Noch immer nicht frei

Warum Eigendiagnose für die Geschichtsschreibung nach 89 nicht ausreicht

Einige werden sich an die auf die Samtene Revolution folgenden Hoffnungen des Westens erinnern, Zentraleuropa würde die westliche politische Welt um unverbrauchte neue Ideen und Werte bereichern und nötige Einsichten liefern. Vielleicht würden ja die Zentraleuropäer die Vision eines “dritten Weges” zwischen Kapitalismus und Sozialismus entwickeln. Diese Hoffnungen beruhten auf der Annahme, dass uns die zentraleuropäischen Erfahrungen mit dem Leid unter dem Kommunismus zu besseren Menschen gemacht hätten, mehr nachfragend, sensibler und intellektueller. Heute erscheint diese Hoffnung pathetisch, und es hat sich herausgestellt, dass die westlichen Auffassungen von Zentraleuropa in der Tat naiv waren. Postkommunistische Gesellschaften besaßen nie die Zuversicht, der westlichen Welt etwas Bedeutendes zu sagen zu haben. Ihr Auftrag war, sich so schnell wie möglich den Siegern des großen ideologischen Konflikts anzupassen. Sie erhielten fest umrissene Richtlinien für die Bildung von Demokratie und Marktwirtschaft: Die Kopenhagener Kriterien und der Konsens von Washington waren die Lehrbücher unserer politischen Eliten.

So vieles war zu tun, dass für Reflexion keine Zeit blieb – das Einzige, das unter dem kommunistischen Regime reichlich vorhanden war. Ich erinnere mich daran, beunruhigt gewesen zu sein, dass die dichte Sprache von Autoren, deren Intensität ich im Samisdat gern mochte, bei ihrer eiligen Lektüre in den Zeitungen verwässerte. Aber vielleicht war es auch deshalb nicht möglich, den Prozess, dessen Teil wir damals waren, zu reflektieren, weil unsere Denkmuster dazu noch nicht bereit waren. Nachträglich sehen wir, dass die Revolution von 1989 inmitten dramatischer globaler Veränderungen stattfand, deren wichtigster Katalysator nicht der Untergang des Kommunismus war. Die Globalisierung war auf dem Vormarsch, und der Zusammenbruch des Kommunismus leistete einen Beitrag an der Siegeseuphorie des Laissez-faire-Kapitalismus. Der Sieg als solcher wurde in erster Linie in wirtschaftlicher Hinsicht wahrgenommen. Dennoch hat der Westen mit dem Untergang des Kommunismus plötzlich seinen “östlichen” Spiegel verloren, durch den er gezwungen war, sich um ein besseres Aussehen und Benehmen zu bemühen. Das untergrub in den westlichen Nachkriegsgesellschaften den Verantwortungssinn für die moralische Verfasstheit der Welt. Vielleicht ahnten wir das alles, aber wir hatten keine Zeit, uns damit auseinanderzusetzen. Für uns ist der Westen immer schon eine Konstante gewesen – schließlich war er uns aus unseren Träumen wohl vertraut.

Im Verlauf der Neunzigerjahre taten wir also unser Bestes, den Kapitalismus aufzubauen und begriffen nicht, dass er zunehmend seines Sinns für Fairness und Verantwortung beraubt wurde. Wir dachten, dass das, was wir sahen, dem Normalzustand entsprach und nie anders gewesen war. Daher tolerierten wir die Übervorteilungen, die als Privatisierung durchgingen, in der Annahme, sie seien integraler Bestandteil des westlichen Kapitalismus. Noch heute, da viele im Westen glauben, dass “die unsichtbare Hand” zu einem deformierten Stumpf verkümmert ist, weigern wir uns anzuerkennen, dass unsere Vorstellung von Kapitalismus falsch war und wir lediglich eine spezifische Version davon mitgemacht hatten – eine, die heute auf dem letzten Loch pfeift.

All das betrifft uns mehr, als wir uns eingestehen wollen. Die gegenwärtige globale Krise handelt nicht mehr ausschließlich davon, wie viele Milliarden in die Wirtschaft gepumpt werden sollen, damit wir weiterhin Besitz akkumulieren können. Sie handelt verstärkt von den gesellschaftlichen Prozessen, die wesentlich größere Auswirkungen auf die Welt haben werden als der Fall des Kommunismus. Meiner Meinung nach sind sehr wenige Menschen in der postkommunistischen Welt bereit das zuzugeben. Wie mir scheint, unterscheiden wir uns vom Westen nach wie vor durch ein verzögertes und widerwilliges Reflektieren unserer eigenen Blindheit. Das gilt gleichermaßen für unsere Sicht auf die letzten 20 Jahre, in denen wir den Kapitalismus aufgebaut haben, wie auch für jene auf den Kommunismus.

Vielleicht steckt hinter diesem Widerwillen eine gewisse Logik: Wir wollen auf unseren Platz an der Tabellenspitze der großen historischen Ereignisse des letzten halben Jahrhunderts einfach nicht verzichten. 1989 war der größte Moment in der europäischen Geschichte – so neulich der britische Historiker Timothy Garton Ash bei einer Podiumsdiskussion in Wien. “Oder können Sie ein anderes Datum vorschlagen?”, lautete seine Nachfrage, als er einige hochgezogene Augenbrauen im Publikum bemerkte. Garton Ash hat Recht: Wie oft auch immer man die europäische Geschichte durchstöbert – ein geeigneteres Datum lässt sich nicht finden.

Allerdings ist das 20 Jahre her, und den Lauf der Geschichte können wir nicht anhalten, nur weil wir es so wollen. Wir sollten vielmehr froh darüber sein, dass uns die Geschichte als eine Art Vorbereitung auf schlechtere Zeiten 20 Jahre gewährte. Dass etwa die Nato vor zehn Jahren erweitert wurde, zu einer Zeit, als Russland zu schwach war, das aufzuhalten, war unser Glück. Ebenso, dass die EU-Erweiterung in eine Zeit wirtschaftlicher Euphorie fiel. Hätte uns die Krise im Jahr 2000 erreicht, würden wir vielleicht immer noch an die Tore Brüssels klopfen, weil der Westen mit seinen eigenen Problemen beschäftigt wäre.

Zentraleuropa hat nie zuvor jenen Grad politischer Freiheit erlebt, den es heute genießt. Wenn die Welt und Europa nicht in Chaos übergehen – und die Gefahr ist heute realer, als wir uns einzugestehen bereit sind ­, dann werden wir in ein paar Jahrzehnten sagen können, dass der Erfolg der zentraleuropäischen Nationen überwältigend gewesen ist.

Dennoch war die Leistung bislang, wenn auch überwältigend, ihrem Wesen nach mehr oder minder konformistisch. Natürlich gab es lebhafte und mitunter emotionale Auseinandersetzungen über die angemessene Handlungsweise – die Bedingungen dieser Debatte wurden aber immer durch den Westen und seine Werte festgelegt. Die Auseinandersetzungen wurden pragmatisch geführt, geleitet von der Absicht, auf schnellstem Weg Konvergenz mit dem Westen zu erlangen, auf rascheste und effizienteste Weise unsere Zukunft zu erreichen und die Vergangenheit hinter uns zu lassen.

Und wenn wiederum der Westen in den ersten Monaten nach der Revolution wirklich eine Art intellektueller Bereicherung erwartete, die von Zentraleuropa ausgehen sollte, so lag das an unserer besonderen Totalitarismuserfahrung und hatte mit der Würdigung des Werts der Freiheit zu tun. Schnell war klar, dass Zentraleuropa insgesamt es nicht schaffte, diese entscheidende Erkenntnis weiterzutragen und zu artikulieren. Stattdessen hatte es bloß einige seiner herausragenden Individuen anzubieten, Václav Havel etwa oder Bronislaw Geremek.

Folglich schulden wir es dem Westen und uns selbst weiterhin, diese besondere Erfahrung genau aufzuarbeiten, zu verstehen und deutlich zu machen. Das kommt einem Paradox gleich, da wir mit Informationen über die Vergangenheit beinahe überschwemmt werden. Wir wissen fast alles über den bösen Kern des Regimes. Viel wurde über seine Opfer geschrieben und deren Geschichten sind dokumentiert. Trotzdem sind wir nicht in der Lage, ein Einverständnis darüber herzustellen, was unsere Vergangenheit ist. Wir sind uns nicht einig, ob wir das Regime totalitär oder diktatorisch nennen sollen. Es herrscht kein Konsens darüber, wie mit den Dokumenten zu verfahren ist, die uns das Regime hinterlassen hat – ob wir an sie als genuines Beweismaterial herangehen oder sie als Bestandteile einer einzigen großen Lüge, die das ganze System in Gang hielt, meiden sollen. Wenn man Peter Esterhazys Verbesserte Ausgabe liest, die eine erschreckende Reihe von Denunziationen schildert, mit denen sein geliebter aristokratischer Vater über 30 Jahre die Staatssicherheit versorgte, versteht und billigt man die kathartische Funktion der Publikation solcher Dokumente. Auf der anderen Seite sind auch die leidenschaftlichen Argumente eines Adam Michnik leicht nachzuvollziehen, uns nicht auf Gedeih und Verderb den Unterlagen der Staatssicherheit auszuliefern.

Die Auseinandersetzungen der letzten 20 Jahre deuten, so scheint mir, auf eines hin: dass wir noch immer nicht frei sind. Wir alle, die zumindest einen Teil unseres Erwachsenenalters unter dem Kommunismus gelebt haben, sind in einem Ausmaß von der Vergangenheit gezeichnet, dass wir vielleicht nie in der Lage sein werden, in der Sprache einer normalen freien Welt darüber zu reden. Möglicherweise können wir den Mutigen vom Feigen unterscheiden und die Opfer von den Tätern, nicht aber zwischen jenen, die frei sind, und solchen, die es nicht sind. Die Kategorie eines freien Menschen gab es unter dem kommunistischen Regime schlicht nicht. Missachtung, Widerstand oder Versuche, ein paralleles Leben außerhalb des Systems zu führen, sind vielleicht Zeichen von Sehnsucht nach Freiheit, für die Freiheit selbst stehen sie nicht. Wir können und wir sollen daher Zeugnis ablegen, und viele verdienen Bewunderung und Respekt für ihren Mut. Doch das gibt uns nicht das Recht zu behaupten, dass wir diesen Teil der Geschichte auf eine freie und unvoreingenommene Weise interpretieren können. Wir alle gleichen Patienten, die ihre eigene Diagnose stellen und sich selbst die Behandlung verschreiben.

Der Geschichtsstreit der letzten 20 Jahre war tatsächlich eher ein Kampf um Legitimität auf Seiten jener, die Geschichte interpretieren sollen. Stalins ehemalige Gefangene, die Dissidenten aus der Phase nach dem sowjetischen Einmarsch, die Pragmatiker aus der so genannten “grauen Zone”, Kommunisten, selbst Mitglieder der Staatssicherheit und ihre Agenten haben um diese Legitimität gerungen. Zweifellos gibt es eine Art sozialen Konsens, demzufolge das Recht auf Auslegung der Geschichte vielmehr den Opfern als den Tätern zukommt. Dieses Recht wird als Gegenleistung und Zeichen eines gewissen Respekts für die turbulenten Lebenswege all jener verstanden, die ich als “die Generation meines Vaters” bezeichnen möchte. In ihrer Jugend waren sie glühende Kommunisten, in den 1960ern leidenschaftliche Reformer und in den 1970ern und 1980ern mutige Dissidenten. Ihre Leben bilden das Rückgrat der tschechischen Geschichte, deren Mitwirkende, Schöpfer und scharfe Kritiker sie waren, und zwar zur selben Zeit. Wer sonst verfügte über eine solch intime Kenntnis des Kommunismus in all seinen Erscheinungsformen? Wer sonst sollte damals das Recht haben, dessen Herrschaft zu deuten? Diese Generation schuf ein herausragendes gemeinsames Werk – brillante Analysen und Romane von Weltrang – als Teil einer selbstreflexiven Praxis, die wahrscheinlich in der tschechischen Geschichte kein Beispiel hat. Aber der Haken ist: Das Werk dieser Generation ist so monumental, dass es selbst zum Monument gerät. Und die Funktion von Monumenten ist, wie wir wissen, uns eine stilisierte, im schlimmsten Fall eine mythologisierte Version von Geschichte zu bieten und nicht ihre unvoreingenommene Auslegung.

In letzter Zeit wurden in Zentraleuropa, vor allem im Kontext der Debatten um Einrichtungen, die in vielen Ländern zur Erforschung der jüngeren Vergangenheit gebildet wurden, Bedenken darüber geäußert, dass die jungen Historiker, die in diesen Institutionen arbeiten, keinerlei persönliche Erfahrung mit dem früheren Regime hätten und deshalb die existenziellen Probleme und vielschichtigen Kompromisse nicht verstünden, die das Regime beinahe jedem aufzwang, der unter ihm lebte. Bedenken auch, dass die künftigen Historikergenerationen die Vergangenheit vom Standpunkt der Gegenwart aus betrachten werden, mit den Augen jener, die nichts als Demokratie kennen. Sie werden, so die Überlegung, über die Vergangenheit in der Sprache der Freiheit schreiben, die kein Erbarmen kennt und die Nuancen der kommunistischen Metasprache nicht versteht. Kurzum, jeder, der einmal irgendwelche Beziehungen zum Regime hatte, wird auf gleiche Weise behandelt werden.

Diese Bedenken teile ich nicht. Meiner Meinung nach kann die Vergangenheit nur aus dem kompromisslosen Blickwinkel demokratischer Freiheitsideale genau interpretiert werden. Und die Einzigen, die die Mittel haben, das zu tun, und zwar legitimerweise, weil sie nicht in direktem Zusammenhang mit der Vergangenheit stehen, kommen aus der jüngeren Generation. Auch wenn es bedeutet, dass junge Historiker zu Beginn vielleicht ungerecht sind und ihre Arbeit von politischen Agenden bestimmt wird, wie es heute in Polen der Fall zu sein scheint. Der Wunsch nach Kontrolle über die Auslegung der Geschichte ist verständlich, aber sinnlos. Aus biologischer Perspektive ist er zudem naiv. In 20 Jahren werden die Historiker der heute jüngeren Generation unsere Erlaubnis, die Geschichte nach ihrer Wahl zu interpretieren, nicht benötigen.

Natürlich kennt auch der Westen die zögerliche Haltung gegenüber dem Risiko, dass Geschichte in einem anderen Licht erscheinen könnte als dem gewollten. Die Franzosen benötigten ein halbes Jahrhundert, bis sie beginnen konnten, über das Vichy-Regime zu reden, und auch die Schweden erinnern sich erst seit kurzem daran, dass es bis weit in die Siebzigerjahre eine offizielle Sterilisationspraxis für Menschen gab, die nicht in die Gesellschaft passten. Dennoch bin ich, was eine Diskussion allfälliger Werte betrifft, die Zentraleuropa dem Westen anzubieten hat, überzeugt, dass wir zuerst den Mut finden müssen, auf das Offensichtliche zu schauen. Und offensichtlich haben wir die letzten 20 Jahre nicht dazu genützt, diesen Mut zu finden.

Published 27 August 2009
Original in English
Translated by Andrea Zederbauer
First published by Wespennest 156 (2009) (German version)

Contributed by Wespennest © Martin M. Simecka / Wespennest / Eurozine

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