Gründerzeitstadt 2.1

Ein Modell zur inneren Stadterweiterung als Beitrag zu einer kompakten grünen Stadt

Es sind die mitteleuropäischen Altstadtkerne und die ihnen zugezählten gründerzeitlichen Stadterweiterungen, die fest gefügten, infrastrukturell hervorragend erschlossenen gebauten Strukturen, denen aufgrund von Differenz und Vielfalt gemeinhin Urbanität zugesprochen wird. Sie stehen sinnbildlich für eine lebenswerte Stadt, in der man wohnen möchte.1 Die Suche nach geeigneten Wegen zur Eindämmung der fortschreitenden Zersiedelung der Landschaft und zu einem nachhaltigen Umgang mit knapper werdenden Ressourcen wirft nicht nur die Frage nach Möglichkeiten zur Nachverdichtung solcher zentral gelegener Stadtbereiche auf, sondern auch zur Schaffung eines zeitgemäßen innerstädtischen Wohnungsangebotes als Alternative zum Eigenheim im Grünen. Denn je zentraler und räumlich konzentrierter urbanes Leben innerhalb eines gewissen Rahmens stattfindet, desto kompakter und ökologischer kann Stadt werden. Das Gedankenmodell der Gründerzeitstadt 2.1 knüpft an diese Überlegungen an und beschäftigt sich am Beispiel Graz mit Nachverdichtungsmöglichkeiten innerhalb charakteristischer, Stadtraum bildender Blockrandbebauungen des 19. Jahrhunderts in kleineren und mittelgroßen Städten. “Gründerzeitstadt” versteht sich dabei nicht im Sinne eines historisierenden oder gesellschaftlichen Romantizismus sondern als urbane Bautypologie, die einen Typ Stadt umschreibt, der nach den Fehlentwicklungen des modernen Siedlungsbaus heute als Referenz für funktionierende Wohnquartiere herangezogen wird. 2.1 steht für eine buchstäbliche Überschreibung, eine zeitgemäße Weiterführung und Verbesserung dieser städtebaulichen Typologie durch Aufstockung auf eine Bebauungsdichte von rund 2,1. Das Mittel dazu ist eine rein architektonische Intervention, die sich die Charakteristik eines bewährten Stadtraums zunutze macht und durch Addition zeitgemäßer Bauvolumen die vorhandenen Qualitäten stärkt und zusätzlichen Wohnraum schafft.

Die zentrale Lage, der klar definierte, belebte öffentliche Raum mit durchmischt genutzten Erdgeschoßzonen zur Nahversorgung, die bauliche Trennung von öffentlich (Straßenseite) und privat (Hofseite), die ökonomische und kulturelle Produktivität und Diversität, Erlebnisdichte aber auch die soziale Vielschichtigkeit dieser Quartiere sind gemeinsam mit der räumlichen Nähe und Kompaktheit die Faktoren, die im urbanen Umfeld bei Menschen Akzeptanz für hohe Einwohnerdichte schaffen.2 Dadurch gelten die Stadterweiterungsgebiete des 19. Jahrhunderts, die sogenannten Gründerzeitstädte, ursprünglich Produkte aus Expansionsdruck, Rationalisierung und Profitmaximierung, heute weitgehend als lebenswerte, urbane Wohngebiete der europäischen Kernstädte, die als erhaltens- und sogar nachahmenswert erachtet werden. Aus der profitablen Ware “Zinshaus”, das nicht in erster Linie dem Wohnen, sondern als Kapitalanlage des Bürgertums der Einhebung von möglichst hohem Profit diente und daher nicht dem Individuum angepasst wurde sondern allen passen musste,3 sind erneut konkurrenzfähige Immobilien geworden. Der Zuschnitt der Wohnräume lässt heute, in Zeiten wesentlich geringerer Belegungsdichten, großzügiges Wohnen in unterschiedlichsten Nutzungsvariationen zu – eine nachgefragte Eigenschaft.

Dieser hohe Zuspruch gilt insbesondere auch in den Großstädten Berlin und Wien, die sich noch Anfang des 20. Jahrhunderts trotz großflächiger Stadterweiterungen als die Metropolen mit den fragwürdigsten Wohnverhältnissen und höchsten Belegungszahlen4 negativ hervorhoben. Heute symbolisieren gerade die Gründerzeitbezirke auf positive Weise die Lebendigkeit und Urbanität der beiden Hauptstädte5 und zählen zu den beliebtesten und schicksten Wohngebieten.6 Die hohe grundstücksbezogene Bebauungsdichte und die Enge in den Hinterhöfen stellen nach einer Reduktion der Belegungszahlen dafür kein Hindernis dar. Damit werden sie zu Referenzbeispielen hinsichtlich Urbanität, Dichte und Wohnzufriedenheit für Städte mit weniger verdichteten Blockrandbebauungen.

Folgt der Berliner Block mit seinen durchgehenden Traufhöhen und der inneren wie äußeren Einförmigkeit nach Typenkatalogen einem recht strengen Ordnungsschema,7 fällt das Erscheinungsbild in Wien mangels entsprechender Regulierung der Baulinien, Bauhöhen und Stockwerksanzahl8 weit weniger homogen aus. Auch der öffentliche Raum ist unterschiedlich geprägt – großzügig durch breite Straßen und Boulevards in Berlin, beengter in Wien. Hinsichtlich städtebaulicher Kennzahlen fällt der Vergleich dennoch sehr ähnlich aus: Quartiersbezogen lässt sich in Berlin eine bauliche Dichte von 2,46 im exemplarischen Block bei einem Bebauungsgrad von 0,48 ermitteln. Auf geringfügig höhere Werte kommt der Referenzblock in Wien (Bebauungsdichte 2,58, Bebauungsgrad 0,59). Rücksicht auf eine Gleichwertigkeit der Wohnsituation in Vorder- und Hintergebäuden wurde in beiden Städten nicht genommen (siehe Abb. 2).9 Im Vordergrund standen das Repräsentationsbedürfnis nach außen und wirtschaftliche Motive. Dachgeschoßausbauten existieren heute in beiden Städten, in Wien darf sogar bis zu den angrenzenden Traufhöhen aufgestockt werden, wodurch die Dichte noch zusätzlich erhöht wird. Darüber hinaus wurde und wird hofseitig aber eher moderat entkernt als nachverdichtet.

Konträr zu Berlin und Wien weisen die Grazer Blockrandbebauungen des Historismus zwar straßenseitig ähnliche, hofseitig aber völlig divergente Merkmale auf. Im Vergleich zu den Beispielen aus den Hauptstädten ist die Bebauungsdichte im Quartier mit 1,3 bei einem Bebauungsgrad von 0,4 für innerstädtische Verhältnisse niedrig, was sich heute, bei wenig dicht belegten Wohnungen negativ auf die gelebte Urbanität auswirkt und das Hauptargument für eine künftige Nachverdichtung liefert. In der bürgerlich geprägten Provinzstadt, deren Wachstumsdruck zwar vorhanden, mangels bedeutender Industrie aber nicht so explosiv wie in anderen Städten war, konnte man durch Beobachtung internationaler Entwicklungen und umsichtiges Handeln planvoller vorgehen.10 Zudem war die Bautätigkeit tatsächlich bürgerlich bestimmt, errichtete man die Häuser doch auch zur Deckung des eigenen Wohnbedarfs und orientierte sich an anderen Maßstäben als der gemeine Spekulant. Daraus resultierte ein Bekenntnis zu den Prinzipien des Biedermeier mit seinen Gärten11 und ein damit einhergehender Verzicht auf maximale Grundstücksausnutzung zugunsten einer besseren Lebensqualität. Man hielt sich straßenseitig an die gängigen gestalterischen Konventionen der Zeit. Durch die Aneinanderreihung stilistisch unterschiedlicher Fassaden mit ihren dominierenden, in annähernd gleicher Höhe umlaufenden Gesimsen schaffte man es, äußerlich Einheitlichkeit und Größe zu simulieren, auch wenn dieser monumentale Habitus letztlich Verpackung und formale Attitüde blieb.12 Der im Liberalismus geltenden These, dass Bäume in der Stadt nichts verloren hätten,13 konnte man in Graz aber nichts abgewinnen. So blieben die Innenhöfe der Grazer Blockrandbebauungen weitgehend unbebaut und beinhalten großteils auch heute noch private Gärten. Aktiv nutzbar sind diese Refugien aber meist nur für einige wenige, die ihr Privileg durch Zäune und Hecken zu schützen wissen. Die grundsätzliche Weitläufigkeit dieser Höfe gepaart mit den moderaten Gebäudehöhen schafft das Potential, welches ein zeitgemäßes Weiterbauen denkbar werden lässt. Das Konzept dazu fußt nicht nur auf der Annahme einer grundsätzlichen Notwendigkeit zur städtischen Nachverdichtung aus ökologischen und ökonomischen Motiven, sondern auf mehreren zusätzlichen Zielvorgaben. Neben einer Vermehrung und Diversifizierung des Wohnungsangebotes steht eine tatsächliche Quartiersverbesserung unter Schärfung der vorhandenen besonderen Qualitäten im Fokus. Denn wenn Urbanität zu einem nicht unmaßgeblichen Teil auf der Straße stattfindet, so ist hier ein Defizit zu orten. Obwohl räumlich durchaus Stadt gesehen und empfunden wird, scheint urbanes Leben nur eingeschränkt stattzufinden. Mag über das erste halbe Jahrhundert hinaus, bedingt durch eine wesentlich höhere Einwohnerzahl,14 die Erdgeschoßzone öffentlich und echte Urbanität gegeben gewesen sein, trifft dies nach über hundert Jahren nicht mehr zu. Der öffentliche Raum wird heute hauptsächlich von parkenden Autos beansprucht. Ein echtes Geschäfts- und Gassenleben mit vielfältigen Nahversorgungs- und Gastronomiefunktionen konzentriert sich an wenigen Punkten. Belebte Erdgeschoßzonen fördern das urbane Leben und umgekehrt, lassen sich aber nicht erzwingen, sondern können erst mit dem Erreichen bestimmter Dichteparameter existieren, die in den Grazer Quartieren nicht gegeben scheinen. Bevölkerungsdichte, Beschäftigtendichte und deren Ausgewogenheit spielen hierbei sicher eine gewichtigere Rolle als die bauliche Dichte,15 die in erster Linie auf quantitative räumliche Ausnutzung zielt, jedoch per se noch keinen Aufschluss über die Anwesenheit von agierenden Personen zu Tage und in der Nacht gibt. Dennoch gibt Dietmar Eberle nach eingehenden Vergleichen städtischer Quartiere als bauliche Minimaldichte für funktionierende Durchmischung und Fußläufigkeit einen Kennwert von 1,5 bis 1,6 an.16 Erst von da an könne Urbanität entstehen. Mit dem im exemplarischen Grazer Stadtausschnitt ermittelten Wert von 1,3 (siehe Abb. 2) erreicht man gerade die genannten Mindestwerte für die räumliche Ausbildung der öffentlichen und privaten Freibereiche. Und tatsächlich kann der öffentliche Raum trotz vergleichsweise niedriger Bebauung als klar definiert wahrgenommen werden. Nun mag durchaus Zweifel an einer Definition urbaner Qualitäten durch bloße Erfüllung von Dichtekennzahlen bestehen, dennoch bestätigen diese Zahlenspiele in der gegenständlichen Fragestellung das Offensichtliche, nämlich den Mangel an Belebtheit. Die Anhebung der Bevölkerungszahlen durch Ausweitung des Wohnungsangebotes stellt ein probates Mittel zur Verbesserung dieser Situation dar. Bisherige Versuche, einen Zuwachs an Wohnflächen zu erlangen, konzentrierten sich aufgrund gesetzlicher Einschränkungen auf die räumliche Ausreizung der vorhandenen Volumina, also die Erweiterung in Kellerwohnungen und die geschützte Dachlandschaft beeinträchtigende Einzelausbauten der Dachböden mit den bekannten räumlichen und bauphysikalischen Schwachstellen. Klammert man die derzeitige Gesetzeslage aus, so sind in den gut erhaltenen Gründerzeitquartieren durchaus quantitativ nennenswertere Flächen zur Nachverdichtung vorhanden: Zum einen die weitgehend leeren Höfe, zum anderen der Raum oberhalb der Trauflinien. Jedoch würde eine Verbauung der Innenhöfe mit dem privaten Grün nicht nur die spezielle Qualität der Grazer Blockrandbebauungen zerstören und hofseitig Enge erzeugen, sondern auch große konzentrierte Baumassen erfordern. Eine derartige horizontale Verdichtung verlangt bei minimalstem Gebäudeabstand in einem durchschnittlichen Block eine Höhe von 10 Geschoßen,17 um den Flächengewinn einer zweigeschoßigen Aufstockung höchster Wohnqualität zu erzielen (siehe Abb. 2).18 Nach qualitativen Gesichtspunkten fällt die Präferenz zugunsten der vertikalen Verdichtung hier eindeutig aus, denn die Beeinträchtigung des Umfeldes durch die Enge generierende Verbauung der Höfe kann nicht zumutbar sein. Dagegen birgt eine umlaufende, den gesamten Blockrand als singuläres Bauwerk umschließende Aufstockung auch gegenüber den bisher praktizierten parzellenweisen Dachbodenausbauten neben einigen Grundbedingungen auch eine Vielfalt an Vorzügen:

Bauen im Bestand als Nachhaltigkeitsstrategie kann immer nur unter Rücksichtnahme auf das Vorhandene, aber ohne Anbiederung an tradierte Bauformen oder Romantizismen gegenüber überkommenen Lebensweisen und Gesellschaftsformen erfolgreich sein. Die den gesamten Block als Ganzes umfassende Aufstockung von Blockrandbebauungen bedeutet unter dieser Voraussetzung also keinesfalls die Zerstörung des Vorhandenen, sondern eine effizientere Nutzung der vorhandenen Ressourcen sowie die respektvolle Sicherstellung des Weiterbestandes. Die vorhandene Bausubstanz wird konserviert, indem sie den beständigen Sockel für Neues bildet. Die Monumentalität des bestehenden Ensembles wird durch einen einheitlichen Aufbau noch zusätzlich unterstrichen, wohingegen einzelne Dachgeschoßausbauten oder parzellenweise Aufstockungen Inhomogenität erzeugen.

Nur die grundstücksübergreifende Betrachtung des Blocks lässt eine Loslösung von den Zwängen der kleinteiligen Strukturiertheit der Einzelbauten zu. Dies schafft planerische und gestalterische Freiheiten, gleichzeitig aber auch vielfältige ökonomische und ökologische Synergien, die bei einer parzellengebundenen Betrachtungsweise nicht gegeben sind. Aus kleinen Einzelbaulosen mit einigen wenigen Wohnungen werden Bauvorhaben in wirtschaftlich und siedlungsräumlich interessanten Größenordnungen. Die gut ausgebaute öffentliche Infrastruktur wird intensiver genutzt, ein weiterer flächiger Ausbau in das Umland überflüssig, Wartung und Reparatur wirtschaftlicher. Gebäudeintern bietet sich als Synergie die Möglichkeit, haustechnischen Investitionsrückstand großflächig zu beseitigen und die Bauten ökologisch auf den neuesten Stand zu bringen, was ein wertvoller Beitrag zur Luftverbesserung der ganzen Stadt wäre. Durch Anwendung höchster ökologischer und energetischer Standards im Neubau bietet die vertikale Nachverdichtung zudem die Chance zur Verbesserung der Gesamtenergiebilanz der Gebäude auch ohne thermische Sanierung der historischen Fassaden.

Die Befreiung aus dem engen baulichen Korsett zwischen Brandmauern und Stiegenhäusern ermöglicht eine echte Vielfalt an Wohnungstypen in der jetzigen Dachzone und damit eine sinnvolle Antwort auf die Frage nach einem diversifizierten innerstädtischen Wohnungsangebot bis hin zum Einfamilienhausersatz mit privatem Freibereich. Dadurch, dass nicht jedes bestehende Stiegenhaus zur Erschließung der Aufstockung hoch gezogen und mit einem Aufzug nachgerüstet werden muss, sondern erst die feuerpolizeilichen Vorschriften die Maximalabstände einer Vertikalerschließung vorgeben, ist diese Flexibilität bei der Grundrissgestaltung neben einer wesentlich höheren Nutzflächenausbeute erreichbar.

Die in den Innenhöfen gelegenen Gärten werden zum Nutzen aller direkt Anwohnenden vereint und geöffnet, denn höhere Dichten erfordern mehr Freiraum,19 nicht nur als Abstandsgrün, sondern zur kontemplativen Nutzung. Aus wenig zugänglichen, eingezäunten Privatgärten werden gemeinschaftlich genutzte Parks, Spielplätze, Sporteinrichtungen, Teiche und Gemüsegärten – Freizeitmöglichkeiten, die man mitten in der Stadt, im unmittelbaren Wohnumfeld sonst nur schwer findet.

Der Austausch der steilen Satteldächer durch Flachdächer ermöglicht zusätzlich zu den Innenhöfen Terrassen und Dachgärten, deren Nutzung sowohl individuell als auch gemeinschaftlich denkbar ist. Parzellenübergreifend zusammengeschlossen erlauben diese hochwertigen Aufenthalts- und Bewegungszonen nicht nur das Umschreiten des Blocks auf einer neuen Nutzebene, sondern damit einhergehend eine völlig neue Wahrnehmungsebene der Blockrandbebauung und ihrer Umgebung. Die alten Wellentäler der ziegelroten Steildächer werden durch eine neue differenzierte Dachlandschaft ersetzt, die nicht nur von oben gesehen das Stadtbild prägt, sondern auch begehbar und damit erlebbar ist.

Stellplätze für die jetzt den öffentlichen Raum beanspruchenden Kraftfahrzeuge können in ausreichender Zahl in gemeinsamen Tiefgaragen unter den Höfen geschaffen werden.20 Resultat ist eine Neudefinition des Straßenraumes, wodurch in manchen untergeordneten Gassen sogar völlige Autofreiheit denkbar wird. Der öffentliche Raum bietet mehr Platz für Menschen, die sich darin freier bewegen und interagieren können und damit neue Nutzungs- und Gestaltungsmöglichkeiten.

Die parzellenübergreifende Aufstockung der Blockrandbebauungen zeigt, dass Natur und Stadt auf engem Raum durchaus vereinbar sind. Die großzügigen freien Höfe, private Freibereiche und die neuen Dachlandschaften bieten Naturnähe und die Möglichkeit zur freien Naturgestaltung. Eine gute Ausgewogenheit zwischen privat und gemeinschaftlich nutzbaren Bereichen, die Beibehaltung der klaren räumlichen Trennung zwischen privat und öffentlich, höhere Bevölkerungszahlen und soziale Durchmischung sorgen für mannigfaltigen Interaktionsbedarf und durch Vielfalt auch für die entsprechenden Möglichkeiten sowohl zur Entfaltung geselliger Aktivitäten als auch für Privatheit und Anonymität. Die vergrößerte Bebauungsdichte führt nicht nur räumlich-visuell sondern auch aufgrund der höheren Bevölkerungsdichte mit all ihren Folgeerscheinungen zu belebteren öffentlichen Räumen und Erdgeschoßzonen und damit zu mehr Urbanität. Die Nahversorgung erfährt einen Aufschwung, wodurch die viel beschworene Stadt der kurzen Wege, die Bewältigbarkeit des Alltags ohne motorisierten Individualverkehr, Realität werden kann.

Der Wohnwert, der “sich gleichermaßen aus der Qualität der Wohnung selbst und der der Wohnumwelt zusammensetzt”, wobei Wohnumwelt alles ist, “was über die reine Utilität der Unterkunft hinausgeht- und zwar nicht als Luxus, sondern als Befriedigung elementarer Bedürfnisse”,21 steigt durch die Nachverdichtungsmaßnahmen.

Jede Aufstockung hat angepasst an die lokalen Möglichkeiten und Höhenstaffelungen stattzufinden, was bedeutet, dass die Lösung der Aufgabe nicht in einer singulären Typologie liegen kann. Nicht vermeidbare Beeinträchtigungen des Bestandes, wie die zunehmende straßenseitige Beschattung der Erdgeschoße, können durch Umorganisation von Nutzungen kompensiert werden. Auch ist klar festzuhalten, dass die Straßenbreiten keine beliebigen Gebäudehöhen zulassen. Nach bisherigen Berechnungen erweist sich aber für die vertikalen Nachverdichtungsmöglichkeiten im hoffreien Grazer Gründerzeitblock eine quartiersbezogene Bebauungsdichte von 2.0-2.1 als realistisch. Das bedeutet zusätzlichen Wohnraum für rund 500 Personen auf über 21.000m² Nettonutzfläche im exemplarischen Quartier oder zirka 145 EinwohnerInnen mehr pro Hektar22 (siehe Bild 2) mit allen zu erwartenden Belebungseffekten für das urbane Zusammenspiel. Dehnt man das Modell auf alle in Frage kommenden Stadtquartiere aus, erweitert sich das Potential auf tausende neue Wohnungen und damit quantitativ in den Bereich einer echten Stadterweiterung, ohne dafür Grünraumreserven antasten zu müssen und neue Infrastruktur erforderlich zu machen.

Aus gestalterischer Sicht bietet die blockumfassende Aufstockung eine Möglichkeit, der geschlossenen Blockrandbebauung des Historismus formal gerecht zu werden. Das Ensemble Block wird in seiner Monumentalität als architektonische Einheit betrachtet und behandelt. Anstatt durch einzelne Dachausbauten oder Penthausaufbauten Kleinteiligkeit und Inhomogenität hervorzukehren, umspannt man den Kranz der Gebäude und hebt so die Monumentalwirkung. Dadurch folgt man mittels einer zeitgemäßen Interpretation der Grundintention des frühen Historismus nach Herstellung eines einheitlichen Erscheinungsbildes.23 Dem Opfer der bereits beeinträchtigten Dachlandschaft steht eine neue Dachlandschaft gegenüber – grün, begehbar, benutzbar. Am Erscheinungsbild von unten ändert sich hingegen nur wenig, da der Bestand bis zur Traufe nahezu unangetastet bleibt. Eine im Schnitt zweigeschoßige Aufstockung beschränkt sich höhenmäßig etwa auf den Bereich der jetzigen Dächer, also zwischen Trauflinie und First, bringt aber wesentlich mehr verwertbares Volumen und Nutzungsvielfalt hervor als ein konventioneller Dachbodenausbau.

Durch die gezielte blockumspannende Anhebung der quantitativen Dichten – konkret Bebauungsdichte und damit einhergehend auch Einwohnerdichte – können nicht nur hochwertiger zusätzlicher Wohnraum, sondern auch die urbanen Qualitäten der Quartiere insgesamt gesteigert werden. Dies kann nicht nach Laissez-Faire-Prinzipien erfolgen, sondern nur nach klaren, auf die lokale Situation abgestimmten Qualitätskriterien und Baurichtlinien. Unter dieser Voraussetzung lässt sich die Gründerzeitstadt 2.1, das Prinzip der vertikalen Verdichtung, unbebaute Höfe vorausgesetzt, auf jede Art von Blockrandbebauung ausweiten und von einer lokalen Vision zu einer Teiletappe auf dem Weg zur kompakten grünen Stadt machen. Die im laufenden Dichtediskurs wenig beachteten kleinen und mittleren Städte mit Wachstumsdruck können so, durch die nennenswerte Nachverdichtung zentraler Stadtbereiche mit rein architektonischen Mitteln, innerhalb der bestehenden Grenzen wachsen, weitere Zersiedelung verhindern helfen und damit nachhaltiger und zu echten “Dense Cities” werden.

Vgl. Vittorio Magnago Lampugnani: "Die Architektur der städtischen Dichte", in: Vittorio Magnago Lampugnani/Thomas K. Keller/Benjamin Buser (Hg.): Städtische Dichte, Zürich 2007, S. 11-18, hier S. 14.

Vgl. Hartmut Häussermann: "Phänomenologie und Struktur städtischer Dichte", in: Vittorio Magnago Lampugnani/Thomas K. Keller/Benjamin Buser (Hg.): Städtische Dichte, Zürich 2007, S. 19-30, hier S. 28.

Vgl. Joseph Stübben: Der Städtebau, Reprint der 1. Auflage von 1890, Braunschweig/Wiesbaden 1980, S. 16.

Einwohner pro Gebäude 1860 (1890): London 10 (7), Paris 35 (36), Berlin 45 (63), Wien 55 (63), Wien Alsergrund bis 69, Wien Hungelbrunn 149, Quellen: Rudolf Eitelberger/Heinrich Ferstel: Das bürgerliche Wohnhaus und das Wiener Zinshaus. Ein Vorschlag aus Anlaß der Erweiterung der inneren Stadt Wien's, Wien 1860, S. 25-26; Stübben: Der Städtebau, S. 16 (wie Anm. 3).

Vgl. Tobias Wiethoff: "Berlin: Der lässig-ironische Schick von Prenzlauer Berg" (2004), Online unter: http://www.spiegel.de/reise/staedte/0,1518,287345,00.html (Stand 12.08.2011)

Vgl. Karl Ucakar/Stefan Gschiegl: Wiener Lebensqualitätsstudien. Forschungsprojekt sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung für Wien 2008. Zusammenfassender Bericht, Wien 2009.

Vgl. Stübben: Der Städtebau, S. 19 (wie Anm. 3).

Vgl. Heinrich Goldemund: "Die bauliche Entwicklung und Stadtregulierung", in: Theodor Weyl (Hg.): Die Assanierung von Wien, Leipzig 1902, S. 102-128.

Vgl. Reinhard Baumeister: Stadt-Erweiterungen in technischer baupolizeilicher und wirthschaftlicher Beziehung, Berlin 1876, Online unter: http://www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/D_A_T_A/Architektur/20.Jhdt/Baumeister/Baumeister.htm, (Stand: 02.09.2009), S. 217.

Vgl. Wilhelm Steinböck (Hg.): Stadterweiterung von Graz. 1850-1914. Gründerzeit, Graz 1979, S. 7.

Vgl. Sokratis Dimitriou: "Die Grazer Stadtentwicklung 1850 bis 1914", in: Wilhelm Steinböck (Hg.): Stadterweiterung von Graz. 1850-1914. Gründerzeit, Graz 1979, S. 8-37, hier S. 27.

Vgl. Stübben: Der Städtebau, S. 15 (wie Anm. 3); Eitelberger/Ferstel: Das bürgerliche Wohnhaus und das Wiener Zinshaus, S. 18 (wie Anm. 4).

Vgl. Baumeister: Stadt-Erweiterungen, S. 126-128 (wie Anm. 9).

Stadtbezirk St. Leonhard 1923: 22.186 Anwesende in 1.006 Gebäuden, 2011: 17.777 Anwesende in 1.568 Gebäuden; Quellen: Alexander Tornquist: "Die Stadt Graz als Wohnstätte", in: Stadtgemeinde Graz (Hg.): Die Stadt Graz. Ihre kulturelle, bauliche, soziale und wirtschaftliche Entwicklung in den letzten sechzig Jahren nebst kurzen geschichtlichen Rückblicken, Graz 1928, S. 43-62, hier S. 60.; Magistrat Graz, Präsidialabteilung (Hg.): Graz in Zahlen 2011, Online unter: http://www1.graz.at/statistik/Graz_in_Zahlen/GIZ_2011.pdf (Stand 10.8.2011)

Vgl. Häussermann: Phänomenologie und Struktur städtischer Dichte, S. 25 (wie Anm. 2).

Dietmar Eberle: "Dichte." Vortrag Dense Cities Conference, Graz 2011, Online unter: http://www.densecities.org (Stand 12.8.2011)

Die Hofgrundfläche im exemplarischen Grazer Block beträgt rd. 83 x 36 m, die Gebäudegrundfläche rd. 60 x 13m, der Gebäudeabstand rd. 11,5m.

So die Ergebnisse der Lehrveranstaltung Entwerfen 5 am Institut für Gebäudelehre der TU Graz, 2008.

Vgl. Thomas K. Keller: "Das Kriterium der Dichte im Städtebau", in: Vittorio Magnago Lampugnani/Thomas K. Keller/Benjamin Buser (Hg.): Städtische Dichte, Zürich 2007, S. 39-48, hier S. 44.

Eine mehrgeschoßige Garage in ca. jedem zweiten Block schafft Raum für einen PKW pro Wohnung in Bestand und Aufstockung.

Kurt Freisitzer/Harry Glück: Sozialer Wohnbau. Entstehung - Zustand - Alternativen, Wien 1979, S. 59.

Auswertung von Bebauungsvorschlägen aus der Lehrveranstaltung Entwerfen 5 am Institut für Gebäudelehre der TU Graz, 2008; Annahme: 42m² NNF pP.

Vgl. Wiltraud Resch: "Die erste städtebauliche Erweiterung von Graz bis zum Höhepunkt der Gründerzeit ab der Mitte des 19. Jahrhunderts", in: Stadt Graz (Hg.): Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, Bd. 29/30, Graz 2000, S. 243-271, hier S. 266.

Published 18 April 2012
Original in German
First published by GAM 8 (2012) (German and English versions)

Contributed by GAM © Ida Pirstinger / GAM / Eurozine

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Read in: EN / DE

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