Postkommunistische Wohlfahrtsstaaten in der EU

Bilanz und Perspektiven

Die neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die im Jahre 2004 bzw. 2007 beigetreten sind, gehören sämtlich – wenn wir einmal von den anderthalb kleinen Mittelmeerinseln Malta und Süd-Zypern absehen – zu dem Teil Europas, der (mit Ausnahme Sloweniens) bis 1989 mehr oder weniger eng in das sowjetische Herrschaftssystem des Warschauer Paktes und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe eingebunden und durch die Merkmale des autoritären Staatssozialismus (Machtmonopol einer Staatspartei, Wirtschaftsplanung, umfassende ideologische Kontrolle) charakterisiert war. Seit dem Zusammenbruch des alten Regimes haben sich diese Staaten auf einen Weg begeben, der die “Rückkehr nach Europa” zum Ziel hat, und die Institutionen des Rechts- und Verfassungsstaates, der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft aufgebaut.

Dieser Prozess der umfassenden postsozialistischen Transformation hat Auswirkungen auch auf jenen umfangreichen institutionellen Sektor gehabt, den wir in allen Spielarten des Typus “entwickelte Industriegesellschaft” antreffen (und zu dem die staatssozialistischen Gesellschaften Mittel- und Osteuropas in den meisten Hinsichten fraglos gehörten): den Sektor der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen, welche die Bevölkerung mit Statusrechten ausstatten, sie vor den Auswirkungen typischer Lebensrisiken schützen und mit Diensten und Gütern versorgen. Bei der Beobachtung der postsozialistischen Entwicklung haben sich die meisten Beobachter auf den Wandel von Recht und Verfassung einerseits, die Umstellung auf Markt und Privateigentum andererseits konzentriert. Sehr viel weniger Aufmerksamkeit hat dagegen der Umbau der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und der Wandel ihres Leistungsprofils gefunden;1 dieses relative Desinteresse am postsozialistischen Wohlfahrtsstaat mag auch mit dem überraschenden Umstand zusammenhängen, dass die “soziale Frage” im politischen Leben und in den öffentlichen Konflikten der neuen Demokratien eine relativ untergeordnete Rolle spielt, während oft genug nationale, ethnische und sprachpolitische Identitätsfragen mit ihren innen- wie auch außenpolitischen Zuspitzungen die postkommunistische Szene beherrschen. Überraschend ist dieser blinde Fleck bei Themen des sozialen Schutzes und der Einkommensverteilung deshalb, weil die wirtschaftliche Transformation für weite Teile der Bevölkerung über Nacht neuartige Belastungen, Risiken und Versorgungslücken mit sich gebracht hat, mit denen sie sich unter den autoritär-paternalistischen sozialen Schutzvorkehrungen des alten Regimes nicht auseinanderzusetzen hatten. Musterbeispiel für diese neuartigen Risiken ist die Arbeitslosigkeit, die unter dem alten Regime dem Begriff nach (und weitgehend auch der Sache nach) ganz unbekannt war. Die Frage ist deshalb, mit welchen Mitteln und mit welchen Zielen die politischen Kräfte in den neuen Demokratien die Probleme angehen, die zum Kern der wohlfahrtsstaatlichen Agenda gehören: der Arbeits- und Gesundheitsschutz von Arbeitnehmern, die Bekämpfung von (bzw. Transfereinkommen bei) Armut und Arbeitslosigkeit, die Institutionalisierung lohnbezogener Verteilungskonflikte, das Angebot an Dienstleistungen im Bereich der Medizin und Bildung, die Förderung von Familie, Hinterbliebenen und Jugend, die Sicherung von bedarfs- und einkommensgerechtem Wohnraum und die Finanzierung und Verteilung der Leistungen für die Alterssicherung. Zudem müssen diese Aufgaben unter den Bedingungen der neuen funktionalen Trennung zwischen öffentlichem und Unternehmenssektor einerseits sowie unter den neuen Wettbewerbsbedingungen im einheitlichen europäischen Wirtschaftsraum andererseits bewältigt werden.

Bisher sind der mittel- und osteuropäische Wohlfahrtsstaat der postsozialistischen EU-10 und die treibenden Kräfte seiner Entwicklung weithin eine terra incognita. Inwiefern kann die Evolution der zentral- und osteuropäischen Wohlfahrtsstaaten durch “Pfadabhängigkeit”, also das Fortwirken sowohl staatssozialistischer als auch älterer, aus der Zwischenkriegszeit der Länder stammenden Traditionen und Erwartungen erklärt werden? Oder waren vielmehr die Erfahrungen des Systemwechsels mit seiner tiefen Transformationskrise und des anschließenden, unter einschneidende Konditionen und Auflagen gestellten Beitritts zum Geltungsbereich des sog. “europäischen Sozialmodells” entwicklungsbestimmend? In beiden Suchrichtungen wird man fündig; vereinfacht gesagt können wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen in der Region als kombinierte Folge zweier Faktoren beschrieben werden: der “Vergangenheit” und des “Westens”.

Was die Vergangenheit betrifft, so hat der Staatssozialismus während der etwa 40 Jahre seiner Herrschaft Erwartungen an und Auffassungen über soziale Gerechtigkeit verbreitet und selbstverständlich werden lassen, die auch nach dem Niedergang dieses Institutionengefüges fortbestehen. Insbesondere werden Regierungen in der Verantwortung gesehen, für einen hohen Beschäftigungsstand zu sorgen. “Auch lange nach dem Systemwechsel bleiben Erwartungen an eine weitreichende Rolle des Staates extrem hoch.”2 Darüber hinaus haben die Länder der Region aus der Zwischenkriegszeit ein stark “bismarckisch” geprägtes Modell der Sozialversicherung geerbt. Was auf der anderen Seite die “westlichen” Einflüsse auf die Transformationen der neuen Wohlfahrtsstaaten betrifft, so sind ebenfalls zwei Faktoren zu nennen. Zum einen ist da die Rolle, die internationale Finanzinstitutionen wie Weltbank und der IWF beim Umbau der Renten- und Gesundheitssysteme spielten, als diese im Zuge der Transformationskrisen am Anfang der neunziger Jahre unter erheblichen Finanzierungsdruck gerieten. Der andere westliche Faktor ist die Europäische Union sowie die Diffusion ihrer diversen Wohlfahrtsstaatsmodelle in Richtung Osten. Diese Diffusion wurde sowohl durch “push“- wie durch “pull“-Effekte vermittelt. Der “push” ging von der EU-Kommission und den Verträgen von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) aus und wurde im Vorfeld der Osterweiterung als Gebot einer “Rationalisierung der Sozialausgaben”3 wirksam, das an prospektive Beitrittskandidaten adressiert war. Von ebenso großer Bedeutung war der “pull“-Faktor, der darin bestand, dass zentral- und osteuropäische Eliten sowohl in Westeuropa als auch bei internationalen Organisationen (Weltbank, ILO, Europarat, OECD) nach Vorbildern und Vorschlägen zum Neubau ihrer eigenen Sozialsysteme Ausschau hielten.4

Diesen beiden komplexen Gruppen von Variablen muss man noch eine weitere zur Seite stellen, die in den Machtstrategien der neuen politischen Eliten besteht, denen weitgehend machtlose Teile der Gesellschaft gegenüberstehen – man denke hier an die notorische Schwäche der oft stark fragmentierten postkommunistischen Gewerkschaften. Im Gegensatz zu den externen Parametern der “Vergangenheit” und des “Westens” ist dies eine interne Variable, die ihre Wirkung innerhalb der neuen politischen Institutionen und sozioökonomischen Bedingungen der neuen Mitgliedsstaaten entfaltet. Diese Variable ist wichtig, wenn man die auffälligen Unterschiede zwischen den Entwicklungen der Beitrittsländer erklären möchte. Besonders klar wird diese analytische Perspektive der Machtressourcen und -strategien der neuen politischen Führungsgruppen von Pieter Vanhuysse eingenommen.5 Natürlich schließen sich die beiden analytischen Perspektiven keineswegs aus, da zum einen die beiden externen Faktoren von internen Akteuren gewichtet und zur Geltung gebracht werden können und umgekehrt bestimmte interne Machtzentren ideologische und praktisch-politische Bündnisse mit externen Modellen und ihren Protagonisten eingehen können. Berühmt geworden ist z.B. das Bekenntnis von Václav Klaus aus den frühen neunziger Jahren, er wolle in der tschechischen Republik eine “Marktwirtschaft ohne Adjektiv” einrichten – gemeint: keine “soziale” Marktwirtschaft, sondern eine, die sich eher am Vorbild Margaret Thatchers orientiert.

Statt beim Thema der ursächlichen Variablen und abstrakten Modelle zu verweilen, möchte ich im Folgenden zwei Punkte ansprechen, von denen der eine am Anfang der Transformation der Wohlfahrtsstaaten Zentral- und Osteuropas liegt und der andere am Ende des Prozesses. Weniger kryptisch ausgedrückt geht es zunächst um die vorherrschenden Werte, sozialen Normen, Einstellungen und Erwartungen, also die Ideen und Leitvorstellungen, an denen sich politische Eliten wie auch die Masse der Bevölkerung im Transformationsprozess orientieren. Danach möchte ich kurz auf die Leistungen und die Ergebnisse der Sozialpolitik der neuen Mitgliedsstaaten zu sprechen kommen: Mit welchen Mitteln und in welchem Maße ist es den politischen Führungsgruppen gelungen, soziale Sicherheit als wohlfahrtsstaatliche Leistung zur Verfügung zu stellen sowie Armut und Exklusion im Sinne einer Politik der sozialen “Kohäsion” zu bekämpfen?

Das Wertesystem postkommunistischer Wohlfahrtsstaaten

Jedes System der sozialen Sicherung und sozialpolitischer Dienstleistungen zieht eine implizite “moralische” Demarkationslinie. Diese Linie trennt jene Kategorien von Risiken und belastenden Umständen, von denen erwartet wird, dass die Betroffenen sie entweder “aushalten” oder mit eigenen Mittel bewältigen (können und deshalb) müssen, von den Kategorien, auf die dies nicht zutrifft und die daher kollektiver Vorsorge bedürfen. Mit einer leichten Erkältung befinde ich mich diesseits jener Trennlinie – so die Logik der meisten Wohlfahrtsstaaten und ihrer Gesundheitssysteme –, da von mir das Wissen, das adäquate Verhalten und die Aufbringung der erforderlichen Kosten erwartbar ist, die zusammengenommen zu einer schnellen Genesung beitragen. Im Falle einer Lungenentzündung wird die erforderliche kostspielige, in der Regel stationäre Behandlung typischerweise durch öffentliche oder andere kollektive Vorkehrungen (medizinisches Fachpersonal, Kliniken, öffentliche oder private Versicherungen) geregelt, bereitgestellt und bezahlt. Demnach können wir uns Wohlfahrtsstaaten als Sortiermaschinen vorstellen, die nur bei einem Teil von belastenden Lebensumständen und einem Teil der von ihnen Betroffenen das Recht auf öffentlich bereitgestellte Abhilfe einräumen – und bei anderen nicht. Für die Bewältigung dieser anderen, eher als “normal” geltenden Belastungen und Bedarfslagen haben Betroffene dagegen selbst aufzukommen, indem sie sich aus eigener Kraft oder durch Rückgriff auf Märkte, Familien oder andere Gemeinschaften geeignete Abhilfe verschaffen oder sich einfach mit “den Tatsachen abfinden”. Innerhalb der Wohlfahrtsstaaten ist die genaue Lage dieser Demarkationslinie ständig umkämpft und in Bewegung. In vergleichender Perspektive jedoch sind Wohlfahrtsstaaten deutlich danach zu unterscheiden, wie und wo sie diese Linie ziehen.

Die staatssozialistische Kultur der Sozialpolitik hat diese moralische Demarkationslinie sehr weit vom Extrem marktbasierter, d.h. durch kaufbare Güter und Leistungen vermittelter Versorgung entfernt und nahe an den entgegengesetzten Pol umfassender staatlicher Fürsorge gerückt. Die grundlegende Tatsache, dass zumindest offiziell kein Arbeits-“markt”, sondern eine umfassende Zuteilung von Arbeitsqualifikationen, Arbeitsplätzen und arbeitsbezogenen Versorgungsansprüchen existierte, wirkte als ein universeller Schutz der gesamten Bevölkerung vor dem Risiko der Arbeitslosigkeit. Die Erwartungen der Masse der Bevölkerung stimmten mit der strategischen Orientierung der herrschenden Partei in dem Punkt überein, dass der fürsorgliche staatliche Paternalismus die meisten Bedürfniskategorien (wie die Versorgung mit Einkommen, preisgünstigen Grundnahrungsmitteln, Wohnraum, Bildung, Urlaubsreisen) der Bevölkerung abdecken sollte.6 Strategisch gesehen standen jene Institutionen, die diese sozialpolitischen Normen verkörpern und umsetzen sollten, im Dienste gesellschaftspolitischer Ziele: Sie sollten die Arbeiter abhängig, diszipliniert und fügsam halten, Systemtreue belohnen (sowie mangelnde Kooperation unter Drohung des Leistungsentzuges stellen), “kleinbürgerlichen Individualismus” und soziale Differenzierung unter den arbeitenden Bürgern verhindern und außerdem Arbeitsmotivation und -produktivität stimulieren. Sozialpolitische Leistungen wurden nicht als individueller und einklagbarer Rechtsanspruch verstanden, sondern in der Regel nach dem Ermessen der politischen Leitung zugeteilt. Das Sicherungssystem war eindeutig “produktivistisch”, da soziale Bürgerrechte (im Gegensatz zu den über den Arbeiterstatus erworbenen Rechten) allenfalls eine Nebenrolle spielten.7 Das kollektivistische und paternalistische System der Vorsorge privilegierte jene, die eine produktive Rolle in der Gesellschaft spielten (oder sich darauf vorbereiteten), sowie die reproduktive Funktion von Frauen. Menschen ohne (re)produktive Aufgabe, in erster Linie Rentner, waren in ihren Leistungsansprüchen deutlich schlechter gestellt. Diese Tatsache sollte uns vor der falschen Annahme bewahren, die Sozialpolitik des Staatssozialismus hätte auf der Grundlage von “Bürgerrechten” stattgefunden. Im Gegenteil: Tatsächliche Anerkennung als “Bürger” wurde nur jenen zuteil, die eine der genannten, als “produktiv” gewerteten Funktionen innehatten.

Die sozialpolitische Kultur des Staatssozialismus beruhte, kurz gesagt, auf drei Normen: Paternalismus, Produktivismus, Egalitarismus. Die Frage ist: Was geschieht mit diesen in der Bevölkerung verwurzelten Normen jetzt, da die ihnen entsprechenden Institutionen untergegangen sind? Die Betriebe sind privatisiert und können sich soziale Versorgungsfunktionen nicht mehr leisten; es gibt einen Arbeitsmarkt und damit Arbeitslosigkeit als Folge der Transformationskrise; die Finanzkrise der Staatshaushalte macht großzügige soziale Leistungen unbezahlbar. Meine These ist, dass die zum Syndrom der umfassenden paternalistischen Fürsorge gehörenden Normen und Erwartungen keineswegs zusammen mit den entsprechenden Institutionen verschwinden, sondern diese für einen beträchtlichen Zeitraum überleben und dabei vielleicht im nostalgisch verklärenden Rückblick auf die “guten” Seiten des Staatssozialismus an Stärke noch gewinnen.

Es gibt wenig gesichertes Wissen über die Frage, was passiert, wenn “alte” Normen und Erwartungen mit neuen institutionellen Realitäten zusammenstoßen. Bei dieser Frage ist zwischen zumindest fünf Gruppen von postkommunistischen Ländern zu unterscheiden: den Visegrad-Staaten, den baltischen Staaten, den im Jahre 2007 beigetretenen südosteuropäischen Staaten Bulgarien und Rumänien, den Staaten und Protektoraten des westlichen Balkans und den osteuropäischen Fällen ohne aktuelle Beitrittsperspektive (Ukraine, Moldau, Belarus, Russland). Von besonderem Interesse für das Verhältnis zwischen kultureller Beharrung und institutionellem Wandel ist der Sonderfall der DDR (dem wirtschaftlich am höchsten entwickelten unter den ehemaligen Comecon-Staaten), also der deutschen Neuen Bundesländer.8 Auch 20 Jahre nach dem Ende der DDR zeichnen sich deutliche und beharrliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen in ihren sozialpolitischen Einstellungen und Erwartungen ab, wobei die Ostdeutschen weitaus eher zu einer “etatistischen” Definition jener Demarkationslinie zwischen öffentlicher und individueller Verantwortung und zu einem stärker “materialen” Verständnis von Demokratie neigen. 55 % der ostdeutschen Befragten (gegenüber 39 % der Westdeutschen) glauben, “Demokratie” bedeute, dass der Staat für Arbeitsplätze bzw. die Überwindung von Arbeitslosigkeit sorge. 40 % von ihnen (gegenüber 26 % im Westen) denken, ein wirklich demokratischer Staat müsse die Kontrolle über Banken übernehmen. Im Jahre 2006 stimmten 74 % der Ostdeutschen der Aussage zu, Sozialismus sei “eine gute, nur schlecht durchgeführte Idee” – im Westen waren es nur 49 % der Befragten. In der gesamten zentral- und osteuropäischen Region hat offenbar eine Semantik für “Demokratie” überlebt, die stark mit Verteilungsgerechtigkeit und einem hohen Maß an staatlicher Verantwortung für soziale und wirtschaftliche Entwicklungen assoziiert wird; diese semantische Differenz erklärt auch, weshalb im Osten die Unzufriedenheit mit dem tatsächlichen Funktionieren der Demokratie weitaus größer ist als im Westen.

Ebenso wie der Übergang vom Staatssozialismus zum demokratischen Kapitalismus ohne historisches Vorbild war und sich nicht an einer eigenständigen revolutionären Vision orientiert hat (sondern sich als ein weithin unerwarteter Zusammenbruch des alten Regimes zutrug), gab es auch kein ausgearbeitetes Modell für Wege und Ziele der nach dem Zusammenbruch einsetzenden Transformation. Vielmehr sind die postsozialistischen Gesellschaften und ihre wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen als kumulatives Ergebnis von Versuchen entstanden, den eingetretenen Ausnahmezustand ad hoc zu bewältigen. Die Entstehung der postsozialistischen Wohlfahrtsstaaten ist geprägt von dem Ausnahmezustand, in dem die Politik unter vielerlei ökonomischen und politischen Zwängen und oft improvisierend neue Institutionen “erfinden” musste. Es ist deswegen wenig überraschend, dass in vielen dieser Länder scheinbar “gesichtslose” Mischgebilde entstanden, die sich sowohl voneinander wie auch von den ideologisch etwas klarer profilierten (“sozialdemokratischen”, “konservativen” oder “(neo)liberalen”) Wohlfahrtsstaaten Westeuropas unterscheiden. Die Bedingungen in einigen der Länder waren außerdem zum Teil von ethnischen, religiösen und nationalistischen Identitätskonflikten geprägt, die – z.B. in Lettland mit seiner starken russischen Minderheit oder auch in den Ländern mit hohen Anteilen von Roma und Sinti – einen gewissen Einfluss auf die sozialpolitische Entwicklung gewannen.

Ergebnisse: Sicherheit, Inklusion und die Verteilung von Lebenschancen

Bekanntlich bleibt das Pro-Kopf-Einkommen der neuen Mitgliedsstaaten hinter dem der alten zurück; dies wird für noch mindestens eine Generation so bleiben. Vergleichsweise schlecht schneiden die neuen Mitgliedsstaaten auch in Bezug auf die Verteilung von Lebenschancen ab. Merkel und Giebler9 haben den ebenso heroischen wie lehrreichen Versuch unternommen, einen “Index sozialer Gerechtigkeit” zu erstellen und diesen auf 30 OECD-Staaten anzuwenden, darunter auch die vier Visegrad-Staaten. Die Skala reicht vom schlechtesten Wert 1 bis zum besten Wert 10 und misst sieben Dimensionen sozialer Gerechtigkeit (Armutsbekämpfung, Bildung, Arbeitsmarkteffizienz, Ausgaben für Gesundheit und sozialen Zusammenhalt, Einkommensverteilung, Generationengerechtigkeit, Antidiskriminierungsgesetzgebung), die jeweils durch einen oder mehrere einschlägige Indikatoren operationalisiert werden. In dem daraus synthetisierten Gesamtindex wird Armut mit dem Faktor vier, Bildung mit dem Faktor drei und Arbeitsmarkteffizienz mit dem Faktor zwei gewichtet. Trotz dieser etwas willkürlichen quantitativen Operationen sind die Ergebnisse von bemerkenswerter Plausibilität. Die fünf skandinavischen Länder führen die Liste der 30 Staaten an. Die meisten der alten Mitgliedsstaaten auf dem westeuropäischen Kontinent sind im zweiten Viertel der Rangliste zu finden, gefolgt von der Slowakei (Platz 14), der Tschechischen Republik (15), Ungarn (16) und Polen (abgeschlagen auf Platz 26, knapp vor Südkorea). Da diese Länder, zusammen mit dem Spitzenreiter Slowenien, die wirtschaftlichen wie auch politischen “Erfolgsgeschichten” unter den neuen Mitgliedsstaaten in Mittel- und Osteuropa darstellen, ist es wahrscheinlich, dass die übrigen fünf Beitrittsländer (die drei baltischen und vor allem die beiden südosteuropäischen, für die vergleichbare Daten nicht vorliegen) noch schlechter abschneiden. Gleichwohl ist die Leistung der vier Visegrad-Länder in Bezug auf “soziale Gerechtigkeit” – im Sinne des vorliegenden Index – größtenteils besser als jene der angelsächsischen Wohlfahrtsstaaten, die auf den Plätze 18 (Australien), 21 (Großbritannien) und 24 (USA) der Rangskala folgen.

Ein anderer Weg, die Leistungen von Wohlfahrtsstaaten zu messen, operiert mit Daten über den Grad der subjektiven Zufriedenheit von Befragten mit den Bedingungen, die in ihren Ländern nach dem Systemwechsel und dem EU-Beitritt vorherrschen. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung hat 2007 eine umfangreiche Datenbank erstellt, mit der solche Fragen beantwortet werden können. Eine Frage betrifft die von den Befragten gewünschten Prioritäten für “zusätzliche öffentliche Ausgaben”. Ausnahmslos stand bei den Befragten in allen zehn Ländern die Gesundheitsversorgung an erster Stelle, dicht gefolgt von der Altersversorgung auf Platz zwei. Dieses Ergebnis spiegelt die wahrgenommenen Mängel in diesen beiden Kernbereichen wohlfahrtsstaatlicher Politik wider. Die positiven Antworten auf eine weitere Einstellungsfrage, nämlich die nach der Vorzugswürdigkeit von Demokratie oder Marktwirtschaft, rangieren zwischen 50 und 75 % beim Thema “Demokratie” und zwischen 40 und 60 % im Falle der “Marktwirtschaft”. Interessant ist dabei weniger das vergleichsweise niedrige durchschnittliche Niveau positiver Antworten, sondern ihre Verteilung nach Alters- und Einkommensgruppen. Wieder zeigt sich eine erstaunliche Einheitlichkeit. Mit zwei Ausnahmen (Slowenien und Ungarn) waren die Befürworter der Demokratie am häufigsten in der jüngsten Altersgruppe zwischen 18 und 34 Jahren; und sie häuften sich ebenso in der obersten von drei Einkommensklassen, während die positive Bewertung der Demokratie sowohl bei den beiden älteren wie auch bei den beiden ärmeren Kategorien von Befragten deutlich niedriger lag und sehr oft nur Werte von weniger als 50 % erreichte. Dieses Muster zeigt sich noch deutlicher im Fall der Bewertung der Marktwirtschaft: Hier liegen praktisch nur die Jüngsten und die am besten Situierten über der 50-%-Linie (mit Ausnahme wiederum des positiven “Ausreißers” Slowenien). Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den erfragten Stellungnahmen zum Statement: “Alles in allem bin ich mit meinem gegenwärtigen Leben zufrieden.” Auch hier ist der höchste Anteil positiver Antworten bei dem jüngsten und dem wohlhabendsten Drittel der Befragten zu finden (also bei jenen, die am wenigsten auf Alterssicherung, soziale Hilfen und andere Leistungen des Wohlfahrtsstaates angewiesen sind), während in fast allen Ländern weniger als die Hälfte der Älteren (über 34 Jahre) und der Ärmeren diesem Statement zustimmen; eine Ausnahme bilden hier nur Slowenien und Estland.

All diese Befunde werfen die Frage auf, ob die nachsozialistischen Wohlfahrtsstaaten und ihre politischen, wirtschaftlichen und sozialen Institutionen nur von einer Minderheit positiv gewürdigt und unterstützt werden, nämlich denjenigen, die unter den neuen Bedingungen erfolgreich sind bzw. genug Lebenszeit vor sich haben, für die sie sich materiellen Erfolg erhoffen. Wäre dies der Fall, so gibt es wenig Grund für die Annahme, dass sich die Institutionen des Marktes und der Demokratie durch überzeugende Leistungen ein hinreichend robustes Vertrauen erworben haben, mit dem ihre Stabilität steht und eventuell auch fällt. Die zitierten Ergebnisse lassen zumindest vermuten, dass die zentral- und osteuropäischen Wohlfahrtsstaaten noch einen weiten Weg zurücklegen müssen, bevor sie das Leistungsniveau und damit die Überzeugungskraft ihrer Varianten im kontinentalen Westeuropa erreichen, ganz zu schweigen von denen in Skandinavien. Die Konsolidierung ihrer Demokratien und ihre belastbare Integration in das institutionelle Gefüge der EU wird diesen Ländern wohl erst mit der Überwindung ihrer verbliebenen sozialstaatlichen Defizite gelingen.

Die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und die Dynamik der erweiterten Europäischen Union

Nicholas Barr10 hat das strategische Dilemma, das der europäischen Politik von Beitritt und Erweiterung zugrunde liegt, elegant zusammengefasst. Ihm zufolge drückt sich dieses Dilemma in zwei Fragen aus. Die erste lautet: “Waren die Beitrittsmodalitäten [wie sie von den EU-15 Eliten mit den Beitrittskandidaten ausgehandelt wurden] restriktiv genug, um von den Regierungen der alten Mitgliedsstaaten ihren Wählern gegenüber vertreten werden zu können?” Aus dieser Sicht dürfen die Modalitäten nicht “zu großzügig” sein, weil allzu großes Entgegenkommen gegenüber den östlichen Nachbarn bei den Wählern nicht gut ankommt. Umgekehrt muss aber auch gefragt werden: “Waren die ausgehandelten Beitrittsmodalitäten großzügig genug, um von den Politikern der neuen Mitgliedsstaaten ihren Wählern gegenüber vertreten werden zu können?” (meine Hervorhebung, CO). Zwischen diesen beiden Bedingungen war ein Gleichgewicht zu finden. Jedoch war (und bleibt unter den aktuellen Turbulenzen) unklar, ob es so einen Gleichgewichtspunkt beiderseits zufriedenstellender Konzessionen überhaupt gibt. Zudem bestand eine klare Asymmetrie zwischen den vorherrschenden Motivationen auf beiden Seiten der Osterweiterung. Aus Sicht der neuen Mitgliedsstaaten betrachtet, fordert ihnen ihr EU-Beitritt politische Opfer ab; denn auf dem Hintergrund der wachen Erinnerung ihrer Zwangsintegration in das supranationale System von Warschauer Pakt und Comecon bringen sie eine verständliche Empfindlichkeit mit, wenn es um die Verteidigung ihrer nationalstaatlichen Souveränität gegen eine Bevormundung durch “Brüssel” geht.11 Unter anderem erfordert der Beitritt die Einhaltung der Maastrichter Konvergenzkriterien sowie die Übernahme des acquis communautaire mit seinen 85 000 Seiten europäischer Rechtsnormen, bei deren Entstehung die neuen Mitgliedsstaaten weitgehend ohne Einfluss waren. Dieses Opfer ist in den neuen Mitgliedsstaaten politisch nur dann zu vertreten, wenn es in der Wahrnehmung der heimischen Wähler durch handfeste wirtschaftliche Vorteile, die einem neuen Mitgliedsstaat durch den Beitritt erwachsen, mehr als aufgewogen wird. Die Sicht der alten EU-15 Mitgliedsstaaten ist genau spiegelbildlich: Sie antizipieren gravierende wirtschaftliche Opfer, die auf viele der alten Mitgliedsstaaten im Zuge der Osterweiterung zukommen, so den Abfluss von EU-Mitteln nach Osten, die Verlagerung von ausländischen Direktinvestitionen in nahe gelegene “Niedriglohnländer” und die ungesteuerte Zuwanderung von Arbeitsmigranten. Diese wahrgenommenen (und gern dramatisierten) kurz- bis mittelfristigen Negativ-Effekte der Osterweiterung sind aus der Sicht der alten Mitgliedsstaaten allenfalls durch verbesserte Aussichten auf politische Stabilität der neuen kapitalistischen Demokratien Mittel- und Osteuropas zu kompensieren.12 Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts sind auf beiden Seiten, auf denen diese Kompensationsrechnungen angestellt werden, Anzeichen von Nervosität und Unsicherheit zu beobachten.

Was die Balance aus Sicht der neuen Mitgliedsstaaten angeht, so sind wohl der Wohlstand und die soziale Sicherheit, die die neuen kapitalistischen Volkswirtschaften (im Verbund mit ihren neuen Wohlfahrtsstaaten und der supranationalen Integration in die EU) bisher bieten, zu dürftig und zu ungleich verteilt, um die Einbuße an nationaler Autonomie verschmerzen zu lassen. Es ist daher – auch angesichts der Schwäche liberaler Traditionen in der politischen Kultur dieser Länder – nicht überraschend, dass das so wahrgenommene Ungleichgewicht in nahezu allen neuen Mitgliedsstaaten erhebliche politische Chancen für ethnisch-nationalistische, populistische und antieuropäische Kräfte eröffnet hat.13 Solche Enttäuschungsreaktionen werden womöglich vor dem Hintergrund der Finanzmarktkrise noch weiter um sich greifen. Obwohl diese Krise die neuen Mitgliedsstaaten ungleich härter trifft als die meisten der alten Mitgliedsstaaten, ist bei diesen kaum die Bereitschaft oder die Fähigkeit14 zu beobachten, durch ein wirklich EU-weites effektives Krisenmanagement die Volkswirtschaften der neuen Mitgliedsstaaten vor den Auswirkungen der Krise zu bewahren. Diese Volkswirtschaften sind weitgehend abhängige Ökonomien, vor allem, was den Bankensektor und die Industrieproduktion angeht. Ein Beispiel für diese Abhängigkeit ist die von der ungarischen Regierung behauptete Tatsache, dass nicht weniger als 40 % des ungarischen Bruttoinlandprodukts von deutschen Unternehmen in Ungarn erwirtschaftet werden.15 Solche Zahlen weisen auf die Verletzbarkeit hin, der die ungarische Ökonomie durch die deutsche Rezession ausgesetzt ist. Auch für den Finanzsektor gilt wohl: Wenn die einen sich erkälten, holen die anderen sich eine Lungenentzündung. Vor diesem Hintergrund werden Zweifel der neuen Mitgliedsstaaten verständlich, die auf die Frage hinauslaufen: Waren die (bisher erkennbaren) wirtschaftlichen Vorteile des Beitritts wirklich die mit ihm verbundenen Einbußen an politischer Autonomie “wert”?

Spiegelbildlich die Sicht der alten Mitgliedsstaaten: Von ihnen wird zunehmend bezweifelt, ob die Logik der Osterweiterung, also die Öffnung der Kapital-, Güter- und Arbeitsmärkte sowie der Transfer von EU-Mitteln in die neuen Mitgliedsstaaten tatsächlich den angestrebten Ertrag politischer Stabilität und europaweiter Kooperation erbringen wird. Diese Zweifel werden bestätigt und bestärkt von Symptomen anti-liberaler, ethnozentrischer und auch anti-europäischen Reaktionen, die in vielen der neuen Mitgliedsstaaten zu beobachten sind. Mungiu-Pippidi16 führt dafür folgende Indikatoren auf: den Aufstieg populistischer Gruppierungen, politische Radikalisierung, schwache Mehrheiten, Spaltungstendenzen innerhalb instabiler Parteien und Regierungskoalitionen, Verletzungen demokratischer Standards. Mit Ausnahme von Slowenien sind sogar die wirtschaftlich erfolgreichsten Länder der Region – die Tschechische Republik, Polen und Ungarn – hinsichtlich der Qualität ihrer demokratischen Entwicklung zwischen 2000 und 2007 zurückgefallen. Intern instabile und extern (im Hinblick auf die EU und ihre Integrationsagenda) unkooperative politische Eliten lassen auch in den alten Mitgliedsstaaten die Frage aufkommen: Waren die bisher sichtbaren politischen Ergebnisse der Osterweiterung wirklich den dafür aufgewandten wirtschaftlichen Preis “wert”? Es überrascht nicht, dass diese Zweifel zu einer Zeit wachsen, in der nicht nur die Folgen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise um sich greifen, sondern in der vor allem die Osterweiterung selbst eine vollendete Tatsache ist und damit die Möglichkeit einer “konditionalistischen” Einflussnahme der alten auf die neuen Mitgliedsstaaten größtenteils eine Sache der Vergangenheit ist. “Am Tage nach dem Beitritt … lässt der Einfluss der EU nach wie der einer Kurzzeitnarkose”.17

Die Vermutung liegt nicht fern, dass die den Beitrittkandidaten von “Brüssel”, also den alten Mitgliedsstaaten, auferlegten Bedingungen genau deshalb so einschneidend waren, weil absehbar war, wie bald sich das Zeitfenster wirksamer Konditionalität schließen würde. Nicholas Barr18 hat eine Frage aufgeworfen, die von zukünftigen Historikern zu beantworten sein wird: Haben die Beitrittsmodalitäten (zum Beispiel der acquis zusammen mit den Konvergenzkriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes), wie sie von den alten Mitgliedsstaaten definiert wurden, den wirtschaftlichen und politischen Wandel in den postsozialistischen Ländern Zentral- und Osteuropas wirklich gefördert? Barr weist vorsichtig auf die Möglichkeit hin, dass der vom acquis geforderte “umfangreiche Arbeitnehmerschutz” in Kombination mit makroökonomischer Konditionalität (z.B. strenge Budgetrestriktionen infolge der Konvergenzkriterien) “die Übergangskosten unnötig erhöht hat”19 und verhindert haben könnte, dass die neuen Mitgliedsstaaten ihre “hohen, mit dem Übergang verbundenen Sozialausgaben, zum Beispiel Arbeitslosenhilfe und Armutsbekämpfung”,20 aufrechterhalten konnten. Die Zwänge des Beitrittsregimes haben es womöglich erschwert, das beachtliche Wirtschaftswachstum in ebenso beachtliche Fortschritte bei der sozialen Sicherheit umzumünzen. Es wird sich zeigen, wie die verbliebenen Mängel der sozialen Sicherung und der Armutsbekämpfung die politische Stabilität in der Region beeinflussen, wenn sich einmal die Elitenstrategie des “Divide and Pacify”21 als nicht mehr gangbar erweisen sollte.

Ich habe hier in gewiss etwas spekulativer Weise kausale Zusammenhänge zwischen vier Makrovariablen angesprochen: 1. die Beitrittsbedingungen, 2. deren Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung der alten wie der neuen Mitgliedsstaaten, 3. die Konsequenzen für die wohlfahrtsstaatlichen Leistungssysteme und 4. politische Stabilität (Rechtsstaatlichkeit sowie demokratische Konsolidierung). Zum ersten Punkt ist zu konstatieren, dass die Beitrittsbedingungen die Wirtschaftsleistung in der Region in einer Weise beeinflusst haben, die nach Zeithorizonten (kurz- vs. langfristig) und nach geographischer Lage (unmittelbare bzw. entferntere Nachbarschaft) zu differenzieren ist. Jedenfalls bleibt das Wohlstandsniveau der neuen Mitgliedsstaaten nicht nur gegenwärtig, sondern auf absehbare Zeit hinter dem der alten Mitgliedsstaaten zurück. Im Jahr 2010 werden voraussichtlich nur Tschechien und Slowenien Pro-Kopf-Einkommen von über 50 % des EU-15 Durchschnitts erreichen. Sogar dann, wenn sich die ausgesprochen optimistische Annahme bestätigen sollte, dass die neuen Mitgliedsstaaten ein durchschnittliches Wachstum von 3,5 % erreichen und die alten sich mit 1,5 % begnügen müssen, würden erst im Jahr 2030 die beiden wirtschaftlich stärksten Länder (Tschechien und Slowenien) etwas besser abschneiden als der EU-Durchschnitt.22 Das Wirtschaftswachstum der Beitrittsländer kann von ihrer EU-Mitgliedschaft in verschiedener Weise beeinflusst werden. Natürlich ist die Öffnung westlicher Märkte für Industrie- und Agrarprodukte der neuen Mitglieder entscheidend. Das gilt auch für ausländische Direktinvestitionen, deren Volumen wiederum von politischer Stabilität abhängt. Allerdings können auch einige Faktoren im Beitrittsprozess Wachstumsaussichten mindern, so die regulativen Auflagen des acquis, die durch das Lohngefälle induzierte Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte, die ökonomische Abhängigkeit von den westlichen Volkswirtschaften und die fiskalischen Konvergenzkriterien.

Zweitens ist die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates mit dem Pro-Kopf-Einkommen durch die Faustregel verknüpft, dass der Anteil der Sozialausgaben mit der absoluten Höhe des Bruttosozialproduktes zunimmt. Diese Gleichung wird jedoch deutliche Veränderungen erfahren, da die Volkswirtschaften der neuen Mitgliedsstaaten um Investitionen kämpfen müssen, indem sie ihren komparativen Vorteil bei den Lohn- und Lohnnebenkosten (Sozialbeiträgen) zu erhalten suchen. Der andere große Wettbewerbsparameter zwischen alten und neuen Mitgliedsstaaten ist das Niveau der direkten und indirekten Besteuerung. Einige der neuen Mitgliedsstaaten haben in diesen Bereichen sehr niedrige Einheitssteuersätze eingeführt (z.B. nur 10 % in Bulgarien), was die Steuereinnahmen und somit auch die Sozialleistungen gravierend begrenzt. Drittens gibt es wohl einen kausalen Zusammenhang nicht nur zwischen Wirtschaftswachstum und Niveau der Sozialleistungen, sondern auch zwischen diesen beiden Größen und politischer Stabilität und demokratischer Konsolidierung. Art und Richtung dieser Zusammenhänge ist von großer analytischer und politischer Bedeutung, wobei jedoch noch eine Reihe von weiteren Faktoren (die Akteure des Parteiensystems, die Muster der politischen Kultur, die Struktur der Interessenvertretung) eine Rolle spielen.

Der letzte der oben angesprochenen Zusammenhänge, jener zwischen sozialpolitischem Leistungsniveaus einerseits und politischer Stabilität und gesellschaftlicher “Kohäsion” andererseits, ist für alle Beteiligten und Beobachter der Entwicklung in der Region von besonders großem Interesse. Aktuelle Forschungen legen nahe, dass die Stabilität der demokratischen Regimeform von guten Leistungen des Wohlfahrtsstaates abhängig ist. So stellt etwa Carles Boix23 das Argument zur Debatte, wonach die Austragung von Interessenkonflikten nur dann zuverlässig im Rahmen demokratischer Prozeduren stattfinden wird, wenn die Verlierer eines Konflikts bzw. die durch eine kollektiv bindende Entscheidung Benachteiligten Grund zu der Erwartung haben, dass sie bei der nächsten Wahl oder der nächsten Verhandlungsrunde besser abschneiden werden. Die Zuversicht auf die Ergebnisse der “nächsten Runde” wird dadurch bestärkt, dass sich die politischen und organisatorischen Ressourcen von Mehrheit und Minderheit angleichen; wenn man dagegen Grund hat, sich selbst als “Dauer-Verlierer” zu betrachten, lässt die Bindung an die Regeln und Prozeduren des demokratischen politischen Prozesses nach. Eine gewisse Egalisierung der Lebenschancen begünstigt dagegen auf allen Seiten die Bereitschaft, das bestehende demokratische Regime oder auch die supranationale Rolle der EU zu akzeptieren. Dieses Argument wird durch den Befund bestätigt, dass Länder mit einem Gini-Index24 von mehr als 0,5 (also solche mit einer sehr ungleichen Einkommensverteilung) mit einer Wahrscheinlichkeit von 6,6 % pro Jahr den Zusammenbruch ihrer Demokratie erleben, während in Ländern mit einem niedrigeren Gini-Index die Wahrscheinlichkeit eines solchen Zusammenbruchs im Zeitraum zwischen 1950 und 1990 bei 0 % lag.25 Ähnlich hängt auch die Stabilität der europäischen Institutionen von einer gewissen sozialökonomischen Homogenität der Mitgliedsstaaten ab. Seit der zweiten Erweiterungsrunde von 2007 liegt jedoch der Gini-Index der EU-27 bei 0,399, schlechter als in den USA (0,394), und genau ein Drittel der Gesamtbevölkerung der EU-27 lebt von weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens der sechs Gründungsländer der europäischen Integration. Solche Ergebnisse legen die Folgerung nahe: Solange Einkommen und soziale Sicherung nicht in den Mitgliedsstaaten selbst wie im gesamten Wirtschaftsraum der EU-27 zu einer gewissen Konvergenz gebracht werden können, werden liberale Demokratien innerhalb der neuen Mitgliedsstaaten und deren stabile Integration in die EU gefährdet sein.

All diese empirischen Muster, analytischen Kategorien und theoretischen Erklärungen sind jedoch einem Wandel ausgesetzt, der sie womöglich hinfällig werden lässt. Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise, von der die neuen Mitgliedsstaaten weit härter getroffen werden als die alten, hat zur Folge, dass die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in der Region nicht mehr ohne weiteres mit den Annahmen und Konzepten verstanden, prognostiziert oder gar beeinflusst werden können, die aus der Zeit vor der Krise stammen.

Dieser Artikel beruht auf einem Beitrag aus dem Band Post-Communist Welfare Pathways: Theorizing Social Policy. Transformations in Central and Eastern Europe, hg. von Alfio Cerami und Pieter Vanhuysse, New York 2009.

Vgl. dazu jetzt A. Cerami / P. Vanhuysse (Hg.), Post-Communist Welfare Pathways. Theorizing Social Policy Transformations in Central and Eastern Europe, London 2009.

Stephan Haggard / Robert R. Kaufman, Development, Democracy, and Welfare States, Princeton UP, 2008, S. 308.

Ebd., S. 344.

Vgl. Frank Schimmelfennig / Ulrich Sedelmeier (Hg.), The Europeanzation of Central and Eastern Europe, Cornell UP, 2005.

Vgl. Pieter Vanhuysse, Divide and Pacify. Strategic Social Policies and Political Protest in Post-Communist Democracies, Budapest 2006.

Vgl. Claus Offe, "The Politics of Social Policy in East European Transitions: Antecedents, Agents, and Agenda of Reform", in: Social Research 60, Nr. 4 (1993), S. 649-684.

Auch heute noch sind spezifisch bürgerrechtliche sozialpolitische Ideen wie das bedingungslose Grundeinkommen in der Region nahezu unbekannt.

A. Alesina / N. Fuchs-Schündeln, "Good-Bye Lenin (or not?): The Effect of Communism on People¹s Preferences", in: American Economic Review 97, Nr. 4 (2007), S. 1507-28.

W. Merkel / H. Giebler, "Measuring Social Justice and Sustainable Governance in the OECD", in: Bertelsmann-Stiftung (Hg.) Sustainable Governance Indicators 2009, Gütersloh 2009, S. 187-215.

Vgl. Nicholas Barr (Hg.), Labour Markets and Social Policy in Central and Eastern Europe. The Accession Beyond, Washington DC, World Bank, 2005, S. 16.

Vgl. F. Schimmelfennig / U. Sedelmeier (Hg.), "Governance by Conditionality: EU rule transfer to the candidate countries of Central and Eastern Europe", in: Journal of European Public Policy 11 (2004), S. 661-79.

Vgl. S. Fuchs / C. Offe, "Welfare State Formation in the Enlarged European Union. Patterns of Reform in the Post-Communist New Member States", in: C. Rumford (Hg.), The SAGE Handbook of European Studies, London 2009, S. 424-441.

A. Mungiu-Pippidi, "Is East Central Europe Backsliding? EU Accession is no End of History", in: Journal of Democracy 18 (2007), S. 8-16.

"There is no joint fiscal policy, no joint tax policy on which industries to subsidize or not", schreibt die New York Times (2. März 2009) in einem Artikel mit dem Titel "Growing Economic Crisis Threatens the Idea of One Europe".

Vgl. H. W. Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?, München 2003, S. 65-66.

Vgl. Mungiu-Pippidi, a.a.O., S. 7.

Ebd., S. 16.

Vgl. Barr, Labour Markets and Social Policy in Central and Eastern Europe, a.a.O.

Ebd., S. 20.

Ebd., S. 17.

Vgl. Vanhuysse, Divide and Pacify, a.a.O.

Daten zitiert nach Fuchs / Offe, "Welfare State Formation in the Enlarged European Union", a.a.O., S. 424-441, Tabelle 2.

Vgl. C. Boix, "The Institutional Accomodation of an Enlarged Europe", in: Europäische Politik 06/2004. Bonn, Friedrich-Ebert Stiftung. http://library.fes.de/pdf-files/id/02103.pdf

Der Gini-Index dient als statistisches Maß für Ungleichverteilungen z.B. von Einkommen oder Vermögen. Der Wert kann Größen zwischen 0 und 1 annehmen; je näher er an 1 ist, desto größer ist die Ungleichheit.

Boix, a.a.O., S. 22.

Published 28 January 2010
Original in English
Translated by Johannes Terwitte
First published by Transit 38 (2009)

Contributed by Transit © Claus Offe / Transit / Eurozine

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