den Versuch unternehmen, einige – mehr oder weniger – überraschende Ereignisse dieses Jahrhunderts zu erklären. Zum einen ist erstaunlich, mit welchem Erfolg sich der Islam behaupten und seine Macht ausbauen konnte. Dieses Phänomen steht im Gegensatz zur Säkularisierungsthese der Sozialwissenschaften, die davon ausgeht, daß in modernen Industriegesellschaften der Einfluß des Religiösen auf das Bewußtsein und Gefühlsleben der Menschen abnimmt. Das scheint im großen und ganzen zutreffend, mit einer Ausnahme: Die Welt des Islam, in der die Macht der Religion über die Gesellschaft in den letzten Jahren nicht nur nicht verschwunden ist, sondern sogar eher zugenommen hat.

Genauso überraschend war der unerwartete und totale Kollaps des Marxismus. Der Marxismus wird des öfteren und zu Recht mit einer Religion verglichen, manchmal gar als “säkulare Religion” bezeichnet. In der Tat hat er einige Merkmale mit der Religion gemein, etwa die umfassende Weltsicht sowie das Versprechen einer “Gerechtigkeit auf Erden”. In einem Punkt jedoch unterscheidet sich der Marxismus: Einmal gestiftet, übt eine Religion großen Einfluß auf das Bewußtsein und die Gefühle der Menschen aus und bricht nicht so leicht zusammen. Sollte sie doch untergehen, geschieht dies nicht ohne Widerstand und Kampf. Ein Teil ihrer Anhänger bleibt ihr weiterhin treu. Der Marxismus jedoch schaffte es nur bei erstaunlich wenigen Menschen (vielleicht gar bei niemandem), sich ihrer Treue zu versichern. Zwar gibt es nach wie vor einige Marxisten, und in der postkommunistischen Welt beobachtet man die Rückkehr der Exkommunisten, doch stehen letztere eher für Kontinuität, für einen langsamen und weniger radikalen Wandel, für die Aufrechterhaltung von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und den Erhalt einiger alter Strukturen – im Grunde genommen sind sie Konservative. Bemerkenswert jedoch ist die Tatsache, daß keiner von ihnen unter dem Banner des Marxismus zurückgekehrt ist. In jenen Gesellschaften, die vierzig oder siebzig Jahre unter marxistischer Herrschaft standen, ist es den Bolschewiken – ganz im Gegensatz zu den Jesuiten oder der Gegenreformation – in keiner Weise gelungen, bleibende Spuren in den Seelen ihrer Anhänger zu hinterlassen. Auch das ist eine Tatsache, über die es sich lohnt nachzudenken.

Drittens haben wir es mit einem Phänomen dieses Jahrhunderts zu tun, das zwar weniger überraschend ist, und dennoch nicht richtig vorausgesehen wurde: das Erstarken des Nationalismus. Daß der Nationalismus untergehen würde, wurde lange Zeit mit Überzeugung prophezeit. Zwei Merkmale besitzt der Syllogismus, nach dem der Nationalismus zum Untergang bestimmt ist. Erstens vertreten ihn beide – Marxisten und Liberale – und zweitens ist er stichhaltig. Die Prämissen sind korrekt, und die Konklusio folgt aus den Prämissen. Einzig problematisch ist, daß die Konklusio nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Das Argument ist recht einfach: Der Nationalismus beruft sich auf ethnische, kulturelle und nationale Unterschiede, die er in Prinzipien politischer Mitgliedschaft und Loyalität ummünzt. Das ist fraglos richtig. Zweitens nivellieren die Bedingungen der modernen industriellen Welt mit ihrer Mobilität, der Auflösung lokaler Gemeinschaften und der Standardisierung der Kommunikation, die kulturellen, sprachlichen und ethnischen Unterschiede. Also kann man schlußfolgern, daß unter den Bedingungen der Moderne der Nationalismus schließlich untergehen muß, da die Grundlagen, auf denen er aufgebaut ist, unterminiert werden.

Leider stimmt, wie gesagt, der Schluß nicht mit den Fakten überein. Es müssen also ein paar weitere Faktoren im Spiel sein. Ich will versuchen herauszuarbeiten, welche das sind. Marxisten und Liberale argumentieren in dieser Frage auf gleiche Weise, sie unterscheiden sich allerdings in der Beschreibung des Mechanismus der Zerstörung kultureller Differenzen. Für die Liberalen bestand er in dem Fortschritt zu einer internationalen Arbeitsteilung, während die Marxisten ihn dem fürchterlichen melting pot des pauperisierten internationalen Proletariats zuschrieben, das, durch Verelendung und Entfremdung von seinen einstigen ethnischen Wurzeln abgeschnitten, Loyalität nur noch gegenüber diesem gemeinsamen melting pot empfinden würde. In ihren Augen offenbarte sich in dieser “kulturellen Blöße” das reine Wesen der Menschheit, die im Proletariat endlich zu sich selbst kommen würde.

Viertes Merkmal diese Jahrhunderts ist der relative Erfolg der semi-säkularen, pluralistischen, liberalen Demokratien, die die Kriege, in die sie verwickelt waren, gewonnen haben – den militärischen Krieg (wenn auch knapp), der 1945 zu Ende ging, und den Wirtschaftskrieg, der 1989 zu Ende ging – selten in der Menschheitsgeschichte wurde ein Konflikt so eindeutig entschieden. Vielleicht verdient ein fünftes Phänomen unsere Aufmerksamkeit, nämlich das mit 1945 anzusetzende Scheitern der alternativen rechtsradikalen Vision, wie eine industrielle Gesellschaft zu organisieren sei.

Der Islam

Warum ist der Islam so erstaunlich erfolgreich? Und warum ist er resistent gegenüber jeglicher Säkularisierung? Ich beginne mit dem traditionellen Islam (ohne Berücksichtigung der frühen Geschichte). Vereinfachend kann man sagen, daß er – zumindest, wenn man sich auf die Trockenzone zwischen Hindukusch und dem Atlantik und der Nigerschleife beschränkt – sich in eine Hochkultur und eine Volkskultur, einen Hochislam und einen Volksislam teilte, und daß beide auf prekäre Weise koexistierten. Meist verhielten sie sich friedlich und durchdrangen sich wechselseitig, dennoch kam es in regelmäßigen Abständen zu Konflikten. Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen beiden Formen besteht darin, daß im Hochislam keine Vermittler zugelassen sind (die Sünde der Vermittlung hat einen eigenen Namen: Shirk), das Verhältnis zwischen der einzigen Gottheit und dem Gläubigen vielmehr ein direktes sein sollte. Weder wird hier Ritualen eine große Bedeutung beigemessen, noch dem Magischen oder Übersinnlichen. Dieser “Islam der Gelehrten” ist stark moralistisch, schriftgläubig, puritanisch, monotheistisch und individualistisch. Es handelt sich um einen normativen Islam, dessen Geltung von den Gläubigen zwar anerkannt, der aber nicht praktiziert wird, weil er nicht den Bedürfnissen der unteren Schichten, insbesondere den Muslime auf dem Lande, entspricht. Diese verlangen eine Religion eher im Durkheimschen Sinne, d.h. eine Religion, in der das Heilige seine Vermittler und seine Verkörperung hat und die die soziale Struktur widerspiegelt. Die meisten Muslime auf dem Land waren zusammengeschlossen in ruralen autonomen oder halbautonomen Verbänden, Stämmen, Clans und ähnlichem. Ihre innere Organisation und ihr Leben waren von einer Religion Durkheimschen Typs geprägt, in der das Heilige in Ritualen, sakralen Gegenständen, Praktiken und Personen verkörpert ist. Man könnte sagen, daß ein Islam der “Oberschicht”, ein urbaner, individualistischer, puritanischer, “protestantischer” Islam (dessen Einheit gemeinsam von Theologen und Rechtsgelehrten als seinen Hauptträgern garantiert wird, ohne daß es dazu einer zentralen Organisation oder einer Hierarchie bedürfte), mit einem fragmentierten “katholischem” Islam koexistierte, der auf typische Weise hierarchisch organisiert ist und die sinnlichen, rituellen und mystischen Formen der Religion einsetzt. Nach der Durkheimschen Theorie hat Religion die Funktion, die Organisation der Gemeinschaft sichtbar zu machen und zu legitimieren. Nach einer Theorie David Humes, die meiner Ansicht nach zutrifft, pendelt das religiöse Leben zwischen “protestantischen” und “katholischen” Formen hin und her. Nach periodischen Ausbrüchen von religiöser Inbrunst und Selbstreformation dominieren eine zeitlang die puritanischen Eiferer, bis die Erfordernisse und Bedürfnisse des gesellschaftlichen Lebens eine Rückkehr zu einer personalisierten, hierarchischen, ritualisierten und nicht nur auf die Schrift gestützten Religion einleiten, die eher auf einer Ethik der Loyalität als einer Ethik der Regeln beruht. Der Islam existierte also in dieser permanenten Oszillation zwischen erfolgloser Reformation und dem Rückfall in alte kulturelle Gewohnheiten. – Was ist der spezifische Unterschied zwischen dem Islam und dem westeuropäischem Christentum? Bei letzterem steht die hierarchische und ritualiserte Loyalitätsethik im Zentrum, es wird von Institutionen und nicht von abstrakten Doktrinen getragen, während die individualistische, schriftbezogene und puritanische Version fragmentiert und eher marginal ist. Im Islam ist es genau umgekehrt. Die zentrale Tradition ist individualistisch und schriftbezogen, und die fragmentierten Abweichungen davon sind ritualistisch etc. Die beiden Religionen stehen also in einer Art spiegelbildlichem Verhältnis.

Soweit ich das beurteilen kann, gibt es nichts, das den Islam daran hindern würde, sich zwischen diesen zwei Formen – dem Hochislam und dem Volksislam – hin und her zu bewegen. Der muslimische Gelehrte Ibn Khaldun beobachtete diese Bewegung um 1400. Friedrich Engels thematisiert sie in einer Passage, in der er sich offenkundig auf Ibn Khaldun bezieht, ohne ihn zu zitieren. Er sagt – und widerspricht damit der Hauptthese des Marxismus –, daß alle Klassen und Klassengesellschaften inhärent instabil seien und durch ihre inneren Widersprüche der Zerstörung anheimfallen würden. Hier wird der Ethnozentrismus der Gründerväter des Marxismus deutlich, insofern Engels die Instabilität der Klassen eindeutig auf “uns” Europäer bezieht, während “jene” Orientalen, insbesondere die Araber und Muslime, in einer Welt der zyklischen Wiederkehr gefangen sind. Zugegebenermaßen seien unsere gesellschaftlichen Konflikte durch das Prisma der religiösen Sprache verzerrt, doch entstehe spätestens, wenn der religiöse Konflikt beendet ist, etwas Neues, das uns auf eine höhere Stufe gelangen läßt. Die Orientalen hingegen bewegen sich immer nur im Kreis.

Meine Antwort auf die Frage, warum der muslimische Fundamentalismus so erstaunlich viel Kraft hatte, lautet folgendermaßen: Die Bedingungen der Moderne haben die Pendelbewegung aus ihren Angeln gehoben und den Schwerpunkt vom pluralistischen, hierarchischen und Durkheimschen Religionstypus endgültig zugunsten des Hochislam verschoben. Der Grund dafür liegt darin, daß der Prozeß der Modernisierung, in diesem Fall der politische und wirtschaftliche Zentralismus der kolonialen und postkolonialen Staaten, die Gemeinschaften zerstörte, die die Grundlage für einen Islam Durkheimschen Typs bildeten. Dorfbewohner, Stammesangehörige und Sippenmitglieder wurden zu Arbeitsmigranten und Slumbewohnern, und dies führte zur Atomisierung der Bevölkerung, die fortan ihre Identität in einer hohen Religion suchte, einer Hochkultur, die ein allen Muslimen gemeinsames Idiom bereitstellt und sie auf diese Weise gegen “die Anderen” vereint.

Vorher besaßen die muslimischen Länder keine nationale Identität. Die Menschen waren Mitglied ihrer lokalen Gemeinschaften, und sie waren Muslime; über diese Zugehörigkeiten hinaus waren sie bestenfalls Untertanen dieser oder jener Obrigkeit. Die modernen muslimischen Nationen, und insbesondere die postkolonialen, sind nur noch die Summe der Muslime auf einem bestimmten Territorium. Damit wächst dem Islam eine dreifache Funktionen zu: Er stellt eine Identität bereit, die eine Abgrenzung gegen die anderen / das andere erlaubt. Er stellt ein Idiom zur Verfügung, das den Übergang von der ruralen zur urbanen Welt sanktioniert und den Statuswechsel von ländlichen “Nichtswissern” zu gebildeten Städtern erleichtert. Und schließlich stattet der Islam die Menschen mit der Fähigkeit aus, ihre Herrscher zu kritisieren – wie es derzeit im bitteren und tragischen Algerienkonflikt augenfällig wird; allen, die nicht verwestlicht sind, sondern ihre Religion ernst nehmen, gibt er ein Artikulationsmittel an die Hand, das ihnen erlaubt, sich von den technokratischen Mamelucken abzugrenzen, die ihre Herrschaft dem Zugang zu westlicher Technologie verdanken.

Mir scheint, daß man die Welle des muslimischen Fundamentalismus in dieser Weise verstehen muß – als Reaktion von erst vor kurzer Zeit urbanisierten und desorientierten Muslimen, denen die alten Kulte und lokalen Strukturen abhanden gekommen sind und die sich zugleich gegen die ausbeuterische und semi-westliche Oberschicht abgrenzen müssen.

Der Nationalismus

Wenn man das Aufkommen des Nationalismus in Europa erklären will, sollte man sich meiner Meinung nach nicht auf sein Selbstverständnis stützen. Der Nationalismus und sein Selbstbild klaffen auseinander. Nationalismus ist ein Phänomen der Gesellschaft, das sich das Idiom der Gemeinschaft zu eigen macht. Er ist das Nebenprodukt einer neuen gesellschaftlichen Situation – dem nicht unähnlich, was ich über den Islam gesagt habe. Die wichtigste Rolle der Kultur in einer agrarischen (d.h. sehr hierarchischen) Gesellschaft ist es, der Stellung der Menschen in einer stabilen Weltstruktur Ausdruck zu verleihen, diese Stellung zu garantieren und zu internalisieren. Die Identität eines Menschen ist hier eng verbunden mit seiner Position in der Gesellschaft. Die Kultur hilft, diese Position nach außen hin sichtbar zu machen und sie zugleich zu akzeptieren als absoluten Bestandteil der conditio humana. Diese stabile, hierarchische Gesellschaftsordnung wurde unter dem Druck der Industrialisierung und der sie begleitenden Wissenschaft und Technologie abgelöst von einer mobilen, anonymen Gesellschaft ohne anerkannte Hierarchie, in der die Arbeit nicht mehr körperlich ist sondern semantisch (d.h. Arbeit ist Kommunikation) und daher kulturell homogen. In entwickelten Gesellschaften gibt es die Kluft zwischen Hochkultur und Volkskultur nicht mehr, vielmehr ist die Hochkultur zur allgemeinen Kultur der Gesellschaft geworden.

“Hochkultur” meine ich nicht wertend. Ich möchte mit diesem Terminus andeuten, daß die Kultur mit der Schrift verbunden ist und durch formale Ausbildung vermittelt wird – und nicht auf dem Schoß der Mutter. Sie muß weiträumig standardisiert sein, so daß die Menschen miteinander kommunizieren können, ohne für das gegenseitige Verstehen darauf angewiesen zu sein, den Kontext des anderen zu kennen. Denn ihre Arbeitssituation ist meist so beschaffen, daß sie diejenigen, mit denen sie kommunizieren, nicht kennen, oftmals nicht einmal sehen. Die Botschaft muß also ihre eigene, kontextunabhängige Bedeutung tragen. Zum ersten Mal in der Geschichte durchdringt ein formalisiertes Bildungswesen die gesamte Gesellschaft und ist nicht länger das Privileg einer kleinen, spezialisierten Schicht von Schrift- und Rechtsgelehrten oder Bürokraten. Das ist eine völlig neue Situation. Die Konsequenz ist freilich, daß eine effiziente wirtschaftliche, politische und kulturelle Partizipation der Bürger an ihrer Gesellschaft gebunden ist an die Beherrschung der gegebenen Hochkultur und an die Anerkennung innerhalb dieser Kultur. Die Hochkultur zu erhalten ist sehr kostenintensiv. Entweder muß der Staat dies übernehmen, oder er muß sie zumindest schützen. Damit sind wir schon bei der Verbindung zwischen Staat und Kultur, dem Wesen des Nationalismus. Denn auf diese Weise wird dem modernen Menschen der Nationalismus auferlegt. Ich wehre mich ausdrücklich gegen die gängige Theorie, die behauptet, Nationalismus sei der Ausdruck von etwas, das der menschlichen Psyche bzw. Gesellschaft inhärent sei. Nationalismus ist den Bedingungen des modernen industrialiserten Lebens inhärent, keineswegs aber allen Gesellschaften. Natürlich akzeptieren die Nationalisten die Tatsache, daß der Nationalismus, der ihnen zufolge universell und immer schon gegenwärtig ist, hier und da in der Vergangenheit aus irgendeinem bizarren Grund in einen Dornröschenschlaf versunken war und wiedererweckt werden mußte, um politisch wirksam zu werden (das häufigste Bild in Mittel- und Osteuropa ist das des Erwachens – Deutschland erwache!). Doch tatsächlich konnte er gar nicht erweckt werden, denn es gab ihn ja nicht. Er wurde von den Bedingungen der Moderne erzeugt.

Warum fand derselbe Prozeß der Verschiebung von lokalen, hierarchisch organisierten Gemeinschaften zu einer mobilen, anonymen, semantisch standardisierten Gesellschaft in Europa seinen Ausdruck im Nationalismus und in der islamischen Welt im Fundamentalismus? Darauf habe ich keine klare Antwort. Die frühe Geschichte des Nationalismus ist sicherlich an die des Protestantismus geknüpft, ja, man könnte meinen, beide Phänomene hätten sich parallel entwickelt. Bernard Shaw hat dies im Vorwort seiner “Heiligen Johanna” sehr gut beschrieben. Er sagt dort, daß die Engländer Johanna als Nationalistin verbrannten, während die Kirche sie als Protestantin verurteilte, und daß sie beides war. Diese Verbindung zwischen protestantischen bzw. proto-protestantischen Bewegungen und nationalem Bewußtsein und der Bedeutung des Volkstümlichen war besonders sichtbar in der hussitischen Bewegung im Böhmen des 15. Jahrhunderts. Doch mit seinem Fortschreiten löste sich der Nationalismus von der Religion und machte sie sich allenfalls noch opportunistisch zunutze. So beriefen sich die Polen auf den Katholizismus, weil ihre Nachbarn auf beiden Seiten nicht katholisch waren und sich der Katholizismus damit hervorragend als Definiens des Polnischen eignete, was in den Zeiten der kommunistischen Herrschaft natürlich einen bewundernswerten Gegenstaat abgab. Langfristig haben sich die Religion und der Nationalismus jedoch voneinander abgelöst.

Dies ist nicht der Fall im Islam. Eine Zeit lang war es nicht klar, ob der Fundamentalismus oder der arabische Nationalismus dominieren würde und wer wen instrumentalisierte. Inzwischen ist recht deutlich geworden, daß der Fundamentalismus der Stärkere ist. Warum die Verbindung zwischen einer universellen, individualistischen Hochkultur und der sie inspirierenden Lehre im Islam bewahrt wurde, in Europa aber abgerissen ist, weiß ich nicht. Vielleicht ist das ein Zufall der Geschichte. Die Diagnosen, die ich von beiden Bewegungen mache, ähneln sich, aber ich habe keine gute Erklärung dafür, warum Islam und Nationalismus in ihren Gesellschaften so radikal unterschiedliche Formen angenommen haben.

Der Marxismus

Die Stärke des Islam ist eine der Überraschungen dieses Jahrhunderts, und der Zusammenbruch des Kommunismus, den im Grunde genommen die gesamte Sowjetologenzunft nicht vorauszusehen vermochte, ist gewissermaßen die komplementäre Überraschung. Welche Erklärung gibt es hierfür?

Natürlich habe ich auch hier keine Antwort. Es gibt Ex-Kommunisten, aber niemand hält mehr an der Ideologie fest. Man klammert sich an die Privilegien und die Kontinuität, doch nicht an die Lehre. Ich habe eine Theorie dazu, die ich hier gerne einmal zur Diskussion stellen würde. Was den Marxismus auflöste, war nicht sein Säkularismus, sondern im Gegenteil der Pantheismus, der ihm über Hegel von Spinoza vererbt wurde. Das grundlegende messianische Ideal des Marxismus – das auch die russische Seele ansprach – bestand darin, die Trennung von Heiligem und Profanem im menschlichen Leben ein für allemal aufzuheben. Die Vorstellung, die Welt sei dazu verurteilt, schmutzig und elend zu sein, und Erfüllung sei erst in einem anderen Reich zu finden, spiegelte in den Augen des Marxismus bloß die Spaltung der Gesellschaft wider. Die Zukunft aber lag in einer einheitlichen Welt totaler Vollendung. Spinozas Bild, von Hegel historisiert, wurde von Marx übernommen.

Eine gängige Theorie besagt, der Mensch könne nicht ohne Religion leben. Meine Theorie lautet, daß er nicht ohne das Profane leben kann. Das Versagen des Marxismus, die seiner monopolistischen Propaganda systematisch unterworfenen Menschen wirklich zu ergreifen, erklärt sich aus der Abschaffung des Profanen. Der Glaube an den Marxismus ist erstaunlicherweise nicht durch die massiven und wahllosen Morde der Stalinzeit gebrochen worden, vielmehr verschied er in der eher milden und im großen und ganzen erträglichen Periode der Stagnation. Man braucht nur Andrej Sacharows Memoiren zu studieren – einer der besten Berichte über die sowjetische Welt. Sacharow war ein Mann von herausragender Intelligenz, der viele Thesen des Marxismus zutiefst verachtete, ebenso wie die Scholastik und Pseudowissenschaftlichkeit im Werk von Marx. Und dennoch war er, wie er in seinen Werken bekennt, mit der Vision als solcher einverstanden: Hier ging es um die radikale Transformation der conditio humana – und wenn sie einen hohen Preis forderte: Massenmord, Freiheitsberaubung, Unterdrückung und Zwangsarbeit (Sacharow wußte darum, denn während er an der Bombe bastelte, machte er selbst Gebrauch davon), dann war das zwar bedauerlich, aber notwendig. Schließlich kann man nicht erwarten, daß die radikale Transformation der conditio humana ohne ein bißchen Blutvergießen vonstatten geht. Die Schmutzigkeit und Schäbigkeit der Breschnew-Ära, als die Genossen sich nicht mehr gegenseitig mordeten sondern nur noch bestachen, führte zum endgültigen Vertrauensverlust. Spätestens mit Gorbatschow ging ihnen auf, daß der Kaiser nackt war, daß sie alle seine neuen Kleider nur gepriesen hatten, weil die andern es auch taten. Und kein Marxist blieb übrig. Warum?

Soweit ich das beurteilen kann, liegt die Begründung für das Scheitern des Marxismus – im Gegensatz zum Erfolg des Islam – darin, daß der Marxismus zu vereinheitlichen suchte, pantheistisch war und die Vollendung in dieser Welt anstrebte. Er sakralisierte das Erdenleben und verwarf die alte Sitte, Trost im Himmel zu suchen. Das sagt natürlich auch etwas über Karl Marx aus. Er war der Inbegriff des Bourgeois. Sein Weltbild war eine Verallgemeinerung der bürgerlichen Sicht, daß das Wesen des Menschen die Arbeit sei – und nicht etwa Aggressivität, Virilität oder Status. Die Erfüllung liegt in der Arbeit, und Arbeit ist ihr eigener Lohn. Bürgerliche arbeiten nicht nur deshalb, weil sie dafür bezahlt werden. Der Aristokrat hingegen arbeitet überhaupt nicht, und der Arbeiter nur, um seinen Lohn zu bekommen. Die Bourgeoisie hoffte immer auf eine Welt, in der die Herrschaft der Schläger und Betrüger, der Roten und der Schwarzen, durch die Herrschaft der wirklich arbeitenden Menschen abgelöst würde. Marx hat im Grunde genommen als gegeben behauptet, was die Bourgeoisie nur erhofft hatte: Das wahre Geheimnis der Geschichte ist ihre Transformation in Arbeitsverhältnisse. Was die Ereignisse bestimmt, ist das Verhältnis des Menschen zu seinen Werkzeugen und zur Produktion. Gewalt ist bloß der Diener radikaler Veränderungen. Den Schlägern wird gesagt: Fuchtelt nur mit euren Schwertern herum, doch ihr habt keine Veränderungen herbeigeführt, ihr seid nicht wichtig! Der Marxismus ist die bürgerliche Phantasie, daß die Arbeit Wesen und Erfüllung des Menschen sei und Arbeitsverhältnisse den Verlauf der Geschichte bestimmen. Ich wünschte, es wäre so.

Der Islam hat seine Verdienste. Die moderne Welt kann ihn akzeptieren, weil er vereinheitlichend und puritanisch ist und ohne viel Zauber auskommt. Gleichzeitig bringt er eine gewisse Ordnung ins Leben. Und doch hat er nie behauptet, Arbeit sei heilig. In Zeiten geringeren Eifers und verminderter Begeisterung frönt der Muslim der Arbeit und den Geschäften, ohne anzunehmen, sie seien heilig. Und wenn Geschäftemachen nicht alles ist, was tut’s? Niemand hat je behauptet, es solle das sein.Welche Lehren können wir nun aus diesem Jahrhundert ziehen, wenn wir den Islam, den Nationalismus und den Marxismus betrachten? Einstweilen sind es die pluralistischen, liberalen Gesellschaften, die erfolgreich sind – ich nenne sie die unheilige Allianz konsumorientierter Ungläubiger. Das klingt pejorativ, doch tatsächlich heiße ich Gesellschaften gut, die in der Lage sind, sich selbst zu organisieren im Namen des Konsums, der Erwartung allgemeinen Wohlstands und der Privatisierung von Tugenden und Heilslehren. Das Wesen des Marxismus bestand in einer säkularisierten, aber um nichts weniger messianischen Gegenposition zum theologischen Absolutismus mit seinem Ideal einer vollkommenen Erlösung – es ging ihm um die Herstellung einer Gesellschaftsordnung, in der sich eine absolute Moral verkörpert. Plurale Gesellschaften enthalten sich dessen. Sie existieren in einer Art Schattenwelt, die einen Kompromiß macht zwischen ererbten Überzeugungen, die nicht ernst genommen werden, und pragmatischen, konsumorientierten Überlegungen, die zwar über ein gewisses Maß an Autorität verfügen aber von keinerlei Aura des Absoluten umgeben sind. Ob derartige Konsumgesellschaften ihre Saturiertheit überleben können, weiß ich nicht. Jedenfalls gibt es in weiten Teilen der Welt immer noch einen immensen Bedarf, die materiellen Lebensbedingen zu verbessern. Immer noch gibt es echte Armut, sie nimmt sogar zu, und die Unterschiede zwischen denen, die etwas haben, und denen, die nichts haben, sind immer noch gewaltig. Ich glaube nicht, daß das endlos so weitergehen kann.

Der Artikel basiert auf der Transkription eines Vortrags, den Gellner im Oktober 1995 auf einer vom Deutsch-Amerikanischen Institut Heidelberg veranstalteten Tagung über “Religion als Kultur und Antikultur” gehalten hat. Es war wohl sein letzter Vortrag, denn Anfang November 1995 verstarb Gellner in Prag. Der Philosoph und Sozialanthropologe war dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien, in vielfacher Weise verbunden, u.a. übernahm er den ersten Europäischen Lehrstuhl für Geistes- und Sozialwissenschaften in Warschau (im Rahmen des TERC-Programms).

Die Originalversion des Vortragstextes ist von Caroline Schmidt Hornstein vom Band transkribiert worden und auf Englisch in der Interationalen Zeitschrift für Philosophie, hg. von Günter Figal und Enno Rudolph, Heft 1/1996 erschienen. Wir danken den Herausgebern für das Recht zum Abdruck.Eine französische Übersetzung erschien in: Commentaire, nr. 85 /1999.

Published 28 August 2000
Original in English
Translated by Michaela Adelberger
First published by Internationale Zeitschrift für Philosophie 1/1996 (English version)

© Transit / Internationale Zeitschrift für Philosophie / Eurozine

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