"New Towns" an den Fronten des Kalten Krieges

Wie die moderne Stadtplanung exportiert und im Kampf um die Dritte Welt instrumentalisiert wurde

In den fünfziger und sechziger Jahren schossen überall auf der Welt neue Städte aus dem Boden und es überrascht, wie gleichförmig damals dem globalen Bevölkerungswachstum Rechnung getragen wurde. Die Villes Nouvelles an der Peripherie von Paris, die nahe London errichteten New Towns, die neuen Stadtteile von Stockholm oder Ansiedlungen wie Hoogvliet in den Niederlanden: All diese Städte zehren zum einen von den Ideen der Gartenstadt-Bewegung und beruhen zum anderen auf der hierarchischen Funktionstrennung und Zonierung, die der modernen Stadtplanung entlehnt sind.

Die ersten New Towns wurden in den vierziger Jahren im Londoner Großraum aus dem Boden gestampft und avancierten binnen kürzester Zeit zur Patentlösung für das städtische Wachstum in Westeuropa. Es dauerte nicht lange, bis das gleiche Muster moderner Stadtplanung auch in den Entwicklungsländern in Afrika, im Nahen Osten und in Asien seinen Siegeszug antrat, mochten die Orte in kultureller wie politischer Hinsicht noch so verschieden sein.

Der Export dieser New-Town-Prinzipien kann nur vor dem Hintergrund des Kalten Krieges verstanden werden, als der Ostblock und die Länder des Westens um die Loyalität der Dritten Welt wetteiferten. Während die Bemühungen der Sowjetunion diesbezüglich noch weitestgehend unerforscht sind, steht hingegen fest, dass die USA einen kontinuierlichen Zustrom von Stadtplanern und Architekten in strategisch wichtige Regionen organisierten. Stadtplanung wurde als ein wirkungsvolles Instrument in der Politik des Kalten Krieges betrachtet und der Export von Architektur und Stadtplanung diente der kulturellen Kolonisierung.

Die Allianz zwischen dem griechischen Stadtplaner Constantinos Doxiadis und der amerikanischen Ford Foundation illustriert diese Hypothese recht anschaulich. Das Duo kombinierte Macht mit Vision und Geld und ihre Verbindung hatte nachhaltige Folgen für die Entwicklungsländer im Nahen Osten und in Afrika. Die Kooperation der beiden zeigt, dass die angeblich neutrale Einführung einer großräumigen Stadtentwicklungsplanung keineswegs neutral, sondern mit der Verheißung von Demokratie, Wohlstand und Emanzipation aufgeladen war: Doxiadis begriff moderne Planungsmodelle als Vehikel zur Durchsetzung von Freiheit, Frieden und Fortschritt. Dafür entwickelte er ein extrem hermetisches System der Planung und technischen Umsetzung, für das er den Begriff “Ökistik” prägte – die Wissenschaft von den menschlichen Siedlungen.[1] Doxiadis verstand seine Lehre als eine rationale und wissenschaftliche Alternative zu den historisch gewachsenen Städten mit ihrer Zusammenballung von Autos und Menschen; das von ihm entwickelte Rasternetz-Stadtmodell sollte für eine Umgebung im menschlichen Maßstab sorgen und unbegrenztes Wachstum ermöglichen.

Wegen seiner politischen Begabung konnte er mit vielen US- und UN-Repräsentanten ein beeindruckendes internationales Netzwerk knüpfen. Dies wiederum ermöglichte ihm, ein Oeuvre zu entwerfen und zu bauen, um das ihn seine Kollegen nur beneiden konnten – wahrscheinlich produzierte er mehr Stadtsubstanz als all seine CIAM-Kollegen zusammen. José Luis Sert gelang es nie, auch nur einen einzigen seiner südamerikanischen Pläne zu verwirklichen, und Le Corbusier musste sich mit der Planung von Chandigarh begnügen. Doxiadis hingegen entwarf und baute an allen Ecken und Enden der Welt neue Städte: in Ghana und Sambia, im Sudan und im Libanon, in Pakistan, im Irak und in den USA.

Wie war es möglich, dass dieses eine Büro so viele große Städte auf der ganzen Welt bauen konnte, während die bedeutendsten Stadtplaner der damaligen Zeit das Nachsehen hatten? Doxiadis konnte sein Imperium nicht nur wegen seines Charismas oder der Qualität seiner Arbeit errichten, sondern vor allem wegen der amerikanischen Unterstützung, die ihm zuteil wurde.

Diese Unterstützung gewährte ihm vornehmlich die Ford Foundation, eine private Stiftung, die Henry Ford persönlich in den dreißiger Jahren ins Leben gerufen hatte. In den Fünfzigern wurde die Stiftung umstrukturiert, um ihre Aktivitäten jenseits der US-Grenzen auszudehnen. Ihre Ziele wurden zu diesem Zeitpunkt unter der Ägide von Paul Hoffman ausgearbeitet, dem früheren Koordinator des Marshallplans. In dieser Funktion machte Hoffman die Bekanntschaft von Doxiadis in Athen, und Doxiadis kratzte damals angeblich sein letztes Geld zusammen, um für Hoffman eine Party mit halbauthentischen griechischen Tänzen zu schmeißen – eine gute Investition, wie sich zeigen sollte.

Hoffman führte die Ford Foundation in einen ehrgeizigen Feldzug für den Weltfrieden, um die Welt zu verbessern, die Ungebildeten zu erziehen und sie an die Werte der demokratischen westlichen Zivilisation heranzuführen. Die Ford Foundation versuchte diese Ziele hauptsächlich durch Investitionen im Bildungssektor zu erreichen, auch durch den Bau von Schulen und durch Modernisierungsprogramme im Agrarsektor. Obwohl die Stadtplanung eindeutig nicht zu ihren Prioritäten zählte, investierte die Stiftung fünf Millionen Dollar in Doxiadis’ Planung und Forschung – die größte Summe, die sie einer privaten Organisation jemals zukommen ließ.

Durch seine Kontakte zur Ford Foundation konnte Doxiadis deren enge Verbindungen zur offiziellen amerikanischen Außenpolitik nutzen. Neben dem Washingtoner Politikestablishment und der amerikanischen Geschäftswelt gehörten renommierte Universitäten wie Harvard und das MIT zu diesem Netzwerk. Letztere standen mit ihrer Arbeit ebenfalls in engem Kontakt zu Ford und leisteten ihren Beitrag hauptsächlich durch Forschung und Beratung, beispielsweise bei der Verteilung der Hilfsgelder. Im Gegenzug subventionierte die Ford Foundation die Forschung dieser Universitäten mit Millionen von Dollar. In diesem ständigen Austausch von Informationen, Interessen und Geldern zwischen Harvard, der Ford Foundation und der US-Regierung gab es einen hundertprozentigen Konsens über die Ziele der amerikanischen Elite, Frieden und Ordnung in der Welt zu schaffen.

Trotzdem erklärt dies nicht, warum gerade die Arbeit von Doxiadis – und nicht die von Sert oder Gropius – so perfekt zu diesem Konsens passen sollte. Welche Qualitäten entdeckte die Ford Foundation in der Ökistik? Was machte sie zu einem nützlichen Instrument ihrer Politik des kulturellen Kalten Krieges?

Vermutlich liegt die Antwort in dem extrem rationalen Charakter des Konzepts und in der Art, wie Doxiadis seine Arbeit als Wissenschaft auswies. Er präsentierte seine Entwürfe in Form von Rasternetzen, Tabellen, Diagrammen und Schemata, durch und durch objektiviert, ohne Anzeichen einer persönlichen oder ästhetisierenden Handschrift. In jener Prä-Computer-Ära gab es nichts, was der Arbeit mit dem Computer ähnlicher gewesen wäre. Doxiadis war ein zuverlässiger Ingenieur, der handfeste Ergebnisse ablieferte. Seine Ökistik war ein visionäres und zugleich wissenschaftliches System, in das man örtliche Daten eingeben konnte und automatisch eine Entwurfslösung erhielt.

Dieser objektive und rationale Ansatz passte nahtlos in die Philosophie der Ford Foundation, die Menschen außerhalb der westlichen Zivilisation zu rationalen, vernünftigen und friedliebenden Völkern zu erziehen. Die Foundation exportierte die fundamentalsten Werte der USA: Freiheit, Antikollektivismus, Misstrauen gegenüber jeder politischen Zentralgewalt und der uneingeschränkte Glaube an Wissenschaft und Technik als Grundvoraussetzung “rationalen Handelns”.[2] Und in puncto Stadtplanung hätte man damals keine rationalere urbanistische Theorie finden können als Doxiadis’ Ökistik.

Natürlich sahen sich die USA hier mit einem moralischen Problem konfrontiert: Welche Mittel sind für eine demokratische Republik politisch und ethisch korrekt, um andere Nationen zu beeinflussen? Hier erwiesen sich die Hilfsprogramme als nützlich, ebenso die komplexen Netzwerke zwischen Regierungsbehörden und NGOs. Damit konnte man auf das Gewaltinstrumentarium eines Imperiums der alten Art verzichten, da sich die Kontrolle nun auch über Mittel und Wege der “Wahlfreiheit” einer freien demokratischen Republik ausüben ließ.

Der Kampf um das Bewusstsein der Menschen

Mitunter wurde das zwiespältige Streben nach Kontrolle durch Kulturoperationen ausgeübt, zum Beispiel über eine Manipulation der westeuropäischen Kunstszene. In einer Publikation von 1999 beschreibt die englische Autorin Frances Saunders, wie der CIA in der traditionell linksgerichteten europäischen Kunstwelt eine potenzielle Gefahr erblickte und befürchtete, deren Protagonisten könnten zur kommunistischen Ideologie überwechseln.[3] Der CIA betrachtete es als unbedingt notwendig, die kulturelle und intellektuelle Elite Europas auf die Seite der “freien Welt” zu ziehen, da diese die Zukunft in den Händen halten würde. Der “Kulturkampf” begann gleich nach Kriegsende inmitten der Trümmer Berlins mit einem regelrechten Feuerwerk aus Konzerten, Lesungen, Vorträgen, Filmvorführungen und Kunstausstellungen, bei dem sich Sowjets und Westalliierte gegenseitig auszustechen versuchten.[4]

Nur wenige Jahre nach Verkündung der Truman-Doktrin und dem Beginn des Marshallplans institutionalisierte der CIA diese kulturelle Manipulation und gründete 1950 den Congress for Cultural Freedom (CCF). Dessen Mission bestand darin, “die westeuropäische Intelligenz von ihrer latenten Neigung zum Marxismus abzubringen und zu einer Sicht der Dinge zu bekehren, die eher der ‘amerikanischen Lebensweise’ entsprach”.[5] Es war ein “Kampf um das Bewusstsein der Menschen”, den der CCF mit Unterstützung einer bunt zusammengewürfelten Truppe von Radikalen und Künstlern führte, die in der Regel von Stalins totalitärer UdSSR enttäuscht waren – darunter so bekannte Namen wie George Orwell und Jean-Paul Sartre. Der CCF startete eine beeindruckende Kulturoffensive: Er publizierte Zeitschriften in aller Herren Länder und in jeder erdenklichen Sprache, überall in Europa und in der Dritten Welt, er organisierte eine Flut von Ausstellungen mit den Werken amerikanischer Maler (häufig in Kooperation mit dem MoMA) sowie unzählige Konzerte und Kongresse.

Der Maler Jackson Pollock wurde vom CCF zum neuen Kulturmaskottchen der USA gekürt. Die Verantwortlichen sahen im Abstrakten Expressionismus alle nötigen Vorzüge, um den Ländern des alten Europa ein neues Bild von Amerika vor Augen zu führen: Pollocks Malerei strahlte die Ideologie des freien Unternehmertums aus, sie war neu, quicklebendig und kraftvoll – dagegen wirkte die historisierende Kunst des Sozialistischen Realismus steif und hausbacken. Der Abstrakte Expressionismus sollte allerdings nicht nur als spezifisch amerikanische Erfindung gelten, sondern auch das alte Kunstzentrum Paris durch New York ablösen.

Obwohl Architektur und stadtplanerische Fragen nicht zu den Prioritäten des CCF zählten, wurde Doxiadis von Anfang an in dessen Aktivitäten eingebunden. Bei einem wichtigen Kongress in Mailand im Jahre 1955 gehörte er zu den Hauptrednern: Er sprach über den “wirtschaftlichen Fortschritt in den unterentwickelten Ländern und die Rivalität zwischen demokratischen und kommunistischen Methoden”.[6] 1960 war er Mitglied der CCF-Delegation, die am Kongress zur Neuen Arabischen Metropole teilnahm, gemeinsam mit Hassan Fathy, der damals für sein Büro arbeitete.[7] Diese Kongresse des CCF wurden von der CIA initiiert – die Kosten trug die Ford Foundation. Die Personalfluktuation zwischen dem CCF und der Ford Foundation war so hoch, dass man die beiden mit Fug und Recht als Schwesterorganisation bezeichnen kann. Im Laufe der Jahre ließ Ford dem CCF beinahe zehn Millionen Dollar Fördergelder zukommen und wurde am Ende zu dessen Hauptfinanzier.

Der Congress for Cultural Freedom, die Ford Foundation, die US-Regierung, die Ivy-League-Universitäten und private Geldgeber wie die Rockefeller Foundation und die Carnegie Foundation sahen sich vereint im “Krieg gegen den Kommunismus”: Sie verfolgten mit derselben Mentalität dieselben Ziele und koordinierten untereinander gemeinsam ihre Aufgaben. Wenn etwas nicht mehr ins Budget oder Programm der Ford Foundation passte, rief man beim Direktor des CCF an, damit dieser die Initiative übernahm; der CIA schaute wöchentlich bei der Ford Foundation herein, stellte dort seine eigenen Pläne vor und delegierte diese gegebenenfalls an Mitarbeiter der Stiftung. Die damals Beteiligten erinnern sich an eine aufregende Zeit, eine prickelnde Mischung aus “Boudoir-Politik”, spontanen Aktionen, ausgiebigen Reisen, jeder Menge Täuschungsmanöver, Unsummen von Geld und vor allem der felsenfesten Überzeugung, einen Beitrag zur Rettung der Welt zu leisten.

In diesen Zirkeln hatte Doxiadis in Sachen Stadtplanung die gleiche Funktion zu erfüllen, wie sie Jackson Pollock in der Kunst zufiel: Doxiadis’ Ökistik verkörperte das genaue Gegenteil der sozialistischen Stadtplanung und Architektur. Während die New Towns in der Sowjetunion weiterhin nach dem historischen Repertoire aus Perspektivblick, Achse, Platz und Blockrandbebauung angelegt und im Stil eines monumentalen Historizismus entworfen wurden, schaffte Doxiadis formale Fragen und monumentale Kompositionsweisen ab und ersetzte sie durch offene Schemata wie das Rasternetz. “Dynapolis” und “Ecumenopolis”, Modelle einer weltumspannenden Stadt, die unbegrenztes Wachstum und ständige Veränderung ermöglichen, sprengten alle bis dahin bekannten Dimensionen der Stadtplanung. Das Wohnviertel, das man von den englischen New Towns kannte, wurde ausgedehnt und in einem endlosen, weitläufigen Raster wiederholt, bis jede Ähnlichkeit mit bestehenden urbanen Mustern verschwunden war.

Auch in ideologischer Hinsicht stand Doxiadis gewissermaßen auf der “richtigen” Seite: Er setzte das “bottom-up-Prinzip” kleiner Gemeinden dem staatlich verordneten Kollektivismus der sozialistischen Planung entgegen. Sein Konzept der Ökistik bot mit den Aspekten von Veränderbarkeit und grenzenlosem Wachstum sowie der Überzeugung, mit Technik lasse sich jedes Problem bewältigen, ein perfektes Vehikel für die Entwicklungsideologie der USA.

Sadr City

Der Nahe Osten lag direkt unterhalb der geostrategischen Achillesferse der UdSSR und avancierte in den fünfziger Jahren zu einem der Brennpunkte des Kalten Krieges – in dieser Eigenschaft wurde er buchstäblich zum Tummelplatz für amerikanische Architekten. Sie erschienen im Gefolge internationaler Hilfsprogramme und ihre Auftraggeber waren die installierten Marionettenregimes der “Koalition” aus Briten und Amerikanern.[8] Victor Gruen etwa, der Erfinder der Shopping Mall, entwarf einen Masterplan für die iranische Hauptstadt Teheran, das irakische Regime von König Faisal engagierte Walter Gropius, Le Corbusier, Gio Ponti, Alvar Aalto und Frank Lloyd Wright. Die Ford Foundation, der CIA und die Harvard University waren nie weit entfernt.

Die amerikanischen Hilfsprogramme für den Libanon, den Irak oder den Iran unterschätzten oft die Komplexität dieser Länder. Ohne die Landessprache zu beherrschen und mit nur unzureichenden Kenntnissen der einheimischen Sitten und Gebräuche, verfehlten diese gut gemeinten Initiativen häufig ihr Ziel. Verglichen mit diesen dilettantischen Bemühungen waren die Ergebnisse von Doxiadis’ Büro ein Ausbund an Effizienz und Effektivität, insbesondere im Irak. Dort engagierte die Regierung Doxiadis, um ein nationales Wohnungsbauprogramm zu realisieren. Im Anschluss an diesen Auftrag gründete er so etwas wie ein eigenes “Ministerium” für Wohnungs- und Städtebau, Architektur und Architektenausbildung. Gropius’ Büro strampelte sich ab, um sein Projekt für die Universität von Bagdad zu verwirklichen und konnte zwanzig Jahre später lediglich einen einzigen Turm vorweisen; Frank Lloyd Wright musste miterleben, wie seine grandiosen Pläne für die Oper von Bagdad aus dem Fenster flogen, als das Revolutionsregime König Faisal 1958 entmachtete. Doxiadis hingegen hatte keine Probleme: Sein multidisziplinäres Team entwarf Zehntausende von Häusern und schaffte es auch, diese tatsächlich zu bauen. Trotzdem hat die offizielle Architekturgeschichte den gescheiterten Projekten von Gruen, Gropius und Wright ungleich mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den Arbeiten von Doxiadis.

Ohne es zu wissen, kennen jedoch die Meisten das wichtigste Projekt von Doxiadis in Bagdad aus den Fernsehnachrichten. Sadr City, eine endlose Wiederholung quadratischer Wohnkomplexe, ist auf Google Earth leicht auszumachen: ein dichtes Gebiet aus ein- bis zweigeschossigen Bauten, mit engen Straßen und grauen Betonsackgassen. Inzwischen kennt man den Stadtteil als Kulisse des irakischen Bürgerkriegs. In dem Gebiet leben heute zwei Millionen mehrheitlich schiitische Iraker, es gilt als alptraumhaftes Ghetto und Hochburg des Widerstands gegen die Amerikaner – und es hat die zweifelhafte Ehre, Schauplatz eines Internet-Computerspiels zu sein: “Mission 16, Battle in Sadr City”.

Das Gebiet ist Teil von Doxiadis’ Masterplan für Bagdad von 1958, einem Entwurf nach den Regeln der Ökistik, der sich kaum von seinen anderen Stadtentwürfen für Islamabad, Tema oder Khartum unterschied.[9] Doxiadis umgab Bagdads historisches Zentrum mit einem orthogonalen Raster, das sich auf beiden Seiten des Tigris erstreckte und aus vierzig Sektoren von ungefähr zwei Quadratkilometern bestand. Breite Durchgangsstraßen trennten die einzelnen Sektoren voneinander. Diese waren wiederum in mehrere “Gemeinden” mit kleineren Nachbarschaftszentren und Wohnvierteln untergliedert, die durch ein System von Sackgassen erschlossen wurden. Jedes Gemeindezentrum bestand aus einem Marktgebäude, öffentlichen Einrichtungen sowie einer Moschee.

Die Reihenhausbebauung war so angeordnet, dass die kleinsten Gemeinden einen “Schwatzplatz” erhielten, einen offenen Treffpunkt, der sich an traditionelle irakische Gepflogenheiten anlehnte. Obwohl diese als kontextuelle Elemente interpretiert werden können, folgte der Plan von Bagdad insgesamt einem generischen, universellen System, das nach Doxiadis’ Ansicht zu jeder sich entwickelnden Stadt mit heißem Klima passte. Die zurückhaltend moderne Architektur war ebenfalls generisch mit ein paar ortstypischen Einsprengseln – wie Wandpaneele, die mit arabisierenden Motiven verziert waren. Örtliche Einflüsse hatten für Doxiadis nur eine eingeschränkte technische Bedeutung. Er griff auf lokale Techniken und Baumethoden zurück, verfolgte aber keinen dezidiert vernakulären Stil und berücksichtigte kaum die örtliche Identität oder kulturelle Traditionen.

Aus Sicht seiner amerikanischen Förderer, insbesondere der Ford Foundation, bestand der größte Pluspunkt von Doxiadis’ Entwürfen in deren gemeinschaftsstiftendem Potenzial. Die Zuwanderer aus ländlichen Gebieten sollten sich auf keinen Fall von ihrer neuen städtischen Lebensweise abgestoßen fühlen und dadurch etwa archaischem Aberglauben oder – noch schlimmer – dem Kommunismus anheim fallen. Doxiadis’ Städte mit ihren kleinen Plätzen, Gassen und Gemeindezentren lassen sich unter diesem Gesichtspunkt als präzis justierte “Emanzipationsmaschinen” verstehen, die mit dem Aufbau demokratischer Institutionen und eines freien Marktes zum propagierten Modernisierungspaket der Amerikaner gehörten.

Natürlich ist es verführerisch, die gegenwärtige Situation im Irak mit der des Kalten Krieges zu vergleichen: Wieder oktroyieren die USA dem Irak ihr eigenes Gesellschaftsmodell – diesmal die neokonservative Variante der freien Marktwirtschaft.[10] Selbst Experten, die die amerikanische Politik in den fünfziger Jahren maßgeblich mitgeprägt haben, warnen heute davor, den gleichen Fehler noch einmal zu machen, indem man dem Irak erneut Strukturen aufzwingt, die der örtlichen Kultur fremd sind.[11]

Die Ford Foundation bezeichnete ihre Stadtplanungsprojekte der Nachkriegszeit als “White Bread” – harmloses, weiches Brot ohne besonderen Geschmack. Sie sollten den Weg für eine andere Lebensweise ebnen – westlich, effizient und friedliebend – und dazu beitragen, aus den Ländern der Dritten Welt rationale Zivilisationen zu machen. Architektur und Stadtplanung sind jedoch kein “Weißbrot”, keine neutrale Technik ohne Bedeutung und Geschmack. Im Gegenteil, ihre Organisation spiegelt das Ideal einer bestimmten Gesellschaftsform wider. Doch egal wie kritisch man Doxiadis’ Städte beurteilen mag, sie projizierten eine positive, konstruktive Vision für den Irak – etwas, das man in der aktuellen amerikanischen Irakpolitik leider schmerzlich vermisst.

Die Architekturhistorikerin Michelle Provoost lebt in Rotterdam und arbeitet derzeit an dem Projekt “WiMBY! Welcome into My Back Yard!” (http://www.wimby.nl/), einer Reihe von Stadtplanungs- und Architekturvorhaben für die nach dem Krieg errichtete Satellitenstadt Hoogvliet in der Nähe von Rotterdam. Mit der Arbeit in Hoogvliet entwickelte Provoost ein reges Interesse für die weltweite Familie der New Towns und arbeitet zusammen mit ihren Kollegen von Crimson Architectural Historians (www.crimsonweb.org) an dem Forschungsprojekt “The New Town” (www.thenewtown.nl). Der vorliegende Essay stellt die ersten Arbeitsergebnisse vor.

 

[1] Constantinos A. Doxiadis, Ekistics. An Introduction to the Science of Human Settlements, New York 1968.

[2] Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of our Times, New York 2005.

[3] Frances Stonor Saunders, The Cultural Cold War. The CIA and the World of Arts and Letters, New York 2000 (ursprünglich 1999 in England erschienen).

[4] Die Architektur wurde ebenfalls einbezogen: Die bekannte Publikation “Built in the USA” (E. Goodwin (Hg.), Built in the USA. 1932-1944, New York 1944), die 1952 vom Museum of Modern Art wiederveröffentlicht wurde, gehörte zu den Übersetzungen, die von der amerikanischen Militärregierung bzw. deren Abteilung für psychologische Kriegsführung publiziert wurden, um die Entwicklung der amerikanischen Nachkriegsarchitektur zu präsentieren; sie wurde begeistert aufgenommen und erwies sich in vielen westeuropäischen Ländern als überaus einflussreich. Vgl. Saunders 2000, S. 22.

[5] Ebd., S. 1.

[6] Constantinos A. Doxiadis, Economic progress in underdeveloped countries and the rivalry of democratic and communist methods, Vortrag auf dem 1955 in Mailand veranstalteten Kongress des Congress for Cultural Freedom, Constantinos A. Doxiadis Archiv, Athen.

[7] Die Resultate des Kongresses wurden publiziert in: Monroe Berger, The New Arab Metropolis, Neu-Delhi 1961.

[8] Zu diesen Hilfsprogrammen zählten u.a. das Point Four Program und die United Nations Development Decade.

[9] Doxiadis Associates, “The Master Plan of Baghdad”, in: Monthly Bulletin 9 (Januar 1960), Athen, Griechenland.

[10] Naomi Klein, “Baghdad Year Zero. Pillaging Iraq in pursuit of neocon utopia”, in: Harper’s Magazine (Sept. 2004).

[11] William R. Polk, “A Time for Leaving. American security and Iraqi stability depend on a prompt handover”, in: The American Conservative, 17. Januar 2005.

 

Published 25 May 2007
Original in English
First published by archplus 183 (2007) (German version); Lettre Internationale (Denmark) 11 (2006) (Danish version)

Contributed by Lettre Internationale © Michelle Provoost / archplus / Eurozine

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