Rechtspopulismus als Klassenkampf

Frankreich nach dem 21. April

Jacqueline Hénard analysiert die Verfehlungen der politischen Eliten in Frankreich, die den Weg für Le Pens schockierenden Aufstieg in den letzten Präsidentschaftswahlen geebnet haben.

“Die politische Klasse hat gemerkt, daß sie so nicht weitermachen kann.”
Daniel Cohn-Bendit am 19. Dezember 1995 über die vermeintlichen Erkenntnisse der französischen Eliten durch die wochenlangen Massenstreiks im Herbst 1995

Manche Nacht gräbt sich mit seismischer Wucht in die Erinnerung. Jene Stunden des 10. Mai 1981 zum Beispiel, in denen Frankreich bewußt wurde, daß Francois Mitterrand es diesmal geschafft hatte. Das peuple de gauche, damals noch ein vergleichsweise klar abgegrenztes Milieu, machte sich auf den Weg zum Freudenfest: Gewonnen! Zeitenwende! Nieder mit dem Kapitalismus! Schluß mit der Arbeitslosigkeit, mit Fürchten und Knapsen! Auf der Bastille herrschte trotz des Nieselregens eine Stimmung, als ob das Ergebnis der Staatspräsidentenwahl den Lauf der Erde beschleunigt hätte. Im Elysee bereitete unterdessen der Verlierer seinen Rückzug vor: Am Ende seiner Fernsehansprache würde Valery Giscard d’Estaing vor laufender Kamera aufstehen und langsam aus dem Blickfeld gehen. In allen französischen Wohnzimmern war das Bild vom verlassenen Präsidentenstuhl zu sehen, ein Sinnbild des bürgerlichen Lebensgefühls nach der Niederlage. Den Jahrestag hat Giscard seither immer allein verbracht, für niemanden ansprechbar, ein sehr privates Requiem für die Kränkung durch das Wählervolk.

Drei Mandatsperioden später, in der Nacht des 21. April 2002, sind die Franzosen und ihre politische Klasse von einem fürchterlichen, lagerübergreifenden Kater befallen worden. Es war ein Kater ohne jeden vorhergehenden Rausch. Der Wahlkampf war dumpf und schwunglos gewesen. “Wir haben große Mühe, uns selbst zu motivieren. Es ist doch ein remake, bloß, daß sie jetzt alle sieben Jahre älter sind”, seufzte ein junger Mann aus der Mannschaft von Jacques Chirac, der diese Offenherzigkeit inzwischen wahrscheinlich schon von Amts wegen verdrängt hat; jetzt ist er nämlich Regierungssprecher. Auf den ersten und auch noch auf den zweiten Blick erschien der französische Präsidentschaftswahlkampf anekdotisch-belanglos: Sechzehn Bewerber, darunter drei waschechte Trotzkisten und ein demagogisch begabter Waidmann, der die “Ländlichkeit” (ruralité) rehabilitieren wollte.

Das Finale schien seit Mai 1995 ausgemacht: Der Sieger von damals gegen den Mann, der überraschend knapp verloren hatte, Jacques Chirac gegen Lionel Jospin. Fünf Jahre lang hatten sie das Land als Paar wider Willen regiert, der eine als Staatspräsident, der andere als Premierminister, waren bei fast allen wichtigen Ereignissen Seite an Seite aufgetreten und hatten dem andern möglichst nach dem Mund geredet, sobald jener in den Meinungsumfragen ein Prozentpünktchen besser dastand. Schwer zu sagen nach so langem Nebeneinander, worin sie sich unterschieden, was sie jeweils anders machen wollten und noch schwerer zu erklären, warum sie es in einem halben Jahrzehnt nicht angepackt hatten. “Jospin und Chirac sind so austauschbar wie Waschpulver – Herr Omo und Herr Ajax” höhnte ein Herausforderer, der Linksnationalist Jean-Pierre Chevènement und fügte selbstbewußt hinzu: “Ich bin die einzige Wahl.”

Über den Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen ist in all den Wochen aus drei Gründen kaum gesprochen worden. Erstens hatte Le Pen, der angestammte Lieblingsfeind der Linken (und der französischen Journalisten), einen für seine Verhältnisse moderaten Wahlkampf gemacht: Keine negationistischen Entgleisungen, keine Raufereien mit politischen Gegnern. Das Fernsehen strahlte verpflichtungsgemäß seine Wahlkampfspots aus: Le Pen im Smoking bei einer Dampferfahrt im Kreis seiner Anhänger, alles sehr vorzeigbar, immer sehr gediegen. Die Zeitungsreporter rangen sich eine Wahlkampfreportage ab. Mehr nicht. Denn, zweitens, war die nationale Front seit dem Winter 1998 gespalten. Für viele schien der Fall Le Pen danach erledigt. Die Spaltung hatte in einen atemberaubenden Erbfolgekrieg mit wüsten Beschimpfungen vor laufender Kamera gemündet. Die eigenen Anhänger waren entsetzt gewesen und hatten sich abgewandt in jene Bürgerkategorie, die – aus Verlegenheit? – gern für unerheblich abgetan wird: die der Nichtwähler. In Frankreich ist die Mißachtung der Nichtwähler besonders ausgeprägt, da Stimmanteile und Enthaltungen auf der Basis der registrierten Wähler kalkuliert werden – und nicht auf der etwa zwanzig Prozent breiteren Basis der Stimmberechtigten. Drittens mochte es so scheinen, als ob die sonnigere Lage auf dem Arbeitsmarkt (plus zwei Millionen Arbeitsplätze) das rechtsextremistische Wählerpotential austrocknen könnte.

Es gab also gute Argumente, nicht noch einmal über den alten Haudegen zu schreiben. Und ein schlechtes: Die französischen Journalisten, und das ist nicht bloß eine hinterherklügelnde Behauptung, hatten ihre eigene Angstlust satt. Sonst hätte doch wenigstens einer von ihnen das Gerücht aufgreifen müssen, das eine Woche vor dem ersten Wahlgang sogar bis zu den Ohren der Auslandskorrespondenten vorgedrungen war: Der Inlandsgeheimdienst sagte voraus, daß Le Pen in die Stichwahl kommen würde.

Soweit der Vorlauf zum “Erdbeben” vom 21. April 2002, das Jacques Chirac mit 19,88 Prozent nur einen peinlich knappen Vorsprung vor dem Rechtsextremisten Le Pen verschafft und den drögen, aber honorigen Jospin entgegen aller Erwartungen aus dem Rennen geworfen hatte. Verloren. Aus der Traum vom “rosaroten Europa”. Stattdessen dräute ein bräunlicher Albtraum. Das selbstbewußte, gerne besserwisserische “Vaterland der Menschenrechte” fühlte sich als Nation von Verrätern und war gar nicht stolz in dieser Nacht. Das Mitteilungsbedürfnis war allgemein und groß. Ein flüchtiger Bekannter schickte mir eine e-mail aus Avignon: “Ich bin durch die Stadt gelaufen und habe ein älteres Ehepaar miteinander reden gehört. ’Wenn ich das gewußt hätte, sagte die Frau, hätte ich nicht für Le Pen gestimmt.’ Mir scheint, der Himmel ist braun angelaufen.”
Schon vor Sonnenaufgang war zu erkennen, daß die gesamte politische Landschaft in Trümmern lag. Besonders auf der linken Seite. Die französische Linke mußte einsehen, daß ihre fünf Jahre lang vermeintlich erfolgreiche “Regenbogen-Strategie” – eine Regierungskoalition mit fünf erkennbaren Partnern – zu dem Desaster beigetragen hatte. Der Wille zur Macht hatte ihre Koalition zementiert und das Adjektiv “links”; mehr nicht, wie es im Nachhinein scheint. Der bloße Zusammenhalt dieser Koalition war eine Kraftanstrengung mit verheerenden Nebenwirkungen gewesen. Die Sozialisten wußten nicht mehr, wie sie als dominierende Kraft mit den Präsidentschaftskandidaten der anderen Linksparteien umgehen sollten – kräftig zubeißen war jedenfalls unmöglich. Die Verwirrung reichte so weit, daß sie zwei parteifremde Kandidaten sogar beim Nominierungsverfahren unterstützt hatten in der Hoffnung auf ein breiteres Sammelbecken für die Stichwahl. Diese Rechnung ist am Abend des ersten Wahlgangs geplatzt. Die Wähler haben diese Feinheiten nicht verstanden, und im Übrigen hatten sie keine Lust auf einen Staatspräsidenten Jospin. Im Rückblick klingt die Pointe eines Witzes, der in den Wahlkampfmonaten kursierte, wie eine Warnung an die Parteistrategen: Lionel Jospin erinnere leider jede Frau an ihren geschiedenen Mann.

Die Galionsfigur der Linken hat sich noch in der Nacht des 21. April brüsk aus dem Geschäft verabschiedet. Jospins Anhänger haben das als “würdevoll” etikettiert – kein Sesselkleber, wie es sie in der französischen Politik zuhauf gibt. Man kann die Art des Rückzugs auch als gekränkte Kapitulation betrachten, als kindisch und verantwortungslos: ein Beweis, daß es dem Kandidaten Jospin an persönlichem Format und an der nötigen Härte für das angestrebte Amt mangelte. Vier Tage lang haben seine Leutnants ihn beknien müssen, daß er sich endlich zu der einzigen Wahlempfehlung durchringt, die es in dieser Lage gab: Für seinen Erzkontrahenten Jacques Chirac. Noch länger (zwölf Tage) hat nur Giscard d’Estaing gebraucht, dann aber vor laufender Kamera ein glänzendes Plädoyer für die Demokratie gehalten und ganz zum Schluß bloß einmal den verhaßten Namen seines Nach-Nachfolgers ausgespuckt.

Lionel Jospin hat bei seinem Rückzug jedes Testament verweigert und ist jeder Debatte aus dem Weg gegangen. Der lange, langweilige Monolog, den er neun Monate danach in Le Monde veröffentlicht hat,1 verrät keine Einsichten in die tieferen Ursachen seiner Niederlage. Es ist eine selbstgefällige Selbstkritik, geschrieben für seinesgleichen von einem Parteifunktionär mit Hochschulbildung. Der Text ist die öffentliche Variante von Giscard alljährlichem Privatrequiem: Ein Mann ist gekränkt und versteht nicht, warum die Menschen so undankbar sind. Auf die Idee, daß er sie vielleicht gar nicht angesprochen hat, kommt er nicht – obwohl gerade das erklärt, warum Jospin schlechter abgeschnitten hat als ein Le Pen. Jospin (und mit ihm einem großen Teil der sozialistischen Führungsspitze) fehlt das Gefühl dafür, was die kleinen und kleineren Leute, les couches populaires, wohl bewegen mag. Die Wähleranalysen zeigen, daß die Sozialisten bei ihrer ursprünglichen Klientel immer weniger Punkte machen.
Warum ist das so? Sie wissen es nicht. Zusatzfrage: Gibt es ihre “Stammklientel” überhaupt noch? Die Arbeiterschaft alter Art ist verschwunden. Politisch mobilisierbar sind heutzutage einzig die Beamten und die Festangestellten der staatsnahen Betriebe, wie die großen Streiks im Herbst 1995 gezeigt haben. An Stelle der Arbeiterschaft sind instabile Milieus getreten. Menschen, die nur das Wissen eint, daß sie das große Los nicht herbeistreiken können. Kassiererinnen, Bankangestellte, Verbandsfunktionäre. Die moderne (Arbeits-)Welt erleben sie häufig mit ohnmächtigem Mißvergnügen. Sie spüren die tektonischen Verschiebungen der Globalisierung unter ihren Füßen und möchten wissen, was da vor sich geht, was es für die Zukunft ihrer Kinder bedeutet und ob noch irgendjemand den Überblick hat.

In der besten aller Welten könnte die Politik ihnen die Antworten geben: Dem “Volk”, das immer mehr aus Einzelnen besteht, das beruhigende Gefühl vermitteln, daß es sein Schicksal und den Lauf der Welt auf dem Umweg über die Wahlen beeinflussen kann. Dieser Aufgabe wird sie immer weniger gerecht. Nicht nur, weil Politik immer mehr mit Verwalten und immer weniger mit Gestalten zu tun hat. Sondern auch, und das gilt in Frankreich wahrscheinlich in besonderem Maße, weil ihre Sachwalter kein Empfinden für diese breite, diffuse Nachfolgeschicht der Arbeiterschaft hat, die das Wählerpotential der Rechtsextremisten bildet. Diese Gefühlstaubheit ist den “wählbaren” rechten und linken Parteien übrigens gemeinsam, wie der Philosoph Marcel Gauchet schon vor dreizehn Jahren in einer immer noch lesenswerten Analyse zum Durchbruch Jean-Marie Le Pens bei der Präsidentschaftswahl 1988 feststellte.2 Eine Reihe von demagogisch gewürzten Personalentscheidungen in der gegenwärtigen französischen Regierung sind ein Zeichen, daß der alt-neue Staatspräsident Chirac nunmehr die Lehren ziehen möchte.

Der Klassenkampf, so Gauchet damals, ist als Denkmodell zu Unrecht aus der Mode gekommen. Der Aufstieg des Rechtspopulismus trägt nämlich durchaus Züge des Klassenkampfes, sobald man “le peuple” umdefiniert zur Summe all jener, die sich politisch ohnmächtig fühlen und in den Volksvertretern nicht wiedererkennen. Die neuen “Arbeiter und Bauern” sind freilich keine Klasse im alten sondern in einem neuen Sinne. Sie sammelt die Kinder der alten Unterschichten, die Arbeitslosen, die wachsende Zahl der prekär Beschäftigten und die frustrierten oder verängstigten Mittelschichten. Am Wahltag sind sie alle fähig, in einem Akt aggressiver Entmischung, der wenig mit national-autoritären Sehnsüchten alter Art zu tun hat, für einen Kandidaten wie Le Pen zu stimmen.

Dieses neue “Volk” ist ein Milieu, zu dem die politische Elite Frankreichs wenig Kontakt hat. Es ist nicht die Welt, aus der sie stammen und in der sie leben. Sie verkehren nicht mit ihnen (es sei denn audienzförmig unter Zwischenschaltung des Wahlkreisbetreuers). Je höher der Platz in der Parteihierarchie, desto geringer die unmittelbare Vorstellung von den alltäglichen Nöten und Wünschen des “einfachen Mannes”. Ein Beispiel: Im Parteivorstand der Sozialisten sitzt eine Frau, die schon dreimal Ministerin war, bevor sie zum ersten Mal eine dieser gräßlichen, kalten Hochhaussiedlungen im Umland von Paris betrat. Das sind soziale Notstandsgebiete, in denen nicht nur Junkies und halbwüchsige Radaubrüder wohnen, sondern auch Menschen mit ganz normalen Aspirationen nach ruhigem Schlaf, Arbeit, sauberen Treppenhäusern, ordentlichen Busverbindungen und Schulen. Hinterher sagte die Frau gerührt, baß erstaunt und im Grunde furchtbar naiv zu einem Wahlhelfer: “Wie viel Vertrauen die Leute mir entgegenbringen!”

In Frankreich spielt sich die Sozialisierung des politischen Spitzenpersonals nicht auf Martkplätzen oder in Ortsvereinen ab. Ein Mann wie Jospin hat seine Durchsetzungsfähigkeit in trotzkistischen Geheimzellen erworben. Andere haben ihr Geschäft in Ministerkabinetten und anderen Besprechungszimmern mit verschlossenen Türen gelernt. Vorher sind die meisten auf irgendwelchen französischen Eliteschulen gewesen. Das sind homogene Welten, in denen man nur seinesgleichen überzeugen oder, besser noch, übertrumpfen muß. Die Spielregeln sind ziemlich unpolitisch (oder vielleicht bloß besonders modern): Erfolg hat der, der glänzt – und nicht der, der weiß, wie man Mehrheiten bildet.

Der Grundstein solch französischer Karrieren wird in jungen Jahren gelegt. Lebenswege, die in hohe Ämter führen, entscheiden sich oft schon in der Mittelschule. Wer Klassenbester ist, kommt auf ein Elitegymnasium, am besten in der Innenstadt von Paris, und von dort auf eine Eliteschule. Für die Kindheit ist nicht viel Zeit. Die Schule dauert von halb neun bis halb fünf und danach gibt es Hausaufgaben. Stärker als in den deutschsprachigen Ländern leben die Kinder nebeneinander. In den entsprechenden Milieus (Lehrerfamilien und alte Oberschichten) wird ihnen früh vermittelt, welcher Weg zu den Sternen führt. Die einen wollen, daß ihre Kinder dort ankommen, die anderen erwarten (notfalls mit dem entsprechenden Nachdruck in Form von Ferieninternaten), daß sie den Rang halten. Der Königsweg in die Technokratie, aus der sich die Politik rekrutiert, führt nicht über den Erwerb sozialer Kompetenz, sondern über die Aneignung von Kenntnissen. Das Wettmessen des Wissens, der analytischen und synthetischen Fähigkeiten, fängt schon viele Jahre vor den ersten Ausscheidungswettbewerben (concours) an, die in Frankreich als die einzig wirklich gerechte Auswahlmethode akzeptiert sind. Im Grunde sind es Kooptationsverfahren: Gut ist, wer besser ist als die andern und so ähnlich wie die Auswahlkommission.

Wer auf diesem Weg durch die Studierstuben zu Macht und Einfluß gekommen ist, kennt soziale Rachlust und Erschütterung nur aus der Literatur. Demagogisches Talent darf man von ihm nicht erwarten. Die Chancen stehen gut, daß sein Lebensweg ihn an existentiellen Härtungen vorbeigeführt hat. Und es ist wahrscheinlich, daß er mit den Leimfallenthemen der Populisten – Kriminalität, Überfremdung – einfach nichts anzufangen weiß.

Die Franzosen und ihre Eliten sind ein Thema, das in den vergangenen Jahren bis zum Überdruß debattiert worden ist. Einen ersten Höhepunkt hatte die Debatte über ihr zerrüttetes Verhältnis nach den Massenstreiks im Herbst 1995 erreicht. Alles sollte sich ändern danach: mehr “Nähe”, mehr Verhandlungskultur, weniger Technokraten. Vorgezogene Neuwahlen (ein Technokratenvorschlag) bescherte den Konservativen 1997 eine peinliche Niederlage und den Franzosen eine Linksregierung mit neuen Besserungsversprechen: mehr Verhandlungskultur, weniger Technokraten, sauberere Sitten. Die Zahl der Technokraten in den Ministerkabinetten schwoll an wie nie zuvor. Ein Teil der politischen Auseinandersetzungen verlagerte sich in die Arbeitszimmer der Ermittlungsrichter. Sie durften ungestraft Informationen aus laufenden Korruptionsverfahren an die Presse weitergeben. Die einen bissen sich am finanziellen Gebaren des langjährigen Bürgermeisters von Paris und amtierenden Staatspräsidenten Chirac fest, die anderen am protokollarisch ranghöchsten Politiker des Gegenlagers, dem Präsidenten des Verfassungsrats und Mitterrand-Intimus Roland Dumas. Enthüllungen über die korrupten Sitten der politischen Kaste wurden zu einem Unterhaltungsprogramm besonderer Art.

Nun ist ein Jahr ins Land gegangen und Staatspräsident Chirac ist gerade für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden. Roland Dumas ist in zweiter Instanz mit einer “Rüge” davongekommen. Korruptionsskandale interessieren nicht mehr. Die Linke liegt immer noch darnieder. Das bürgerliche Lager hat sich in der Erkenntnis, noch einmal davongekommen zu sein, von starker Hand zu einer Großpartei ohne Programm umgestalten lassen, einem Präsidentenwahlverein namens UMP. Die Regierung kombiniert Ansätze zu den notwendigen Reformen (Rentenkassen) mit menschelnden Aktionen: Kampf gegen Verkehrsrowdies, für Behinderte, gegen den Krebs. Das staatliche Fernsehen hat eine neue Politshow zur Hauptsendezeit ins Programm aufgenommen. Wir kennen schon alle Ministergattinnen mit Vornamen.

Und nächstes Mal? Was wird dann mit den erschrockenen Stimmbürgern sein, die am Morgen des 22. April hoch und heilig geschworen haben, die Demokratie von nun an ernst zu nehmen? Und mit den Politikern, die “die Botschaft des Volks gehört haben”, wie sie schon in der Nacht beteuerten? Sie alle haben noch vier Jahre vor sich. Zeit genug, um den Fieberstoß der hehren Gefühle zu vergessen.

Ausgabe vom 1. Februar 2003.

Les mauvaises surprises d'une oubliée: la lutte des classes", in:Le Débat Nr. 60, Mai-August 1990.

Published 15 May 2003
Original in German

Contributed by Transit © Transit Eurozine

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