Deutschlandreise

Im März, einer dieses Jahr noch unwirtlichen Jahreszeit, reiste die ukrainische Autorin Natalka Sniadanko im Auftrag von du durch Deutschland, mit einem fast mannshohen Rucksack auf dem Rücken und der ungewissen Situation ihres Landes im Herzen. Ihre Ziele waren Orte, die deutsche Normalität und einen spezifischen Regionalcharakter versprachen. Hübsche, sehr hübsche, solche, die fast unversehrt über die Zeiten gekommen sind, und solche, denen seit dem Wiederaufbau der Nachkriegszeit der Ruf der Gesichtslosigkeit anhaftet. Sie traf sich mit Freunden, die sie aus Lemberg oder von einem früheren Aufenthalt kannte, mit Bekannten der Redaktion, schliesslich mit auskunftsfreudigen und gastfreundlichen Zeitgenossen, die sie selbst gefunden hat.

Es ist das erste und schätzungsweise auch das letzte Fussballspiel, das ich nicht vorm Fernseher und nicht nur rein zufällig sehe, sondern in einem Stadion, das nach dem letzten Schrei der Fussballmode hergerichtet und für die Fussball-wm vorbereitet ist. Die Spieler von Schalke rackern sich ganz schön ab und gewinnen, scheint mir, letztlich verdient gegen Eintracht Frankfurt, umso mehr, als ihnen einige verletzte Spieler fehlen. Auch ich bemühe mich und feuere die Gelsenkirchener so richtig an, wobei ich versuche, dem Schalke-Fan, der mich eingeladen hat, wenigstens ein paar gescheite Fragen zu stellen. Das klappt freilich nicht so richtig, klar ist mir eigentlich nur, dass Schalke nicht einfach ein Fussballverein ist, sondern schon fast eine Legende, ein sportliches Grossereignis, ein wenig auch ein Kulturereignis. Schon deshalb, finde ich, muss man so ein Spiel einmal im Leben gesehen haben.

Das Ruhrgebiet könnte man das deutsche Donbass-Gebiet nennen, allein deswegen, weil es hier bedeutend mehr Menschen als in anderen deutschen Landstrichen gibt, die sich unter dem ukrainischen Steinkohlen- und Industrierevier etwas vorstellen können. Vielleicht liegt es nur daran, dass der Donbass-Fussballclub Schachtar schon einmal gegen Schalke gewonnen hat. Dies war unverzeihlich, aber so erinnert man sich wenigstens an Donbass. Auch das ist ein Grund für mich, Schalke-Fan zu sein. Das einzige, was mir an Schalke nicht gefällt, sind die Farben der Trikots. Schon wegen meiner politischen Überzeugung. Der ukrainische Donbass ist auch überwiegend blau-weiss, politisch allerdings, nicht beim Fussball. Wenn ich nach meiner achtzehntägigen Tour durch die deutsche Provinz zurückkehren werde und diesen Artikel schreibe, werden in der Ukraine gerade die Parlamentswahlen ausgewertet und die Blauweissen, gegen die vor einem Jahr fast das ganze Land in Orange demonstriert hat, werden wieder bedrohlich aktuell sein. Bei den Nachbarn in Weissrussland verprügeln die Gesinnungsgenossen der Blauweissen Frauen und Kinder mit Gummiknüppeln wegen der Teilnahme an friedlichen Demonstrationen und werfen sie ins Gefängnis, halten sie tagelang ohne Essensrationen fest und leiten keine Nachrichten an ihre Verwandten weiter. Doch das hindert die ukrainischen Wähler nicht daran, die Partei der Blauweissen mehrheitlich zu wählen.

Gelsenkirchen ist schön

Diese unpassenden Gedanken entfernen mich vom Geschehen. Erst in der zweiten Halbzeit bin ich wieder da und bemerke mit Schrecken, dass der Ball “unserem” Tor schon bedrohlich nahe ist – allerdings zeigt keiner der Schalke-Fans, die um mich herum sitzen, besondere Gefühlsregungen. Als ich dann wieder mal nachfrage, wofür ich mitleidig-verächtliche Blicke einfange, stellt sich heraus, dass es nach der ersten Halbzeit einen Seitenwechsel gibt und sich deshalb “unser” Tor auf der anderen Spielfeldseite befindet. Schliesslich endet die Begegnung; vom Sieg überwältigt strömen die blau-weissen Fussballfans in einem gewaltig-gemächlichen Haufen auf die Strasse, füllen die Trambahnen und singen “Blau und Weiss, wie lieb ich dich” und rauchen dazu in den Waggons. Keinerlei Aggressionen, nicht mal verbale, keine in die Sitze gedrückten Kippen. Ich tippe mal, würde ich in das Donbass-Stadion geraten, wenn Schachtar gerade einen ernst zu nehmenden Gegner besiegt, dann hätte ich wohl extremere Eindrücke gehabt.

An diese Fussballerfahrung erinnere ich mich dann doch noch einige Male im Verlauf meiner Tour, während der ich fünfzehn kleinere und fünf grössere deutsche Städte besuche, zwanzig Bahnhöfe zu sehen bekomme (einige sogar dreimal, obwohl es nicht immer die sind, die ich sehen will, zum Beispiel den berühmten Uelzener Bahnhof von Hundertwasser, den sehe ich nur einmal und nur ganz kurz). Einmal in Giessen – diese Erinnerung ist ein bisschen peinlich – kann ich gerade noch den Mund halten, als ich höre, dass “Unsere” in jenem Fussballspiel verloren haben. Natürlich, “Unsere” hat nicht nur eine sportliche Dimension, sondern auch eine geografische, und nun bin ich schon ein ganzes Eck weg von den Schalke-Fans, in der Nähe Frankfurts, so dass die regionalen Sitten zu beachten sind.

Eigentlich beginnt meine Tour ganz und gar nicht mit Fussball, und eigentlich auch nicht im Ruhrgebiet. Dessen Städte sollen eher Kontrastprogramm sein; sie sind, stelle ich mir vor, das Katzengold unter den architektonischen Perlen Deutschlands. Aus der Tonlage des Gesprächs mit meinem Schalke-Fan, dem Ingenieur Stefan, über das sogenannte “Revier”, wo er geboren wurde und bis auf die Studienzeit in Köln auch immer lebte, lässt sich eine leichte Verlegenheit heraushören, die typisch ist für die Einheimischen hier. Als ob sie die Schuld dafür tragen, dass Essen, noch vor Christi Geburt gegründet und etymologisch auf den Weltenbaum zurückgehend, die meisten seiner Architekturschätze verloren hat und nun fast nur noch Glas-Beton-Gebilde aus den 1970er Jahren und später bieten kann.

Die Aufsplitterung in Städte und Städtchen wird nicht mehr so ernst genommen, und so verbringen die Fussballfans aus Essen ihre Abende in Gelsenkirchen und die Bewohner Gelsenkirchens fahren nach Bochum in die Kneipe oder nach Essen ins Theater. Den schlechtesten Ruf, auch unter den Bewohnern des Ruhrgebiets, hat laut Stefan Gelsenkirchen, was ich nicht so ganz verstehen kann, wenn ich an das supermoderne Stadion denke, die weitläufigen Parkanlagen, die heimeligen, ja ansehnlichen Strassen mit Jugendstilgebäuden, die heute allerdings fast ausschliesslich von Türken und anderen Migranten bewohnt werden.

Beim Frühstück in meinem Essener Hotel verlangen zwei Russen lautstark Alkohol. Die Serviererin hat Angst in den Augen, als ich auf sie zugehe, und ist sichtbar erleichtert, dass ich sie nur um die Zeitung bitte. Ich lese den Aufmacher über ein lokales Kindertanzturnier und eine kurze Notiz über den Tod von Milosevic. Auf einer weiteren Seite finde ich eine ausführliche und traurige Reportage über die verwaisten Kinderspielplätze des Ruhrgebiets, über die Abwanderung junger Menschen und dass die Rentner anstelle der Enkel Blumen aufziehen. Die Strasse vor dem Fenster des Hotels ist menschenleer wie so viele andere Strassen auch, die ich während meines kurzen Rundgangs durch die Stadt sehe.

Bahnhöfe, Grenzübergänge, Zigaretten

Aus der schönen Essener Tristesse ein Blick zurück zum Anfang meiner Reise, der vielleicht kein glänzender war, aber für uns so alltäglich wie für Westeuropäer wahrscheinlich unglaublich. Ich meine den tolldreisten Schmuggel von Alkohol und Zigaretten, die in der Ukraine noch etwas billiger sind als in Polen und in Polen und Tschechien wiederum etwas billiger als in Deutschland. Während der Handel an den deutschen Grenzen schon lange seinen Nervenkitzel eingebüsst hat und zur ganz gewöhnlichen Kleingeschäfterei wurde, ist die Kunstfertigkeit der ukrainischen “Schwärzerinnen”, wie man die Schmugglerinnen hier nennt, meiner Meinung nach noch lange nicht ausgeschöpft. Ich bin fest überzeugt, dass sie ihren Umsatz noch steigern können, wenn sie ihr Alkohol- und Zigarettensortiment um ein touristisches Angebot erweitern. Ich stelle mir vor, wie Massen europäischer und japanischer Touristen vier Stangen Zigaretten schmuggeln, die sie unter der Anleitung erfahrener Schwärzerinnen mit Klebeband über den Körper verteilen. Der Adrenalinschub, den man bekommt, wenn einen die Zollbeamten durchsuchen, übertrifft bei weitem jeden Extremsport.

Meine Nachbarin im Bus erzählt mir aufgeschlossen, dass sie sogar vier Schachteln in der Unterwäsche verstecken kann, fügt dann aber mit einem leicht selbstvergessenen und beschämten Lächeln hinzu, wie man ihr beim letzten Mal auch “von dort” die Zigaretten rausgeholt hat. Ihre Bekannte hält mit ihrem Know-how auch nicht hinterm Berg: Heute hat sie in ihrem Büstenhalter eine Packung mehr als üblich untergebracht und sogar zwei mehr in den Strümpfen. Beide blicken mich dann etwas misstrauisch an, weil ich meine Zeit sinnlos an ein Buch verschwende, während die komplette Belegschaft des Autobusses zu Verpackungskünstlern wird. Die Kumpel des Fahrers dichten dabei die Ritzen und Hohlräume des Busses mit Zigarettenschachteln ab.

Sind sie Lehrerin oder Polin?fragt die Nachbarin und blickt ungläubig auf die deutschen Seiten meines Buches.

Haben Sie Zigaretten mit?

Ich brummle ein undeutliches Neinvor mich hin. Sie blickt mich erstaunt an, kann wohl nicht fassen, wie man so sinnlos über die Grenze fahren kann.

Nehmen Sie eine Stange?fragt sie mich streng.

Warum?Die verstehen meine Ablehnung nicht. Schweigend lasse ich die Schultern hängen und sage mir zum x-ten Mal, dass das Mitgefühl für ihre finanzielle Notlage nicht meine Grundsätze verletzen sollte. Zur Sicherheit erkundigt sie sich noch zwei-, dreimal und seufzt schliesslich: Ich bin Lehrerin. Leiterin einer Dorfschule.

Die “Schwarze Brigade”, wie die Schwärzer die Zollbeamten nennen, setzt sich heute aus Andrzej, Soska und “Bin Laden” zusammen – so flüstern es alle einschlägig interessierten Mitreisenden in ihre Handys. Verängstigt drängen sie sich zusammen und keiner traut sich zum Kontrollposten vor.

Ich dränge mich schliesslich durch die verschwitzten Körper und steuere auf “Bin Laden” zu, im Rücken die aufgestaute negative Energie des Haufens hinter mir. Was ist im Rucksack?fragt der Zöllner gutmütig auf polnisch. Persönliche Sachen, antworte ich ihm in derselben Sprache. Gehen Sie weiter. Ich bin durch.

Hinter mir kommt noch ein Junge mit Rucksack durch. Der ganze Rest wird streng durchgefilzt. Heute werden allen zwei Stangen abgenommen, das Maximum, niemand hat ein Geschäft gemacht, bestenfalls die Fahrtkosten wieder reingeholt.

Die sind schon komisch, sage ich zu dem Jungen. Warum kommt niemand auf die Idee, einmal im Monat einen Rucksack bis oben hin vollzupacken das Zeug über die Grenze zu bringen und zu verkaufen? Dabei kann man in aller Seelenruhe reisen und muss sich nicht ein paarmal am Tag filzen lassen.

Wieso niemand?sagt der Junge, der wie ein Student aussieht – ich habe den ganzen Rucksack voll.

Kurz darauf fährt der Bus in Richtung Przemysl weiter, wobei er wieder den Rekord im Schneckentempofahren bricht. Für eine Entfernung von 70 Kilometern braucht er vier, manchmal sechs Stunden. Die Verpackungskünstler packen nun wieder aus, die Zigarettenschachteln werden wieder zu Stangen. Und das auf bis zu vier Streifzügen pro Tag.

Brautsuche im Allgäu

Die Mehrheit der Leute, mit denen ich mich während meiner – wie es die Redaktion vorläufig nannte – “Reise durch die deutsche Provinz” unterhalte, reagiert auf das Wort “Provinz” gelassen. Wie sollte man denn Immenstadt auch anders nennen, 14 000 Einwohner und in einer halben Stunde zu Fuss von einem Ende der Stadt zum anderen? Mein Versuch, hier ein Internet-Café zu finden, trifft auf Unverständnis und ich muss das Ziel meiner Suche schon genauer beschreiben.

Was für einen Kaffee?höre ich als verwunderte Antwort auf meine Frage. Doch ein älterer Mann, Rentner oder Arbeitsloser, der am Nebentisch im Bistro sitzt, wo ich zu Mittag esse, erkennt in mir auf den ersten Blick die Auswärtige. Wahrscheinlich hat mich die kyrillische Schrift auf der Umhängeschnur vom Handy verraten. Vielleicht kennen sich hier auch alle untereinander.

Von woher kommst du denn?fragt der Mann.

Aus der Ukraine,antworte ich.

Sehr gut,freut er sich komischerweise. Ich bräuchte eine Ehefrau. So um die fünfzig, dunkler Typ, kennst du eine?

So auf Anhieb fällt mir keine ein, aber wenn ich eine sehe, richte ich’s bestimmt aus.Und um das Thema zu wechseln, frage ich nach dem Internet.

Was denn, hast du keinen Computer zu Hause?fragt er ungläubig.

Doch, doch,sage ich – guten Appetit! – auf Wiedersehen.Wiedersehen!sagt er lachend und bestellt sich Tee und Kuchen.

Abends rufe ich Uli an, Studienfreundin eines Redakteurs von du, und eine Viertelstunde später sitzen wir in einem Wirtshaus am Marienplatz. Hier kann ich sogleich einen der Vorzüge des Lebens in der Kleinstadt erleben: Sich mit einem Unbekannten zu verabreden stellt überhaupt kein Problem dar, man braucht nicht umständlich sein Äusseres zu beschreiben, es reicht, den Ort des Treffens zu vereinbaren, denn die Strassen veröden nach 19 Uhr und ein unbekanntes Gesicht zieht sofort Aufmerksamkeit auf sich. Uli ist vor etlichen Jahren aus einer Grossstadt hierhergezogen und nimmt die Distanz der “Alteingesessenen” gelassen: eine alleinerziehende Mutter mit Universitätsabschluss und einem für den hiesigen Geschmack allzu intellektuellen Beruf, Lehrerin, aber das Schlimmste – sie hat keine Verwandten hier. Die Existenzbedingungen in Provinzstädtchen sind streng und zeitlos.

Ulrike und ihr Freund Robert laden mich ein, sie ins Kino zu begleiten, wo der Film “Gernstls Reise” gezeigt wird. Auch Franz Xaver Gernstl, der Autor und Regisseur, ist anwesend.1 Er macht das Gleiche wie ich, fährt durch Deutschland und unterhält sich mit den Menschen. Freilich schon seit Jahren und professionell. Entstanden sind verschiedene Fernsehreportagen und als Endergebnis der Film, den wir sehen. Ein Dokumentarfilm, wobei einige Personen daraus auch in einen künstlerischen Film gepasst hätten, zum Beispiel der Theologe, dessen Leidenschaft die Käserei ist und der sein Glück darin findet, täglich “mit Bakterien zu reden”, oder der sentimentale, verheulte Amateurboxer – einer aus einer Serie von Helden grotesker Szenen aus dem Nachwende-Ostdeutschland. Das Wort “Provinz” kommt im Film nicht vor. Der Regisseur mag es nicht, genauso wie einige andere, mit denen ich im Lauf meiner eigenen Reise spreche.

Cord lebt in Braunschweig, er ist aus Berlin dorthin gezogen, geboren wurde er in noch einer anderen Stadt. Braunschweig ist keine Provinz, versichern mir Cord und seine Chefin, die Germanistikprofessorin Renate, einstimmig. Sie führen verschiedene Argumente dafür an, vor allem aber die eigene Gefühlslage hier, sie leben einfach angenehm in dieser Stadt. Das reichhaltige Kulturangebot befriedigt ihre Bedürfnisse und allmählich sind sie zu echten Lokalpatrioten geworden. Ungeachtet dessen plant Cord, nach der Habilitation anderswohin umzuziehen. Ein bisschen unzufrieden ist man höchstens nach den Ferien. Zum Beispiel, wenn man sie in Frankreich verbracht hat. In den dortigen Städten gibt es keine solch scheusslichen Gebäude wie hier, dort sind die Fenster in Holz gefasst und nicht in Metall-Plastik-Rahmen gesetzt, und man findet Cafés auf Schritt und Tritt. Kommt man zurück und sieht das hier wieder alles, kann man schon eine leichte Depression bekommen. Aber das geht vorüber, bekennt Cord, während wir das Viertel auf der Suche nach einem Café durchstreifen. Wir haben schon fast aufgegeben, als wir endlich eines finden. So lernt man die einfachen Dinge des Lebens schätzen.

Alter Adel mit dsl-Anschluss

Auf meine E-Mail mit der Anfrage, ob ich ihn besuchen und die Umgebung besichtigen könnte, erhielt ich von Hubertus von Breidbach-Bürresheim die lakonische Antwort, natürlich könne ich kommen, und falls ich mit dem Auto anreise, würde ich einen Lageplan unter www.schlossfronberg.de finden. Ich schaue mir die Seite im Internet an und stelle mir ein nicht allzu grosses, neues Gebäude mit den Wohnräumen der Adelsfamilie vor, das an ein museal konserviertes Schloss angebaut ist. Mit dieser Vorstellung fahre ich nach Fronberg und verabschiede mich erst von ihr, als ich mich in einem Zimmer mit drei Betten, Ofen, Renaissancespiegeln und mittelalterlichen Porträts an den Wänden wiederfinde.

Schloss Fronberg, erstmals erwähnt im 13. Jahrhundert, ist fast so alt wie meine Heimatstadt Lemberg. Eigentlich hätte ich mich nicht zu wundern brauchen, dass die Familie, deren Vorfahren dieses Schloss errichtet haben, noch immer hier lebt. Aber ich wundere mich, weil die Aristokraten meiner Heimat schon lange nicht mehr in Schlössern wohnen. Die Mehrzahl wohnt überhaupt nicht mehr in meiner Heimat, weshalb sie in meiner Vorstellung – und in jener der jüngeren Generationen – so etwas wie Dinosaurier sind, nur dass der Grund ihres Verschwindens nichts mit dem Klima zu tun hat. Das, was man erfahren kann, muss man aus Memoiren und Biografien, die zumeist im Exil erschienen sind, oder aus den Erzählungen von Zeitzeugen, deren Zahl Jahr für Jahr abnimmt, zusammensuchen. Auch den Schlössern erging es nicht besser. Ihre Überreste zeigen immerhin noch Spuren eines Glanzes, den nicht einmal die Plünderungen und Zweckentfremdungen der Sowjetzeit zum Verblassen bringen konnten. Deshalb erscheint mir das glückliche Schicksal von Schloss Fronberg geradezu unglaublich. An den Wänden hängen die Porträts der Ahnen, ernsthaft dreinblickende Erwachsene und nicht weniger ernsthafte Kinder, der damaligen Mode folgend, alle in Röcken und ungeachtet des Geschlechts mit langen Haaren. Geschichte atmet man hier fast überall, und es ist kein Wunder, wenn einem dabei manchmal die Luft wegbleibt. Und, apropos, zum Lüften aller Räume braucht man fast einen Vormittag, an Fensterputzen denkt man lieber gar nicht erst, vor allem wegen jener herrlichen alten Fenster mit altfranzösischen Aufschriften, die wahrscheinlich bei der ersten unvorsichtigen Berührung kaputtgehen würden. Hubertus erzählt, dass man noch vor einigen Jahren, wenn es geregnet hat, Eimer und Töpfe entlang der Löcher in der Decke aufstellte. Jener Teil des Schlosses allerdings, in dem die Familie wohnt, wurde restauriert und den Anforderungen des Alltags angepasst, einschliesslich Internet über eine dsl-Leitung und nicht etwa über ein altmodisches Modem. Die Lichter in den Gängen schalten sich sogar automatisch ein. Über diese Errungenschaft der Zivilisation bin ich insbesondere des Nachts froh, wenn ich durch die endlosen Korridore unter den strengen Blicken der Ahnen zur Toilette wandere.

In einem Zimmer entdecke ich ein Porträt von Helmuth von Moltke. Letztes Jahr habe ich als Teilnehmerin eines Übersetzerseminars im Kreisauer Gutshaus gewohnt, das einmal den Moltkes gehört hatte und dank polnisch-deutscher Bemühungen wiederhergestellt wurde. Wie die Mitglieder des Kreisauer Kreises gehörte auch der Grossvater von Hubertus, Randolf, zum antifaschistischen Widerstand. Er starb im kz Sachsenhausen. Im Schloss selbst waren während des Krieges französische Kriegsgefangene untergebracht, die sich dann bei den amerikanischen Soldaten für die Hausherren einsetzten. Gemeinsam mit den Kriegsgefangenen hatten die Besitzer eine Art Kommune gebildet, eine Überlebensgemeinschaft gegen Hunger und einen gemeinsamen Feind. Noch heute korrespondieren einige der damaligen Schlossbewohner mit den von Breidbachs.

Das Leben der Adelsfamilie erinnert kaum an das Bild, das man aus Romanen kennt. Niemand schläft bis zum Mittag oder trinkt bis Sonnenuntergang heisse Schokolade im Bett, um sich für die nächste Ballnacht zu stärken. Die Erwachsenen arbeiten im eigenen pharmazeutischen Kleinbetrieb und stecken die Gewinne in das alte Gemäuer. Mehr als zwanzig Jahre mache ich nichts anderes, als dieses Schloss zu restaurieren, erzählt Hubertus. Sein Traum ist es, die seit Jahrzehnten geschlossene Hausbrauerei wieder zu eröffnen.

Tagsüber erkunde ich die Umgebung. Als erstes Ziel wähle ich Bayreuth, nicht ahnend, dass man fast zwei Stunden bis dorthin braucht. Ich beginne mit dem Markgräflichen Opernhaus. Dort erstehe ich eine Kombikarte, mit der man Eintritt zu drei der Sehenswürdigkeiten hat, deren Besichtigung der Reiseführer empfiehlt. Mein touristischer Eifer wird allerdings etwas gebremst durch den Hinweis, dass zur Zeit nicht alle drei Sehenswürdigkeiten zugänglich seien und ich mich mit dem Opernhaus und dem Residenzschloss der Markgräfin Wilhelmine zufriedengeben müsse. Das tue ich denn auch und würdige die erfolgreichen Bemühungen der feinsinnigen Schwester Friedrichs des Grossen, wirklich zauberhafte Gebäude zu schaffen, ebenso die gute Organisation der Dauerausstellung, die einen Museumsführer überflüssig macht. Ovids “Metamorphosen” als Tapetenschmuck, chinesische Motive an den vergoldeten Spiegeldecken, von Wilhelmine gemalte Porträts, ihre Korrespondenz mit Voltaire, Fragmente aus ihren Tagebüchern, reproduziert von Audioguides bei der Führung durchs Opernhaus. Zum fünften Mal gerate ich nun schon auf die zentrale Strasse, um die herum hier alles konzentriert ist. Es ist lebhafter geworden, vor allem dank der Schüler, die aus Bussen steigen und lärmend ins Zentrum strömen. Ich werde auf zwei Mädchen aufmerksam, schnappe ihre Gesprächsfetzen auf und stelle fest, dass sie aus Lemberg sind und über eine Professorin sprechen, bei der auch ich studiert habe.

Ich setze mich in eines der Cafés, die sich in den Einkaufspassagen verbergen, und geniesse es, dass ausser mir keine Kundschaft da ist, besonders, dass keiner raucht. Der Akzent der Bedienung kommt mir bekannt vor und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihre Muttersprache Russisch ist. Dann kommen zwei Musiker, wohl Bekannte von ihr. Die drei tauschen sich darüber aus, wo man in Bayreuth Drogen bekommt. An den Toilettenwänden hängen Reklameplakate für Singleabende, bei denen “die Dame entscheidet, ob es zu einem weiteren Date kommt”. Als ich gehe, nickt mir einer der Musiker mit einem Da svidanijazu.

Regensburg: endlich Touristin!

Am nächsten Tag unternehme ich eine Tour ins wesentlich näher gelegene Regensburg, und dort, obwohl es bereits die elfte Stadt auf meiner Route ist, fühle ich mich endlich als richtige Touristin. Wie die Japaner fotografiere ich alles, was mir vor die Linse kommt, und verspüre keine Lust, ein Museum zu betreten. Nach einigen Stunden, in denen ich zwei Filme verknipse, wird mir schliesslich klar, was los ist. Von allen Städten, die ich bisher gesehen habe, ist Regensburg Lemberg am ähnlichsten, wo ich geboren wurde und immer lebte und wo ich doch bei fast jedem Spaziergang durch die Altstadt eine bisher unbekannte architektonische Besonderheit entdecke. Nun ja, Regensburg hat im Unterschied zu Lemberg einen grossen Fluss, und alles ist viel besser restauriert. Umso mehr freut es mich, wenn ich hier doch einmal auf den vertrauten Schlendrian stosse, etwa, als ich in den Altstadtgässchen ein vernachlässigtes Gemäuer finde, das ich dann aus allen Perspektiven fotografiere. Nur die architektonischen Einsprengsel der siebziger Jahre blende ich aus, von denen hatte ich im Ruhrgebiet und anderswo schon genug.

Zum Mittagessen gehe ich in eine berühmte Bierschwemme, den Kneitinger, und während ich auf die Bestellung warte, blättere ich im Lokalblatt. Als erstes fällt mir ein Foto meines Landsmanns Jurij Andruchowytsch auf, der den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat. Dem gleichen Artikel entnehme ich, dass eine meiner deutschen Bekannten, Judith Kuckart, ebenfalls für den Preis nominiert war. Unsere Bücher sind in der gleichen Reihe in polnischer Übersetzung erschienen. Das verstärkt noch das “familiäre” Gefühl. Selbst die Kopfschmerzen sind die gleichen wie zu Hause, wahrscheinlich wegen des Luftdrucks, der einen Wetterwechsel ankündigt.

Camus am Zigarettenkiosk

Der Zeitpunkt, an dem diese Reiseimpressionen in Form gebracht werden müssen, rückt unerbittlich näher. Viele Eindrücke gingen unter den ständig nachfolgenden verschütt. Was zum Beispiel erinnere ich von Giessen, ausser dass es die Heimat von Karl Liebknecht ist, was ich aber noch aus der Schule weiss? Eine Fotografie von Albert Camus hängt in der Vitrine eines Zigarettenkiosks in einem riesigen Kaufhaus. Meine Gastgeber, die Eheleute W., beide Studienräte für Deutsch und Englisch, führen mich zu diesem Foto, doch ich erkenne den Schriftsteller nicht, genauso wie alle meine Vorgänger, mit denen sie dieses Experiment schon gemacht haben. Vielleicht deshalb, weil das Äussere von Camus nichts Auffälliges hat, sein Foto selten gedruckt wird, oder vielleicht, weil niemand erwartet, gerade an diesem Ort auf sein Gesicht zu treffen. Warum gerade dieses Foto in der Vitrine hängt, wusste nicht einmal der Inhaber des Kiosks, vielleicht hat er einfach ein Gesicht mit einer Zigarette gesucht. Ich erinnere mich dabei an einen Artikel, den ich vor vielen Jahren über “berühmte Persönlichkeiten, die rauchen”, las. Am interessantesten waren die Illustrationen, darunter auch ein Foto von Camus.

Wie schon meine neuen Bekannten aus Braunschweig halten auch die Giessener, die ich kennen lerne, ihre Stadt keineswegs für provinziell. Giessen hat eine Universität, wobei die meisten Studenten Pendler aus der Umgebung sind, wo sie bei ihren Eltern wohnen, weswegen es hier auch kein ausgeprägtes Nachtleben gibt. Doch immerhin besitzt es ein Theater – zum Abendprogramm meiner Stadterkundung gehört eine in Massen experimentelle Inszenierung der Glasmenagerievon Tennessee Williams. Die bedächtige, gar nicht so üble Interpretation mit der in solchen Fällen fast unausweichlichen Kinoleinwand auf der Bühne und die Verlegung der Handlung auf das Ende der 1970er Jahre soll wohl Jugendliche anziehen, und tatsächlich gefällt es ihnen, wie mir Frau W. berichtet, wobei sie sich auf die Eindrücke ihrer eigenen Schüler beruft.

Im Verlauf meiner Reise muss ich mehr als einmal die Frage beantworten, nach welchen Kriterien ich die Stationen ausgesucht habe. Ich merke jedesmal, wie wenig rational die Gründe sich anhören, zum Beispiel der Wunsch, nach Glückstadt zu fahren. In einer Stadt mit solchem Namen will ich wenigstens einmal im Leben gewesen sein. Ich weiss ganz genau, dass es irgendwo tief im Osten der Ukraine auch eine Stadt namens Glück gibt, einer meiner Bekannten ist sogar dort gemeldet. Wenn ich wie meine Lemberger Freunde, die Keramikkünstler Vasyl und Wika, im lauten Hamburg leben würde, dann würde ich wenigstens einmal im Jahr nach Glückstadt fahren. Ich weiss nicht, was ich dort machen würde. Vielleicht durch die Gassen schlendern, die vom Marktplatz wegführen, vielleicht würde ich mit der Fähre andere Fischerdörfer besuchen, vielleicht würde ich dort einfach nur frischen Matjes kaufen oder, noch besser, ins Wirtshaus gehen, wo man sie sehr lecker zubereitet. Das stelle ich mir vor, während ich an diesem Märztag tatsächlich durch Glückstadt schlendere und dabei zu begreifen versuche, wie dieses Backsteinstädtchen, das etwas mehr als zehntausend Einwohner zählt, Anfang des 17. Jahrhunderts zum Konkurrenten Hamburgs im Seehandel werden konnte.

Plausibler scheint es da, das hessische Bad Nauheim zu besuchen, eine Stadt, in der Alexander Blok und Fedor Dostojewski mehr als einmal weilten und die der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg allein deshalb entging, weil hier Franklin Delano Roosevelt ein paar Wochen zur Schule gegangen war. Auch Elvis Presley war hier, als gi. Das ist wesentlich bekannter, aber ich verspüre keinen Wunsch, das Hotel zu sehen, in dem er gewohnt hat. Mir reicht es, zwischen den immer noch prächtigen Badeanlagen herumzuschlendern, neben den dampfenden Heilwasserfontänen zu stehen oder die Stümpfe der riesigen Bäume zu zählen, die aus unerfindlichen Gründen vor kurzem im Park beim Kurhaus gefällt wurden.

Das beständige Gefühl von Unbehaglichkeit begleitet einen auf einer Reise mit vielen kurzen Stopps, es wird wohl durch die Notwendigkeit ausgelöst, gerade dann weiterzufahren, wenn man eine Stadt kennen gelernt hat. Städtchen in der Art von Eisenach oder Weimar sind besonders freundlich, weil dort alles hübsch beieinander liegt. Man muss nicht ständig in den Stadtplan starren und sich mit dem örtlichen Nahverkehr herumschlagen. In der Bach-Stadt Eisenach hat meine Reise begonnen, in der Goethe-Stadt Weimar endet sie.

Als erstes mache ich mich auf den Weg ins Schlossmuseum, und ich verspüre Erleichterung, weil ich nicht nur Neues, sondern schon Bekanntes zu sehen bekomme. Ich sehe Luther-Porträts von Lukas Cranach. Ähnliche Porträts habe ich am Anfang in Eisenach gesehen, andere Cranach-Bilder im Braunschweiger Anton-Ulrich-Museum, wo ich fast die einzige Besucherin war. Mit der gleichen Erleichterung betrachte ich eine Sammlung russischer Ikonen, lese die bekannten Toponyme und die Erklärungen zu den Grundlagen der orthodoxen Ikonenmalerei. Bekannt kommen mir auch die typisch mittelalterlichen thüringischen Madonnenfiguren vor mit ihren lebensfrohen, manchmal rotbackigen Gesichtern. Im Weimarer Schlossmuseum sind es deutlich weniger als im Predigerkloster Eisenach, aber das ist mir nicht wichtig, wichtig ist mir gerade nur, das bereits Bekannte wieder zu erkennen. Fast schon freudig betrachte ich die grünen Zelte auf dem Marktplatz, die es nur in Ostdeutschland gibt und in denen Bratwürste, Kochlöffel, Klobürsten und alles mögliche verkauft werden.

Euphorie auf der Wartburg

Oft erfasst mich auf der ersten und der letzten Station einer Reise grundlose Euphorie. Ich kann mich gut erinnern, dass ich mich wie ein Schneekönig gefreut habe, als ich in Eisenach am zweiten Tag endlich ein Internet-Café fand und man mir erlaubte, dort zu bleiben, solange ich eben bräuchte, obwohl eigentlich schon geschlossen war und ich den Münzautomaten beinahe zerstört hätte. Am nächsten Morgen wird meine totale Lustlosigkeit nach einem steilen Anstieg auf einem verschneiten Weg zur Wartburg von kindischer Freude abgelöst, als ich in der Unterhaltung mit dem Burghauptmann Günter Schuchardt erfahre, dass sich ein Teil der Militariakollektion der Wartburg sehr wahrscheinlich in Lemberg befindet.

Das liegt fast drei Wochen zurück. Nun sitze ich in Weimar auf einer Bank gegenüber dem Theater, in dem 1919 die Verfassung der Weimarer Republik verabschiedet wurde. Es ist Zeit, die Gastgeber aufzusuchen. Ich suche in meiner Tasche den Zettel mit den Adressen. Ich finde ihn nicht. Ich wühle den gesamten Inhalt meiner Tasche dreimal durch, bis mir einfällt, dass ich den Zettel wohl in Bad Nauheim vergessen habe. Ich versuche mich zu erinnern, wo genau ich hier untergekommen war, mir fallen aber nur Infofetzen über Kirche und Standesamt ein. Kein Strassenname, keine Hausnummer. Nach einer halben Stunde Sucherei fasse ich mir ein Herz und frage eine ältere Frau.

Und was nun zuerst? Die Kirche oder das Standesamt?fragt sie lachend.

Den Weg zeigt sie mir aber, und das ist er wieder, der Vorteil kleiner Städte. Das Haus finde ich dann sofort. Und wieder freue ich mich.

Während des Abschiedsspazierganges durch Weimar tritt mir vor Augen, was ich alles nicht gesehen habe, und während ich mich von Goethe und Schiller verabschiede, überlege ich, ob ich es noch ins Bauhaus schaffe. Aus meiner Gedankenverlorenheit scheucht mich schliesslich ein Bekannter aus Lemberg hoch, der Robert Musil übersetzt und hier in Weimar an einer Konferenz teilnimmt. Heute Abend fährt er auf eine weitere Konferenz nach Berlin. Die Berliner Konferenz setzt sich als thematischen Rahmen, eine neue Bestimmung Europas zu finden, ohne den alten Stereotypen von Ost und West aufzusitzen, den historischen und geografischen Missverständnissen, der Gleichsetzung von eu und Europa, was manche immer noch dazu verleitet, daran zu zweifeln, dass die Ukraine ein Teil Europas ist. Das zufällige Treffen in Weimar ist in dieser Hinsicht vielleicht symbolisch.

Die grösste Seifenblase der Welt

Das Unterfangen, das provinzielle Immenstadt mit dem provinziellen Bayreuth zu vergleichen, wäre wohl genauso vergeblich, wie das nichtprovinzielle Braunschweig dem nichtprovinziellen Giessen gegenüberzustellen, oder der Versuch, zehn Unterschiede zwischen dem Schillerhaus in Weimar und dem “Mathematikum” in Giessen herauszufinden. Vor allem ist es beruhigend festzustellen, dass es deutliche Unterschiede zwischen den Regionen gibt, wobei die Unterschiede zwischen “Ossis” und “Wessis” mir nicht sehr ins Auge gefallen sind. Eher haben sich mir die Ähnlichkeiten eingeprägt: Wenn man, egal wo, mit dem Stadtplan durch die Strassen irrt, bekommt man viel häufiger Auskunft, als man fragt. Je kleiner ein Gasthaus, desto freundlicher die Bedienung und, will mir scheinen, desto besser das Essen. Kein Gespräch mit Deutschen, in dem nicht die Arbeitslosigkeit, öffentliche Sparmassnahmen, die Teuerung und die Ergebnisse der letzten Wahlen Thema sind. Ich gewinne zunehmend den Eindruck, dass die Deutschen unendlich gerne sparen, auch die, die es gar nicht nötig haben.

Als ich an einem Samstag zuerst den “Allgäuer Anzeiger” lese und danach die “Süddeutsche Zeitung”, finde ich in beiden grössere Artikel über Prostituierte. Im einen geht es um eine Art versteckter Kamera, mit der man die Huren in einem Münchner Bordell überwacht, im anderen geht es um spezielle Container für Liebesdienste in Köln, wobei Sozialarbeiter nach dem Rechten sehen. Sowohl die versteckte Kamera als auch die Sozialarbeiter sollen die Prostituierten dazu anhalten, den Freiern Kondome zu verordnen. Vielleicht ist es eine Gepflogenheit deutscher Zeitungen, samstags über Prostituierte zu schreiben, vielleicht ist es aber nur ein Zufall. Sicher könnte man einmal darüber nachdenken, auf welche Art und Weise man sich an den verschiedenen Orten um die Gesundheit der Prostituierten sorgt und ob die Container humaner sind als die versteckte Kamera. Ich habe freilich nicht vor, hierbei regionale Unterschiede zu erforschen. Anders sieht es mit den kulinarischen Spezialitäten aus, hierbei kann ich ruhigen Gewissens versichern, das die Thüringer Bratwurst keinesfalls den bayrischen Würsten nachsteht. Solche Vergleiche liessen sich zu Dutzenden anstellen, doch sind sie eigentlich wertlos, und deshalb ist es schon besser, die Münzsammlung mit dem Konterfei Schillers anzuschauen oder im “Mathematikum” eine Seifenblase in Menschengrösse herzustellen. Und doch haben all die Gespräche, die ich im Laufe meiner Reise geführt habe, eines gemeinsam. Früher oder später wird Lemberg zum Thema, und der Grossteil meiner Gesprächspartner braucht dann ein bisschen Zeit für die geografische Einordnung.

Vgl. das Interview von Rebecca Casati mit F.X. Gernstl in du 757.

Published 19 June 2006
Original in German
Translated by Alexander Kratochvil
First published by du 5/2006

Contributed by Du © Natalka Sniadanko / du / Eurozine

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