Regenbogenpfützen an der Park Lane

Eine Gedankenkette entlang der Ölspuren, die sich durch Londons Straßen ziehen

Untilgbare Spuren hat das Öl in der britischen Hauptstadt hinterlassen: nicht nur im Verkehrswesen, sondern auch in der Zivilgesellschaft, in der Architektur, und nicht zuletzt im Fußball. Dieser Artikel wurde im April 2005 geschrieben, drei Monate vor den Bombenattentaten in London. Inzwischen erscheinen die ersten Absätze wie eine Vorwarnung. Doch wie die meisten Londoner sagen würden, man musste nicht hellsichtig sein, um vorauszusehen, was kommen sollte.

Auf dem Foto selbst ist nicht allzu viel auszumachen, zu wenig Pixel, gerade gut genug fürs Internet. Eine Häuserfront ist zu sehen, davor ein auf sein bares Skelett reduziertes, brennendes Fahrzeug, gelb bis orange züngelnde Flammen, die aus den Fenstern lodern, rosa Rauchwolken, die in einen mittelblauen Abendhimmel steigen. Der erste Gedanke driftet zwangsläufig in Richtung Terroranschlag – vielleicht ein Bus-Attentat in Israel? Mitnichten, diese Straße ist die Park Lane in London, gleich gegenüber dem Hyde Park, wo am 15. Februar 2003 zwischen einer und zwei Millionen Menschen vergeblich gegen den Krieg demonstriert hatten. “No Blood For Oil!” Die Kundgebung hätte fast nicht stattgefunden, weil die Parkverwaltung sich – welche Ironie angesichts der im Irak bevorstehenden Verwüstung – um den Zustand des Rasens Sorgen machte. Im Endeffekt hinterließen weder die Menschenmassen im Graswuchs noch der Krieg im Londoner Alltag sonderlich viel Spuren, obwohl ein Revanche-Anschlag der globalen islamistischen Terror-Verschwörung von Scotland Yard wiederholt als “unvermeidlich” bezeichnet worden war. Insofern hätte so ein brennender Bus auf einer zentralen Hauptverkehrsader Londons eigentlich Aufsehen erregen sollen, doch der weltstädtische Zweck-Stoizismus – man kann auch Abgestumpftheit dazu sagen – ist in London stärker als der Hang zur Panik. Niemand wurde verletzt, die verschreckten Passagiere waren schnell verstreut, war ja auch schon der dritte Vorfall dieser Art gewesen. Das veranlasste die Hersteller der Vehikel dann auch, alle neumodischen Gelenkbusse erst einmal sicherheitshalber einziehen zu lassen. Der Konstruktionsfehler in den Treibstoffleitungen war schnell gefunden und umgehend behoben, und schon alles war wieder gut, bis dann diesen März das technisch Unmögliche geschah, als schon wieder der Motor eines dieser bendy buses in Flammen aufging.

Der Sentimentalist in mir kann sich an dieser Stelle nicht mehr mit technischen Erklärungen zufrieden geben. Da müssen andere Kräfte am Werk sein, vielleicht der Rachegeist all der stinkenden alten Doppeldecker, die von den neuen Gelenkbussen abgelöst werden sollen, weil sie nicht mehr den Sicherheitsstandards entsprechen. Aber dieses Bild des brennenden Busses weckt noch andere Assoziationen, Erinnerungen an einen Film, der im London Transport Museum, dem Museum des öffentlichen Verkehrs, in Covent Garden zu sehen ist. Der Film besteht aus alten Wochenschauberichten und handelt von der Machtübernahme der Doppeldeckerbusse als dem einzigen öffentlichen Verkehrsmittel auf Londons Straßen im Jahr 1952, die ebenso logischer- wie tragischerweise mit dem Tod der längst vergessenen Londoner Straßenbahnen zusammenfiel. Die imposanten hölzernen Rahmen der doppelstöckigen Trams wurden im kathartischen Rausch des siegreichen Benzin-Zeitalters unter freiem Himmel verbrannt. Zu Asche die klapprigen Waggons, die den Pöbel aus dem Süden ins West End befördert hatten. Nicht umsonst war das Kreischen der Trams in einem London-Roman wie Graham Greenes It’s a battlefield (1934) immer als unmissverständliche Metapher für eine proletarische Umgebung aufgetreten. Die Zukunft gehörte der neuen Mittelklasse und dem schienenfreien Routemaster-Bus, einem rollenden Symbol des benzinbetriebenen Wohlstands nach der austerity der Nachkriegszeit und zu dieser Zeit nicht Konkurrent, sondern panzerstarker Vorkämpfer des Individualverkehrs, der die bis kurz davor noch selbstbewusst zwischen Trams und Leiterwagen herumflanierenden Fußgänger endgültig von der Straße verdrängte. Im Namen des technischen und sozialen Fortschritts wurden Meilen von Schienen aus dem Londoner Straßenpflaster gerissen.

Ein Jahrzehnt nach der Machtübernahme des Routemasters hatte sich die Park Lane bereits von einer Spaziermeile in eine zweispurige Stadtautobahn gewandelt. Seither wälzt sich Abend für Abend eine mehrspurige Lichterkette an den Auslagen der teuersten Autosalons Londons vorbei. Aus dem unteren Eck eines der prächtigen edwardianischen Häuserblöcke wurde sogar eine Kerbe herausgeschlagen, grade groß genug, um darin eine kleine Tankstelle zum Benzinzapfen an der besten Adresse unterzubringen. Entlang dem westlichen Ende von Mayfair zieht sich die Park Lane als nobelste aller Raserpisten bis hinunter zum Hyde Park Corner beziehungsweise rauf zum Marble Arch, der durch eine weitläufige Straßenschleife vom Rest der Stadt abgeschnittenen Antwort Londons auf den Arc de Triomphe. Was die britische Hauptstadt mangels absolutistischer Herrscher an autoritären Eingriffen in den Straßenverlauf versäumt hatte, holte das Auto in den 1960ern gleich mehrfach nach. Ein Labyrinth von Unterführungen schickt die Fußgänger auf demütigende Irrwege durch uringetränkte Passagen. Die über ihren Köpfen vorbeiziehende Prozession glänzender Karossen und mit Ballgästen gefüllter Taxis gleicht indessen einer vornehmen Variante jenes Werbespots des Autoherstellers Ford, in dem eine durchgehende Kette von Kleinbussen Stoßstange an Stoßstange eine Landstraße entlangrollt. Die Kamera blendet immer weiter auf, bis schließlich ganz Großbritannien aus der Weltraumperspektive zu sehen ist. Vom Norden bis zum Süden bilden die funkelnden Frontlichter der Transporter eine Art illuminiertes Rückgrat der Insel. Eine betont männliche Stimme lässt den passenden Slogan ordentlich donnern: “Ford Transit – The Backbone of Britain”.

Es gab eine Zeit im Spätsommer des Jahres 2000, da klang das wie eine Drohung. Am 13. September erlitt das Rückgrat Britanniens ausgerechnet auf der Park Lane einen schweren Bandscheibenvorfall, als dort 200 LKWs auf der Fahrbahn parkten, um damit mutwillig einen Verkehrsstillstand in ganz London zu provozieren. Aus Protest gegen die höchsten Diesel- und Benzinpreise Europas hatten sich die LKW-Fahrer des Landes mehr oder weniger spontan zum zivilen Ungehorsam entschlossen. Die inflationären Ölpreise, kombiniert mit der nach dem so genannten “Escalator”-System jährlich ansteigenden Treibstoffsteuer hatten den Benzinpreis erstmals über 80p (ca. ¤ 1,20) getrieben. Tausende von lorries, wie die Engländer ihre Trucks so niedlich nennen, fuhren statt zur Arbeit zu den großen Ölraffinerien das Landes und riefen ihre Kollegen Tankwagenfahrer zum Streik auf. Die Ölfirmen legten sich da interessanterweise gar nicht quer, sondern rieten ihren Fahrern an, zur Sicherheit lieber nicht auszufahren, schließlich hätte ein gefüllter Tankwagen nicht unbedingt freundlich auf Molotow-Cocktails reagiert, falls denn welche geflogen wären. Diese erstaunliche Kulanz gegenüber Streikenden und Blockierern hatte womöglich aber auch was damit zu tun, dass die Panik vor Benzinknappheit zu hysterischen Hamsterkäufen im ganzen Land führte. So wurde während der eine ganze Woche dauernden Blockade absurderweise 20 Prozent mehr Benzin verkauft als sonst. Wegen der steigenden Nachfrage legten die Ölkonzerne kurzfristig gar noch zwei freche Pence mehr pro Liter drauf.

Eine Woche lang war London eine Stadt des öffentlichen Verkehrs, der ohnehin regelmäßig zusammenbricht. Da fiel der Unterschied also nicht so sehr ins Gewicht. Im Gegensatz zur Stille des durch Angst vor Benzinmangel weithin zum Schweigen gebrachten Individualverkehrs. Selbst in Camden Town konnte man plötzlich die Gärten riechen. Vom ökologischen Standpunkt her war die Trucker-Rebellion trotzdem unerfreulich, weil sie den schlafenden Zorn der Motorisierten weckte und damit den bis dahin bestehenden politischen Konsens steigender Umweltabgaben im Benzinpreis zerstörte. Andererseits hatten aufeinander folgende Regierungen verschiedener Couleurs die Steuern auf Benzin kaum aus gesteigertem Umweltbewusstsein so schamlos erhöht. Die überdurchschnittlich hohen “heimlichen Abgaben”, so genannte stealth taxes auf Benzin, Tabak oder Alkohol waren und sind vielmehr die bevorzugte britische Methode, ein plakativ niedriges Einkommenssteuerniveau zu halten – eine Taktik, die logischerweise auf Kosten der Schlechterverdienenden gehen muss. Nicht dass die dem Ruf der Trucker folgende populistische Rechte des damaligen Konservativen-Chefs William Hague besonders viel Wert auf das Aufzeigen solcher Zusammenhänge gelegt hätte. Die Proteste hatten aber noch eine andere, symbolische Relevanz, weil sie – zufällig oder nicht – mit dem Platzen der Blase des Internet-Start-Up-Booms zusammenfielen. Nachdem die späten Neunziger hindurch eine Vision des immateriellen Business per Mausklick, angetrieben von den kühnen Ideen Skateboard fahrender Jungunternehmer durch Wirtschaftsbeilagen und Style-Magazine gegeistert war, riefen die von der Benzinkrise heraufbeschworenen apokalyptischen Szenarien der so genannten postindustriellen Gesellschaft ihre Abhängigkeit von materiellen Gütern ins Gedächtnis zurück. Plötzlich waren die Regale der Supermärkte leer, die Regierung sprach ernsthaft von Lebensmittelrationierung, und das nationale Gesundheitssystem gab Alarmstufe Rot. Ein cooles Web-Portal mit Flash-Animation konnte da wenig helfen. Im Gegenteil: Die neue Bestellwut des Internet-Shopping hatte erst recht neue Lieferantenflotten auf Londons Straßen gebracht. In den besseren Gegenden Londons wie zum Beispiel Knightsbridge oder South Kensington gingen die Supermärkte gar dazu über, ihre Produkte zur Wahrung des guten Rufs der Kunden nicht im schäbigen weißen Transporter mit dem billigen Firmen-Logo drauf, sondern im schwarzen Range Rover abzuliefern. Was im Übrigen den Blick auf eine eigenartige Widersprüchlichkeit jener Protestbewegung des Jahres 2000 richtet: Denn während sich die mit den LKW-Fahrern mehrheitlich solidarischen, aufrechten Bürger von den steigenden Ölpreisen und Steuern ausgeblutet sahen, setzte der Boom Benzin verschlingender luxuriöser Allradfahrzeuge erst so richtig ein. In den USA mochten die so genannten Sports Utility Vehicles als ultimativer Ausdruck des Motor-Machismo in Mode gekommen sein. Im automobilen Straßenkampf Londons gewannen die überdimensionierten Pseudo-Geländewagen luxuriöser Marken wie Mercedes, BMW und Porsche dagegen noch zusätzlich an sozialem Status, weil deren Besitzer mit ihrer offensichtlichen Nonchalance gegenüber steigenden Benzinpreisen gleich doppelt materielle Potenz demonstrieren. In den idyllischen Vororten Nord- und Südwest-Londons, wo multiple Verkehrsberuhigungen oft noch die längsten Federbeine bis aufs Äußerste fordern, dominieren die fett im Sonnenlicht glänzenden Buckel urbaner Geländemobile die viel zu engen Straßen als untrügliches Erkennungszeichen einer “guten Gegend”.

Großbritannien ist eine Gesellschaft mit hoher Oktanzahl. Normalbenzin wird an britischen Tankstellen gar nicht erst verkauft. Doch die Wandlung einer Stadt wie London durch das Auto ist natürlich bloß eine indirekte Konsequenz der Dominanz der Ölindustrie in den letzten fünfzig Jahren. Das Anbrechen dieser Ära griff nicht bloß in Form verbreiterter Straßen ins Stadtbild ein, die Ölindustrie verlangte auch ihren eigenen Palast und bekam ihn in Gestalt eines weithin sichtbaren, wenn schon nicht Pracht-, dann Machtbaus an der South Bank: dem Shell Centre.

Dank seiner Lage im Blickfeld der Geldburgen der City, der Art-déco-verkachelten Unterhaltungsschlösser des West End, der Regierungsgebäude an der Whitehall und der Houses of Parliament nebenan bietet sich das Südufer der Themse naturgemäß als Galerie der großen kulturellen und technologischen Ambitionen an. 1951, im vorletzten Jahr der Straßenbahnen, fand dort eine von der progressiven Labour-Regierung Clement Attlees konzipierte patriotische Leistungsschau der Kunst, Technik und Architektur statt. Mit dem “Festival of Britain” versuchte das geschrumpfte Kolonialreich Großbritannien seinen Platz in der modernen Welt zu formulieren, selbst wenn das echte Nachkriegsleben der Fleischrationen und normierten Wandfarben mit den kühnen Utopien der Künstler und Architekten wenig gemein hatte. Dieses Grand Projét war nicht für die Ewigkeit gedacht. Im Gegenteil. Die für die große Schau kreierten, atemberaubend modernen Pavillons sollten nur Provisorien sein – erste Visionen, die von der strahlenden Zukunft ohnehin bald übertroffen würden. Einzig die Royal Festival Hall blieb bestehen und diente als Vorgabe benachbarter radikaler Bauten wie des National Theatre, des National Film Theatre und der Hayward Gallery.

Flussauf- wie -abwärts wird der Kulturkomplex noch heute von zwei Monumenten technologischer Macht umzingelt: der immer noch ausgehöhlten Battersea Power Station mit ihren vier längst ausgekühlten, mächtigen Schornsteinen auf der westlichen, und der Bankside Power Station mit ihrem phallischen Schlot auf der östlichen Seite. Beide Kraftwerke wurden von Sir Giles Gilbert Scott, dem Designer der klassischen roten Telefonzelle und Architekt der revolutionären, katholischen Kathedrale von Liverpool, gewissermaßen als kalorische Kathedralen angelegt. Die Arbeit am im Art-déco-Stil angelegten Bau von Battersea, der sich zur größten Ziegelkonstruktion überhaupt auswachsen sollte, begann schon 1929, seine erste schlanke Version mit zwei Schornsteinen wurde aber erst zu Kriegsbeginn fertig gestellt. 1953-1955 erhielt das Kraftwerk dann eine Zwillingsstation und damit sein charakteristisches symmetrisches Aussehen. In der Zwischenzeit war bereits der Schornstein der in zwei Phasen fertig gestellten Anlage in Bankside aus dem Boden geschossen, und der Westwind breitete den Ausstoß der beiden rauchenden Riesen weit über dem großteils unterprivilegierten Londoner Südosten aus.

Mittlerweile genießen diese gezähmten Ungetüme sentimentale Verehrung. Bankside beherbergt die Tate Modern, und Battersea wird gerade zu einem Wohn-, Büro-, Kommerz- und Freizeit-Komplex umgestaltet. Anfang der Sechziger dagegen sah sich das Ölzeitalter gefordert, diesen trotzigen Symbolbauten des Kohlezeitalters seine immobile Kampfansage entgegenzustellen: Direkt zwischen der Royal Festival Hall und der County Hall wurde im Frühling 1963 das zweiteilige Shell Centre zu beiden Seiten der Hungerford Bridge feierlich eröffnet. Ein L-förmiger (heute zu einem Apartment-Haus namens “The White House” transformierter) Block und flussaufwärts das weit spektakulärere vierkantige Upstream Building mit einem 26 Stockwerke hohen Turm – damals das größte Bürogebäude Europas – sollten jenen multinationalen Konzern repräsentieren, der im Verlauf des vorangegangenen Jahrzehnts zum Produzenten eines stolzen Siebtels des gesamten Weltölbedarfs herangewachsen war. Mit Ralph Maynard Smith und Sir Howard Morley Robertson starben beide Architekten des Shell Centres kurioserweise noch innerhalb eines Jahres nach dessen Einweihung, und die gesichtslosen Fensterfronten verleihen dem klobigen Koloss auch ein bisschen was vom Charakter eines Mausoleums. Guardian -Architekturkritiker Jonathan Glancey bezeichnete den gesamten Gebäudekomplex einmal bösartig, aber treffend als “Speer-artig”. Seine Fassade ist in helle Portland-Stone-Platten gekleidet, die mit den bronzefarbenen Fensterrahmen kontrastieren. War die Wahl dieses Steins im Kontext des damaligen Beton- und Glas-Enthusiasmus nicht eher konservativ, vielleicht sogar anachronistisch? Ein symbolischer Rückgriff auf das bevorzugte Fassadenmaterial imperialer Bauten wie etwa des British Museum, der St Paul’s Cathedral oder des Royal Court of Justice? Oder wollte die verhältnismäßig junge Ölindustrie einfach nur gediegen rüberkommen?

Ein Laufsteg führt von der Waterloo Station direkt in den Kern des Shell Centre, doch der Innenhof ist ein beständig lebloser Ort. In der aus mehreren blattartig übereinander geschichteten Muscheln bestehenden Brunnenskulptur von Frank Belsky fließt kein Wasser, und “The Motorcyclist” von Siegfried Charoux versprüht auch nicht gerade gastfreundlichen Charme, vielleicht weil der grimmige Blick und der Helm des Motorradfahrers allzu offensichtlich an einen Soldaten erinnern. Der schon 1935 aus Wien emigrierte Charoux hatte mit seiner Skulptur “The Islanders” einen äußerst prominenten Beitrag zum bildhauerischen Teil des Festival of Britain geleistet. Im Erdgeschoß des Shell Centre gibt es keine öffentlich zugänglichen Räume, selbst die Auslage, in der Michael Schumachers Ferrari als vitaler Image-Träger der Ölmarke ausgestellt wird, wirkt in dieser stets von einem scharfen Wind durchwehten, freudlosen Umgebung wie ein disloziertes Relikt aus der Ära vor dem Rückzug der von Globalisierungsgegnern und Menschenrechtsorganisationen hinterfragten Multis in die paranoide Verschlossenheit.

Nach der Verschmelzung mit der Konzernschwester Royal Dutch und dem – durch die peinliche Überschätzung der eigenen Ölreserven um flotte 4 Milliarden Barrel leicht getrübten – Rekordprofitjahr 2004 wird Shell seine Zentrale kostensparend nach Holland verlegen. Das damit entmachtete Londoner Shell Centre machte aber nicht erst seit gestern einen für diese zentrale Lage erstaunlich verwaisten Eindruck. Die nostalgische Verklärung dieses auf paradoxe Weise fast ostblockartig unterkommerzialisierten öffentlichen Raums darf jetzt schon beginnen: Eine nach kommerziellen Kriterien konzipierte Umwandlung des Innenhofs in einen behübschten Geschäfts-, Büro- und Gastronomiebereich samt obligaten Glasfronten und piazza wurde bereits von der Stadtverwaltung bewilligt.

Aber vielleicht wäre es in einer Zeit ephemerer Machtstrukturen auch ein bisschen zu einfach, Spuren von Öl im Wolkenkratzer eines Multis, den Regenbogenfarben in einer Pfütze am Straßenrand oder in den überschätzten Nordsee-Reserven zu suchen (2004 musste Großbritannien zum ersten Mal seit 13 Jahren wieder ein Ölhandelsdefizit verzeichnen). Große Teile Londons wurden schließlich mit Geld erbaut, das mit der Wurzel seiner Herkunft nie in physische Berührung kam, und die großen Niederlassungen britischer, französischer, holländischer und Schweizer Geldinstitute in der Londoner City saugen Ölerträge aus aller Welt gierig an. Kaum sonstwo auf der Welt lassen sich mit Öl verdiente Millionen so flott und stilvoll loswerden wie in London, folglich gibt es hier auch eine teils temporäre, teils permanente Einwanderer-Community, die sich von den unzähligen anderen Migrantengesellschaften vor allem in ihrer Finanzkraft unterscheidet. Und wo wir schon gerade an der Park Lane stehen: Wer kuriose arabische Kennzeichen auf fetten Limousinen sehen will, wäre nicht schlecht beraten, ein paar Blöcke nordwärts die Baker Street hinaufzuschlendern. Ums Eck in der Paddington Street verkauft Hassan’s News neben einigen arabischen Tageszeitungen auch so spezialisierte Publikationen wie Collection , das “pan-arabische Luxusmagazin”. Aber im Gegensatz zu den sichtbaren islamischen Communities nebenan an der Edgware Road oder draußen in den Vorstädten hat das vermögende arabische London kein gesteigertes Interesse, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Das Understatement endet freilich nördlich der Marylebone Road mit dem voluminösen goldenen Zwiebeldach der protzigen Londoner Zentralmoschee am westlichen Ende des Regent’s Park. Mit ihrem weißen Minarett und dem durch die hohen Fenster gut sichtbaren, gigantischen Kristallluster im Gebetssaal ist die London Central Mosque das augenfälligste Sinnbild arabischen Öl-Kapitals, wenngleich ihre Geschichte ganz anders begann, und zwar mit einem in jahrzehntelangem Drängen mühsam abgerungenen “Geschenk” von Winston Churchills Kriegskabinett an seine moslemischen Mitbürger. Obwohl sie zahlenmäßig die größte Religionsgemeinschaft des britischen Empire stellten und in ebenso großem Verhältnis ihre Soldatenleben dafür gaben, gab es in ganz London keinen Versammlungsort für Moslems. 1944 übernahm ein aus Diplomaten islamischer Länder und moslemischen Briten gebildetes Moscheenkomitee den von der Regierung angebotenen Grund am Hanover Gate des Regent’s Park zur Errichtung eines islamischen Zentrums. Der Ort war prominent, aber die Erringung einer Baubewilligung für ein ostentativ islamisches Gebäude stellte sich als umso schwieriger heraus. Nach Ablehnung unzähliger Entwürfe und diplomatischen Interventionen islamischer Länder genehmigte die unwillige Behörde schließlich ein sattes Vierteljahrhundert später die Pläne des englischen Architekten Sir Frederick Gibberd. König Faisal von Saudi-Arabien spendierte ein knappes Drittel der Baukosten von insgesamt 6,5 Millionen Pfund, König Fahd steuerte in den 1990ern noch die Mittel für den Schulungs- und Verwaltungsflügel bei.

Doch die Moschee im Regent’s Park ist bei weitem nicht der einzige durch fremde Öl-Millionen mitfinanzierte Tempel im Dienste der spirituellen Erbauung der Londoner: Ein paar Meilen weiter südwestlich steht das Stadion des Chelsea FC an der Stamford Bridge. Der bei Redaktionsschluss praktisch uneinholbar in der ersten englischen Liga führende Verein erfuhr in den letzten zwei Jahren einen sportlichen und finanziellen Boom dank der geschätzten 350 Millionen Pfund, die der ins Londoner Exil ausgewichene sibirische Öl-Mogul Roman Abramovich in den Club investierte. Die mit internationalen Starspielern aufgepeppte Mannschaft wird von Freund und Feind seither liebevoll als “Chelski” tituliert. Im vergangenen Jahr erwirtschaftete der Chelsea FC einen historischen Rekordverlust von 88 Millionen Pfund, hielt sich aber dank eines von seinem Chef Abramovich persönlich gewährten Darlehens von 115 Millionen Pfund komfortabel über Wasser. Der vermeintliche Mäzen machte sein sagenhaftes Vermögen mit einer russischen Ölfirma namens Sibneft, die seit der Fusion mit Yukos zum viertgrößten Ölkonzern weltweit gehört. Obwohl Abramovichs Profite aus der Privatisierung der exsowjetischen Ölindustrie auf undurchsichtigen Deals beruhen, die großteils auf Kosten russischer Kleinaktionäre gingen, galt der 37-jährige Krösus als Gouverneur der sibirischen Provinz Tschukotka wegen seiner großzügigen Geschenke an die verarmte Bevölkerung bis vor kurzem noch als Volksheld. Bei den nächsten Gouverneurswahlen will Abramovich allerdings nicht mehr kandidieren, und wer weiß, wie er abschneiden würde, schließlich wurde die gesamte Provinz letzten Mai mit Schulden von 300 Millionen Dollar für bankrott erklärt. Die russischen Steuerprüfer hatten festgestellt, dass ein Großteil der 472 Millionen Dollar an Steuernachlässen, die die Provinz seit Abramovichs Machtübernahme gewährt hatte, seiner eigenen Firma Sibneft zugute gekommen war.

Anzunehmen, dass Londons Chelsea-Fans sich wenig um die ethischen Implikationen scheren, sollte sich herausstellen, dass ihr Team auf Kosten irgendeiner fernen sibirischen Provinz die glorreiche Champions League erobert. Einer der dauerhaftesten, verhängnisvollsten Übersetzungsfehler ist schließlich die Annahme, dass der englische Begriff Fairness irgendwas mit Gerechtigkeit zu tun hätte. Fair enough ist vielmehr alles, was straflos geht. Und in Sachen Geld geht da einiges, was nicht unbedingt mit dem Klischee britischer Zurückhaltung zusammenpasst. Das erfuhren zum Beispiel die mehr als dreißig Greenpeace-AktivistInnen, die am 16. Februar, dem Tag des Inkrafttretens des Kyoto-Protokolls, ins Gebäude der International Petrol Exchange eindrangen, um gegen den Beitrag des internationalen Ölhandels zur Klimaveränderung zu protestieren. Die mit Pfeifen und Nebelhörnern ausgerüsteten Greenpeace-Leute ließen Ballons in die Luft steigen, an denen heulende Anti-Vergewaltigungsalarme hingen, um so das Geschrei der Saalhändler am Börsenparkett zu übertönen und damit den Handel zu sabotieren. Sie hatten nicht mit der handgreiflichen Reaktion der von Beruf aggressiven, jungen Händler gerechnet. Die Traders schlugen und traten die AktivistInnen vom Saal durch die Lobby bis hinaus auf die Straße und erhielten dabei tatkräftige Unterstützung der Polizei, die 27 ProtestiererInnen festnahm, während zwei mit der Rettung ins Spital gebracht werden mussten.

Noch am selben Abend tauchten die Greenpeace-Leute samt Trillerpfeifen beim jährlichen Diner des Institute of Petroleum im Grosvenor House Hotel an der (dreimal raten) Park Lane auf und enthüllten an der Fassade ein Transparent mit der Aufschrift “Der Klimawechsel tötet, die Ölindustrie feiert”.

Ach, übrigens: 1999 hatte kein Geringerer als Dick Cheney beim Herbst-Lunch desselben Institute of Petroleum eine wegweisende Rede gehalten, deren im Internet zirkulierende Transkription ein paar interessante Stellen enthält: “Ich werde oft gefragt, warum ich die Politik verlassen und zu Halliburton gegangen bin, und ich erkläre dann, dass ich an einem Punkt angelangt war, wo ich mies gelaunt, gereizt und intolerant gegenüber allen war, die nicht mit mir übereinstimmten, und da sagten sie zu mir: ’He, du würdest einen guten Geschäftsführer hergeben’, also ging ich nach Texas und trat dem privaten Sektor bei.” Nach den einleitenden Scherzen rechnete Cheney seinem Londoner Publikum vor, dass “wir bis 2010 zusätzlich ungefähr 50 Millionen Barrel pro Tag brauchen werden. Wo soll dieses Öl also herkommen?”, fragte er, und gab sich selbst einen Absatz später die Antwort: Die “ultimative Beute”, so Cheney damals, liege “immer noch im Nahen Osten.” Der Rest ist beinahe schon Geschichte.

Published 13 July 2005
Original in German
First published by Wespennest 139, 2005

Contributed by Wespennest © Robert Rotifer / Wespennest / Eurozine

PDF/PRINT

Read in: DE / EN

Published in

Share article

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Discussion