‘Freude schöner Götterfunken’ oder der Beginn einer Ad-hoc-Transformation

Es gibt Momente der Geschichte, Stefan Zweig nennt sie “Sternstunden”, für die jeder Mensch in einem bestimmten sprachlichen und medialen Zusammenhang genau angeben kann, was er in diesem Augenblick getan hat. Der 3. Oktober 1990 gehört für einen Deutschen, der sagen wir vor 1980 geboren ist, zweifelsohne dazu.

Jeder Deutsche weiß aus eigenem Erleben, aus dem Geschichtsunterricht oder den Erzählungen der Eltern, was an diesem Tag geschehen ist. Einige mögen sich gern an diesen Tag erinnern, andere wiederum blicken wehmütig zurück, andere sehen diesen Tag mit großer Skepsis. Es gibt innerhalb Deutschlands eine starke Trennlinie, die mit dem Erleben dieses Tages in Verbindung steht und die geographisch ziemlich genau mit der ehemaligen Grenze zwischen der DDR und der BRD übereinstimmt.

Während die Bewohner der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland die “Wiedervereinigung” eher distanziert betrachten, und zunächst ohne Auswirkung auf ihr tägliches Leben beobachten konnten, bedeutete es für die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik einen tiefen Einschnitt in ihre bisherige Biographie. Rein äußerlich waren nun alle Bürger eines neuen Landes. Während sich für die einen jedoch faktisch nichts verändert hatte, begann für die anderen ein völlig neues Leben, weil die Veränderung radikal war und alle Lebensbereiche betraf.

Soziologen und Psychologen vergleichen die Folgen dieser Veränderung heute mit denjenigen, die Menschen in Kauf nehmen, wenn sie in ein anderes Land emigrieren und dort im Exil leben. Es gibt dabei aber einen entscheidenden Unterschied: Während typische Emigranten jederzeit, mit Ausnahme politisch oder juristisch Verfolgter, sei es auch nur theoretisch, jederzeit in ihr Heimatland zurückkehren können, ist das für die Bewohner der ehemaligen DDR unmöglich. Das Land, das sie auf der Grundlage eines Volkskammerbeschlusses aufgegeben haben, existiert nämlich nicht mehr. So fühlen sich viele Menschen nach dem 3. Oktober 1990, ohne dass sie ihren Wohnort verlassen hätten, plötzlich ohne Heimat und ohne Wurzeln.

Für Millionen Bewohner der ehemaligen DDR bedeutete dieser 3. Oktober 1990 darüber hinaus einen Wechsel des Arbeitsplatzes, häufig auch einen Wohnortwechsel. Zu diesen rein äußerlichen Umstellungen, die notwendig geworden waren, kam etwas, das man mit einem erzwungenen Mentalitätswandel beschreiben könnte. Die Bewohner der DDR waren daran gewöhnt, über ihr Schicksal nur bedingt entscheiden zu können. Alle, auch persönlichkeitsbestimmende Entscheidungen wie Studien- oder Berufswahl, konnten fast immer nur in einer direkten Nutzenbestimmung für die DDR-Volkswirtschaft, das Bildungswesen etc. erfolgen. Für so ziemlich alles – Wohnungen, Autos, Elektrogeräte usw. – gab es Verteilungsschlüssel, und der Bezug der begehrten Waren war lediglich durch den Aufbau persönlicher Netzwerke zu beschleunigen. Freie Abstimmungen bei Wahlen waren bis vor kurzem unbekannt und über 90 % der DDR-Bürger übten ihr Wahlrecht am 18. März 1990 zum ersten Mal frei aus.

Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung hatte sich daran gewöhnt, die politische Meinung für sich zu behalten, und wenn, dann nur im engen Rahmen eines überschaubaren Verwandten- oder Bekanntenkreises kundzutun. Das Sprechen zweier Sprachen, einer “politisch richtigen” und einer völlig anderen, der Realität angemesseneren, war den Menschen in Fleisch und Blut übergegangen und nur wenige überschritten die innere Grenze, sei es in Momenten großer Wut, im Rausch oder in der Absicht der Provokation eines empfindlichen reagierenden Staatssicherheitsapparates.

All dies bedeutete eine de facto-Entmündigung, die an sich aber keine solche war, denn die Menschen waren nach dem Verständnis westlicher Demokratie nicht “mündig”. Das politische Verständnis der Mehrheit der DDR-Bevölkerung hatte sich entwickelt als ein Mischwesen aus real-sozialistischer DDR-Propaganda und den Nachrichtensendungen der bundesdeutschen Medien, die fast überall zu empfangen waren und auch regelmäßig von einer schweigenden Mehrheit konsumiert wurden. Im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Ländern waren daher die meisten Menschen in der DDR permanent über das Leben im Westen und politische Veränderungen im Osten Europas informiert.

Nach dem 3. Oktober 1990 und erfolgter Vereinigung der beiden deutschen Staaten kam es zu einem enormen Anpassungsdruck, dem die ehemaligen DDR-Bürger ausgesetzt und dem naturgemäß die Jüngeren leichter gewachsen waren. Auf allen Ebenen der Planung, Verwaltung und Justiz war eine große Ratlosigkeit zu spüren, die häufig nur dadurch überwunden werden konnte, dass ein Vertreter aus dem Westen Deutschlands den unerfahrenen Neubundesdeutschen zeigte, wie das System funktionierte. Die Ostdeutschen wurden im großen Stil zu kindlichen Schülern degradiert, die Westdeutschen nahmen wie selbstverständlich die angenehmere Rolle des Lehrers ein. Der gesamte Prozess der Anpassung an neue, häufig effektivere Produktions- und Verwaltungsabläufe erfolgte in einem rasanten Tempo, welches dazu führte, dass die erlernten Gewohnheiten, Grundsätze und Glaubensartikel zunächst vollständig über Bord geworfen werden mussten. Ein wie auch immer geartetes Selbstbewusstsein, welches aus Kenntnis der Umwelt und der in ihr zu befolgenden Prozesse entsteht, war einer generellen Unsicherheit gewichen, die erst Stück für Stück wieder zu einem, nun veränderten Selbstbewusstsein führen konnte. Es gibt keine qualifizierbare Messung, ab welchem Zeitpunkt die Bürger der vormaligen DDR tatsächlich zu Bürgern der neuen Bundesrepublik geworden waren. Spricht man aber mit Hinblick auf die ehemaligen Ostblockländer von einem Transformationsprozess, so wäre hinsichtlich der DDR von einer “Ad-hoc-Transformation” zu sprechen.

All dies wurde begleitet von einem nahezu vollständigen Elitenwandel, der ebenfalls mit Hinblick auf die anderen Ostblockländer eine einmalige Ausnahme bildet. Waren in anderen Ländern die Eliten ebenfalls der Transformation unterworfen und schwangen sich nicht selten zu Führern des Transformationsprozesses auf, so gilt dies nicht für die ehemalige DDR. Durch das Vorhandensein eines großen Reservoirs an westdeutschen Nachwuchswissenschaftlern, Verwaltungskräften, Politikern usw., die nun problemlos die Stellen der durch die Arbeit der Gauck- bzw. Birthler-Behörde enttarnten offiziellen und inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter, ehemaliger SED-Funktionäre oder anderer mit dem Staats- und Parteiapparat verbundener Personen einnehmen konnten, kam es, anders als nach 1945, im Gebiet der fünf neuen Bundesländer zu einem fast vollständigen Bruch mit der bisherigen Tradition. Das hatte erhebliche Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen, die sich nun in entscheidenden Bereichen einer direkten Vormundschaft von Westdeutschen gegenübersahen, die für sie immer Vertreter der alten Bundesrepublik waren. Viele Bürger der ehemaligen DDR reagierten mit einer instinktiven Ablehnung, vor allem dann, wenn der neue Besitzer ihrer Wohnung, ihr neuer Arbeitgeber oder der neue Verwaltungsangestellte auf der Behörde ein Westdeutscher war. Eine Art “Kulturkampf” brach aus, wenn westdeutsche Nachwuchswissenschaftler oder bisher ohne Stellung gebliebene ältere westdeutsche Wissenschaftler an ostdeutschen Universitäten ihre Ressentiments und stereotype Einstellungen gegenüber Ostdeutschen öffentlich bekundeten.

Von einer Angleichung zweier Lebenserfahrungen aneinander konnte keine Rede sein, vielmehr fand eine Unterordnung der einen unter die vermeintlich erfolgreichere und daher “richtige” statt. Alles, was bisher DDR war, wurde nun still und heimlich auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen – Erinnerungen, Erfahrungen, Lebensmuster, Gewohnheiten und sogar materielle Güter wurden einer vollständigen Neubewertung unterworfen. Dieser Vorgang war für alle Beteiligten häufig sehr schmerzhaft und die gesellschaftliche Anerkennung, die für so viele Menschen in der DDR bisher ganz selbstverständlich war, blieb nun dauerhaft aus.

Heute, nach zwanzig Jahren, blicken die Menschen zurück und viele spüren, dass die Verbesserung des materiellen Wohlstandes, die sich zweifelsohne für fast alle eingestellt hat, nicht immer gleichbedeutend mit der Steigerung des Zufriedenheitsgrades ist, denn als äußerst egalitärer Staat erfüllte die DDR die psychosozialen Bedingungen für das Glücklichsein seiner Bewohner in entscheidenden Punkten besser, als es das bundesdeutsche Wirtschafts- und Sozialsystem in seiner gegenwärtigen Ausprägung zu leisten imstande ist.

Laut Umfrage eines renommierten Meinungsforschungsinstitutes vom März 2010 können sich 72% der Westdeutschen und 80% der Ostdeutschen unter den Bedingungen eines sicheren Arbeitsplatzes und gegenseitiger Solidarität vorstellen, im Sozialismus zu leben. Rund ein Viertel aller Befragten (23% im Osten und 24% im Westen) würden es begrüßen, wenn die Mauer wieder aufgebaut würde. Nur 28% der Ostdeutschen und 42% der Westdeutschen bezeichneten Freiheit als wichtiges politisches Ziel. Daran wird zweierlei deutlich: 1. Fast ein Viertel der Deutschen fühlt sich als Verlierer der Wiedervereinigung 2. Die Wahrnehmung des Sozialismus hat sich zwanzig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges stark verändert. Selbst für Westdeutsche stellt er kein Schreckgespenst, sondern ein unter bestimmten Bedingungen durchaus erstrebenswertes Gegenmodell zur gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Lebensform dar.

Am Abend des 3. Oktober 1990 stand mir der Sinn nicht nach Feiern. Auf dem Plattenteller lag Beethovens 9. Symphonie. Ich stellte den Ton des Fernsehers leise und lauschte der Musik. Es ist der Klang dieser Komposition – das leise Anschwellen, die Euphorie und das Vergehen – die ich mit dem 3. Oktober 1990 verbinde. Alles was danach kam, drückt diese Symphonie für mich aus.

Published 12 January 2011
Original in German
First published by Magyar Lettre Internationale 78 (2010) (Hungarian version)

© Andreas Korpás / Magyar Lettre Internationale / Eurozine

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