Estnische Erinnerungsorte: Die Schlacht von Wenden gegen die Baltische Landeswehr im Juni 1919 als Höhepunkt der nationalen Geschichte

“Auf den Feldern von Cesis und an den Ufern der Gauja, dort, wo schon unsere Vorväter ihre schicksalsträchtigen Kämpfe mit den Kreuzrittern und ihren Helfershelfern ausgefochten haben, schlugen wir unseren historischen Feind endgültig.”

(I Võidupüha mälestus. Jaanikuu 1934
[Zur Erinnerung an das I. Siegesfest],
Tallinn 1934, S. 3)

Estlands Geschichte im “kurzen” zwanzigsten Jahrhundert ist von drei Ereignissen geprägt worden: Der Erklärung der nationalen Unabhängigkeit im Februar 1918, dem Beginn der sowjetischen Okkupation im Juni 1940 und der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im August 1991. Die Erinnerung an die Zeit der Selbständigkeit konnte auch in der Sowjetunion nicht verblassen und gab dem Staat nach ihrem Ende Orientierung. Doch je mehr der Schatten der unmittelbaren Vergangenheit verblasst, desto weniger vermag das idealisierte Vorbild der Estnischen Republik in der Zwischenkriegszeit das estnische Geschichtsbewusstsein noch zu dominieren. Die Entwicklung des kleinen Staates am Rande der Ostsee vor allem in den 1930er Jahren kann zwar mit einer bis heute als vorbildlich geltenden Minderheitengesetzgebung aufwarten, doch bietet sie auch einen Systemwandel von einer Radikaldemokratie zum autoritären Regime: den Staatsstreich des ersten Ministerpräsidenten des Landes, Konstantin Päts, und des Oberkommandierenden der estnischen Armee im Unabhängigkeitskrieg, General Johan Laidoner, im März 1934. Dieser Beitrag will nicht die Geschichte dieses Putsches nachzeichnen1, sondern dessen Konsequenzen für die estnische Geschichtspolitik untersuchen. Somit geht es um die Bedeutung des Unabhängigkeitskriegs für das sich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre – staatlich forciert – formierende historische Gedächtnis Estlands.

Am 23. Juni 1934 beging der Freistaat Estland sein “Siegesfest” (Võidupüha) zum ersten Mal. Dieser war den Ereignissen im Juni 1919 gewidmet, als die junge estnische Armee im Rahmen des Estnischen Unabhängigkeitskriegs die aus deutschbaltischen Freiwilligen bestehende Baltische Landeswehr bei C_sis (Wenden) schlug. Jene Schlacht auf lettischem Boden kann zwar nicht als militärisch entscheidende Auseinandersetzung in diesem Krieg gelten, denn diese Ehre gebührt den Kämpfen an der Narva-Linie im Osten des Landes gegen die Rote Armee im Dezember 1919. Erst sie führten zum Frieden von Tartu (Dorpat) im Februar 1920, in dem das von Lenin geführte Sowjet-Russland, wie es hieß, ein für alle Mal auf das Gebiet Estlands verzichtete. Allerdings besiegten die Esten mit der Landeswehr eine militärische Einheit, die symbolisch auf die Macht des deutschbaltischen Adels verwies, der sogenannten “Baltischen Barone”, die seit der Christianisierung und Kolonisierung durch den Deutschen Orden im 13. Jahrhundert das Land faktisch beherrscht hatten. Die gut 200 Jahre währende Zugehörigkeit Estlands zum Russischen Reich (1710-1918) hatte – im Gegensatz zu den 50 Jahren unter sowjetischer Okkupation – keineswegs ein vergleichbares Feindbild des Russen entstehen lassen. Der “Herr” (estn. saks) war im Estnischen auch etymologisch der Deutsche (estn.: sakslane) geblieben.

Das erste Halbjahr 1934 war eine Zeit der nationalen Festtage in Estland, in der die Rhetorik der kommenden Jahre unter dem autoritären Regime bereits ausprobiert wurde. Die runden Geburtstage der beiden Helden des Unabhängigkeitskrieges, General Johan Laidoner (50) und Konstantin Päts (60), motivierten die Presse im Februar zu wahren Begeisterungsstürmen. Beiden wurde außerdem ein staatlicher Festakt im Saal des prächtigen “Estonia”-Theaters in Tallinn (Reval) gewidmet. Der Akt für General Laidoner wurde nach Meinung des “Päewaleht” (Tagesblatt, 14.2.34) zu einer “vaterländischen Kundgebung”, und die Feierlichkeiten für den ersten Premierminister Päts am 23. Februar stellten sogar den 16. Geburtstag der Republik am Tag darauf in den Schatten. All dies nahm den Personenkult um den autoritär herrschenden Präsidenten der folgenden Jahre bereits vorweg, es war eine Art propagandistisches Präludium des 12. März 1934, des Tages, an dem Päts den Ausnahmezustand verkündete und als regierender Staatsältester mit General Laidoner an seiner Seite die Macht übernahm.

Der Juni 1934 schließlich begann mit einer Orgie in blau-schwarz-weiß, mit den Feierlichkeiten zum 50. Jubiläum der estnischen Fahne. Wenig überraschend wurden sie ebenfalls zu “einer großen vaterländischen Kundgebung” (Päewaleht, 5.6.34). Noch weniger wundert es, dass wie schon vor ihrem Staatsstreich vom 12. März, auch hier wieder Päts und Laidoner die wichtigsten Protagonisten waren. Der Festkalender bot ihnen willkommene Gelegenheiten zur Präsentation ihres Patriotismus.

Die Kontinuität in der öffentlichen Betonung des Nationalen zeigt sich auch bei der Inanspruchnahme eigentlich unpolitischer Veranstaltungen. Wie die Presse bereits Ende Januar angekündigt hatte, wurden die ersten “Estnischen Spiele” (Eesti mängud) vom 15. bis 17. Juni unter der Schirmherrschaft von Päts zu einer “ersten derartigen nationalen Veranstaltung in Estland”. Unter den hier präsentierten Sportarten befanden sich nicht nur Leichtathletik, Tennis oder Fußball, sondern auch Ringen, der estnische Nationalsport, sowie die allseits beliebten Volkstänze. Zum kulturellen Rahmenprogramm gehörte ein vom Dichter Henrik Visnapuu geschriebenes Massenspiel, das für das “Päewaleht” ein Beweis dafür war, wie die Esten “von Jahr zu Jahr immer mehr und mehr zu einem Volk mit Geschichte” würden, denn der Dichter zeige, “dass wir einst ein mächtiger Faktor an den Gestaden der Ostsee” gewesen seien” (17.6.34) – ein Hinweis auf estnische Seeräuber, die am Ende des 12. Jahrhunderts den Vorläufer Stockholms, den Handelspunkt Sigtuna gebrandschatzt hatten. Eine Woche später erinnerte das erwähnte erste Siegesfest schließlich daran, dass die Esten einst ihre Freiheit gegen die deutschen Ritter verloren hatten und erst im Juni 1919 durch den Sieg gegen die Baltische Landeswehr wieder Herr im eigenen Hause geworden waren. So schließt sich der historische Kreis.

Doch schauen wir uns zunächst einmal an, mit welchen Begründungen das Siegesfest im Januar/Februar 1934, also bereits vor dem Staatsstreich Gesetz wurde, und auf welche konkreten historischen Ereignisse es sich berief. Hierbei werden uns weniger die militärischen Einzelheiten der Schlacht bei Wenden interessieren, sondern mehr die mythenträchtige Stimmung an der estnischen Heimatfront.

DIE EINFÜHRUNG DES SIEGESFESTS

Wie so oft in der Geschichte ging es bei der Einführung des 23. Juni als staatlicher Feiertag nur um das Wetter. Zwar war dieser Tag, als die Abgeordneten des estnischen Parlaments (Riigikogu) im Januar und Februar 1934 über die Veränderung des Gesetzes über die Feiertage von 1922 debattierten, aufgrund seiner historischen Bedeutung unumstritten: “Das bestreitet ja keiner”, wie auch der Sozialist August Sirro betonte. Wichtig war ihm aber in erster Linie, dass im Sommer noch ein weiterer Feiertag dazukäme, um es den Stadtbewohnern und “in erster Linie den Fabrikarbeitern zu ermöglichen, frische Luft zu atmen.” Mit dieser Meinung stand Sirro nicht allein. Selbst für Jaan Soots, den Stabschef von Oberbefehlshaber Johan Laidoner im Unabhängigkeitskrieg, der 1934 die Interessen der Bauern vertrat, war in dieser Debatte vor allem die Jahreszeit wichtig, in die der neue Feiertag fallen sollte: “Die Saat ist dann schon vorbei”, erklärte er seinen Abgeordnetenkollegen. Daher könne auch der Bauer sich diesen freien Tag gönnen.

Hält man sich vor Augen, wie sehr das Siegesfest vom Regime Päts bis 1939 zur Selbstinszenierung genutzt wurde, kommt man angesichts dieser Debatte aus dem Staunen nicht heraus. In den drei Lesungen des neuen Gesetzes ging es keineswegs um die inhaltliche Gestaltung dieses neuen Feiertags, was umso mehr überrascht, als das Thema “Unabhängigkeitskrieg” seit einigen Jahren durch die populistisch agierende außerparlamentarische Opposition der sogenannten “Vapsid” von staatspolitischer Bedeutung war. Bei dieser Bewegung handelte es sich um einen zunächst unpolitisch auftretenden Interessensverband der Soldaten des Unabhängigkeitskrieges (estn. Vabadussõjalaste liit), der in den Jahren der Weltwirtschaftskrise, die auch Estland ergriffen hatte, zu einem Sammelbecken des Protestes am radikaldemokratischen System erwuchs. Sie veranstalteten uniformierte Umzüge, bei denen die faschistische Symbolik finnischer, italienischer und deutscher paramilitärischer Verbände deutlich zu sehen war, und propagierten die Losung “Ordnung ins Haus”.2 Der “Freiheitskämpferverband” erlangte seinen größten Triumph im Herbst 1933 in einem Referendum, bei dem sich die Bevölkerung für die Einführung einer von den “Vapsid” entworfenen Verfassung aussprach, die anstelle des nur als pares inter pares agierenden Staatsältesten einen mir allen Befugnissen ausgestatteten Präsidenten vorsah. Da nach der alten Verfassung von 1920 das Ergebnis des Referendums für die Regierung bindend war, musste der amtierende Staatsälteste Päts sie im Januar 1934 einführen. Letzterer machte sich allerdings unmittelbar vor der nun zwingend vorgeschriebenen Präsidentenwahl genau die Vollmachten zunutze, die ihm die neue Verfassung gab, indem er den Ausnahmezustand erklärte und den Verband verbot. Die Auflösung des Parlaments hingegen konnte nicht einmal nach den Paragraphen der neuen Verfassung legitimiert werden. Als Begründung für seinen Staatsstreich, der von Laidoner unterstützt wurde, verwies Päts auf die seiner Ansicht nach unmittelbar bevorstehende gewaltsame Machtergreifung der Vapsid.

Bei der Einführung des Feiertags zu Ehren des Sieges gegen die Landeswehr ging es vor diesem nicht ganz undramatischen Hintergrund z. B. um die Fragen, ob der Reformationstag das feiertagslose 2. Halbjahr des Jahres erträglicher gestalten sollte, ob das seit 1922 “Sommerfest” (suvistepühad) genannte Pfingstfest (nelipühad) seinen alten Namen wiedererhalten sollte und ob es zwei oder drei Tage dauern sollte. Gegen letzteres sprachen sich beide Bauernparteien aus, da der Bauer zu dieser Zeit meist noch arbeiten müsse. Außerdem würden diese Tage nach Ansicht Karl Tamms von der Bauernpartei ohnehin nur zum “Faulenzen und Trinken” genutzt. Soots brachte es schließlich auf den Punkt: “Dieser Feiertag (23.6.; K.B.) kompensiert den dritten Pfingsttag”, das tröste doch sicher auch die Wähler der Sozialisten. Denn zusätzlich wurde auch der halbe 22. Juni zum Feiertag erklärt – und Bauern- und Arbeitervertreter waren dank der Erholungsmöglichkeiten, die das neue Fest ihrer Klientel bot, versöhnt3. Schließlich war das traditionell wichtigste estnische Fest, der Johannitag am 24. Juni, ohnehin schon staatlicher Feiertag. Nicht auszudenken, wenn Laidoner die Landeswehr eine Woche früher besiegt hätte! Er hatte seine Sache wirklich gut gemacht.

Doch lassen wir die Ironie. Wenige Tage nach der Veröffentlichung des neuen Gesetzes im Staatsanzeiger (Riigi Teataja) stand Laidoner gemeinsam mit Päts bereit zum Staatsstreich. Die neue Macht im Lande sorgte in der Zukunft dafür, dass der 23. Juni keineswegs zum “Faulenzen und Trinken” genutzt, sondern zu einem Tag wurde, an dem sich Geschichte, Gegenwart und Zukunft Estlands ideell vereinigen sollten.

Ein Gründungsmythos ist für jeden jungen Staat von unschätzbarem Wert, und ein siegreicher Unabhängigkeitskrieg stellt ein ideales Reservoir an potentiellen Elementen des Mythos bereit. Die staatlich gelenkte Erinnerung an den Sieg und seine Opfer gewinnt noch an systemlegitimierender Bedeutung, wenn die Staatslenker aktive Kriegsteilnehmer sind. Jeder estnische Politiker, der sich in der politischen Krise des Jahres 1934 der Unterstützung Laidoners sicher sein konnte, hatte damit einen Vorteil – und die ohnehin schon populären Vapsid wären mit ihm an der Spitze nahezu unschlagbar gewesen. Fraglos war Laidoners Koalition mit Päts andererseits die symbolisch machtvollere Variante: Der Staatsgründer und der Staatsverteidiger Seite an Seite als Inkarnation der wehrhaften estnischen Unabhängigkeit. In Verbindung mit dem Siegesfest liegt die Ironie dieser Kombination der zwei Helden des Unabhängigkeitskriegs jedoch in einem anderen Detail: Päts war im Juni 1919 ein entschiedener Gegner der Konfrontation mit der Landeswehr bei Wenden gewesen.

DER HISTORISCHE HINTERGRUND DES SIEGESFESTS

Die militärische Auseinandersetzung der Estnischen Armee mit der Baltischen Landeswehr war schon im Juni 1919 keineswegs nur eine weitere Schlacht an der Südfront des Unabhängigkeitskriegs, denn hier wurde gegen den “Erbfeind” gefochten. Während die bolschewistische Rote Armee ein historisch neuer Gegner war, den man höchstens verachtete4, entluden sich die antirussischen Ressentiments der Esten vor allem über das weiße Russische Nordkorps, das als antibolschewistische Einheit die Estnische Armee an der Ostfront entlastete und in Laidoners Strategie des “aktiven Verteidigungskriegs” eine wichtige Rolle spielte. Dieser Strategie zufolge sollte die Last des Krieges auf fremden Boden assoziierten russischen, ingrischen und lettischen Einheiten überlassen werden. Tatsächlich waren die weißen Russen des Nordkorps sowie der aus ihm im Juli 1919 entstandenen Nordwest-Armee (Severo-zapadnaja armija), die seitdem unter dem Oberbefehl von General Nikolaj Judeni_ stand, alles andere als begeisterte Anhänger der estnischen Unabhängigkeit. Allerdings war es für die estnische Militärführung von entscheidender Bedeutung, dass der äußerst unpopuläre Krieg auf russischem Boden gegen die Rote Armee den russischen Weißen überlassen werden konnte. Die Überheblichkeit der weißen Führung, die Willkür ihrer Politik auf russischem Boden sowie russische Offiziere, die in der Tallinner Altstadt “Bozhe, Carja chrani” (Gott schütze den Zaren) sangen, vergrößerten die Abneigung der estnischen Öffentlichkeit gegenüber diesem “Bundesgenossen” jedoch von Woche zu Woche.

Die Baltische Landeswehr hingegen war die Verkörperung des deutschbaltischen Adels, der die Esten seit dem 13. Jahrhundert beherrscht hatte, weshalb sie zum “historischen Feind” erklärt wurde. Nach der anfänglichen lähmenden Angst vor dem übermächtigen Gegner, die sich auch in den Briefen der Soldaten aus dieser Zeit widerspiegelt, löste der Sieg eine euphorische Kriegsbegeisterung aus, die schließlich in der Illusion gipfelte, der Unabhängigkeitskrieg sei nun gewonnen. Denn war nicht der jahrhundertelange Gegner der estnischen Freiheit besiegt worden?

Auch Laidoner nutzte das populäre Bild der 700-jährigen Unterdrückung durch die Deutschbalten zur Motivierung der Soldaten. So mahnte er seine Divisionskommandeure am 18. Juni: “(…) vergesst nicht, die Landeswehr, das sind die Baltischen Barone, unsere Erbfeinde, gegen die wir uns mit allen Kräften verteidigen müssen.”5 Während es an der Ostfront rhetorisch meist pragmatisch um den Schutz der Grenzen ging, wurde die Auseinandersetzung an der Südfront zu einer Frage der Existenz des estnischen Volkes stilisiert. Wie real die später beschworene Gefahr einer erneuten Kolonialisierung Estlands durch die Deutschen tatsächlich war6, ist durchaus zweifelhaft. Aber diese mögliche Gefahr erzeugte auf der anderen Seite einen enormen Widerstandswillen in der Armee, an den noch ein halbes Jahr zuvor, im Dezember 1918, nicht zu denken war. Damals stand die Rote Armee kurz vor Tallinn, und nur der erfolgreiche Gegenangriff der Esten (oder vielmehr die Schwäche der Roten Armee, die sich auf die Einnahme Rigas konzentriert hatte) hielt das Elitenprojekt “Estland” am Leben. Erst die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung im April 1919 konnte als politische Zustimmung des Volkes zu diesem Projekt gewertet werden; die emotionale Komponente brachte hingegen erst der Sieg bei Wenden. Spätestens mit dem Erfolg über die Landeswehr griff die nationale Ideologie der politischen Elite des Landes auf die überwiegende Mehrheit des Volkes über. Eine ähnlich emotionale Begeisterung vermochte der Krieg gegen Sowjet-Russland hingegen zu keiner Zeit auszulösen.

Dem Sieg bei Wenden war jedoch eine Zeit des Zweifels vorangegangen, die zum Teil die anschließende Euphorie erklärt. Dass der in seinen Äußerungen ansonsten höchst sachliche Laidoner sich der erwähnten emotionalen Appelle an die estnische Geschichte bediente und den Vergleich mit dem mythischen “vorzeitlichen Unabhängigkeitskrieg” (muistne vabadussõda) im 13. Jahrhundert nicht scheute, verdeutlicht wohl auch die Nervosität im estnischen Lager. Seit dem sogenannten Libauer Putsch vom 16. April, dem Sturz der lettischen Regierung Ulmanis durch die von General v.d. Goltz gedeckte Freikorps, geisterte die Angst vor einem kombinierten deutsch-russischen Angriff durch das Land. Der gerade bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung geschlagene Päts sah sein Land bereits als “Insel im bolschewistischen Meer” und ein britischer Diplomat war der Ansicht, die Angst in Estland sei so groß, dass man befürchte, die Bevölkerung könne sich aus Panik vor einem deutschen Putsch mit den Bolschewiki arrangieren. Auch Laidoner rechnete mit einem Umsturzversuch der Deutschbalten, genauso wie der britische Konsul in Tallinn, Vivan Bosanquet. Selbst die politisch ansonsten eher unsensible Führung des Russischen Nordkorps, zu der einige Deutschbalten gehörten, distanzierte sich prophylaktisch von den Ereignissen in Libau (Liep_ja). Als Anfang Juni aber zwei deutsche Flugzeuge bei Narva von den Esten abgefangen wurden, kurz bevor sie das Nordkorps erreicht hatten, schien sich die Gefahr einer antiestnischen Kooperation zwischen den weißen Russen und der Landeswehr zu bestätigen.7

Auch wenn in der Rückschau wenig für eine machtvolle antiestnische Verschwörung spricht, warf die sich anbahnende Konfrontation mit der Landeswehr auf lettischem Boden die Frage der Loyalität des in den Reihen der Estnischen Armee operierenden Baltenregiments auf. Dies war ein Trupp von Deutschen aus Estland, die sich Ende 1918 freiwillig estnischem Oberbefehl unterstellt hatten und aufgrund seiner geringen Größe von vielleicht 700 Mann ohnehin nicht als reale Gefahr galt. Als die Regierung erwog, es in corpore zu verhaften, entschied Laidoner, diese kleine Einheit operativ dem bereits auf russischem Boden liegenden Nordkorps zu unterstellen. Damit wollte er es erstens aus den Kämpfen im Süden heraushalten und es zweitens vor der antideutschen Stimmung in Estland selbst schützen: An der Ostfront war jedes antibolschewistische Bajonett von Wichtigkeit, und sei es auch von erklärten Gegnern der estnischen Unabhängigkeit. Allerdings konnten die Esten wenige Tage, nachdem die Landeswehr am 22. Mai Riga erobert hatte, das in südöstlicher Richtung auf russischem Boden gelegene Pskov (Pleskau) einnehmen. Daher war die Gefahr eines direkten Zusammengehens von Nordkorps und Landeswehr zunächst einmal gebannt.

Allerdings musste Laidoner schon aus Gründen der außenpolitischen Raison um jeden Preis den Eindruck vermeiden, dass sich Estland fremdes Gebiet aneignen wolle. Daher übergab er Pskov an Oberst Bulak-Balachovic, der zwar formal dem Nordkorps unterstand, sich aber so estlandfreundlich gab, dass Tallinn hoffte, er könne eine Art “Pufferstaat” (“Pskover Republik”) zwischen Estland und Russland gründen. Schließlich legte Laidoner am 19. Juni auch das Amt des Oberkommandierenden des Nordkorps nieder. Während an der Ostfront mit dem Nordkorps nun ein Vertrag “wie zwischen zwei Nachbarn” ausgearbeitet werden sollte, stand die Estnische Armee an der Südfront weit auf lettischem Boden. Die als integraler Bestandteil von Laidoners Strategie des “aktiver Verteidigungskrieg” unterstützte kleine lettische Abteilung unter Oberst Zemitan war nicht in der Lage, den Krieg auf lettischem Boden zum Schutz der estnischen Grenze allein zu führen. Der Kampf gegen die Landeswehr wurde somit erst recht zu einer estnischen Angelegenheit.

Laidoners Position während des Krieges war spätestens nach seinem Auftritt vor der Verfassunggebenden Versammlung am 30. Mai, als er das estnische Territorium für befreit erklärte8 , unangreifbar; nach dem Sieg über die Landeswehr war sie sakrosankt. Die Öffentlichkeit hielt den Krieg nun für beendet, und es brauchte die Autorität des Siegers von Wenden, dass die Armee beisammen blieb, um den Krieg an der Ostfront fortzusetzen. Um seine Position nach seiner Amtsübernahme als Deus ex machina im Dezember 1918 zu festigen, war Laidoner nicht zimperlich gewesen. Mit einer Reihe von Rücktrittsdrohungen hatte er im Januar und Februar seine Kompetenzen gegenüber dem Landtag (Maapäev) errungen. Als die Verfassunggebende Versammlung Ende April zusammentrat, hielt der Oberkommandierende jedoch die demokratischen Spielregeln ein und bot der Legislative seinen Rücktritt an, der natürlich abgelehnt wurde. Die Verlagerung der faktischen Entscheidungsgewalt über Krieg und Frieden auf die Militärführung war jedoch offensichtlich. In diesem Sinne wurde der estnische Oberkommandierende zu einem politischen General, der sich aber – im Gegensatz zu v.d. Goltz oder den weißen russischen Generälen – der Schaffung eines zivilen Raumes auf demokratischer Grundlage verpflichtet fühlte.

Und dennoch: Laidoner hatte den Entschluss zum Krieg gegen die Landeswehr allein getroffen und die Regierung erst informiert, als die Kampfhandlungen Anfang Juni bereits im Gange waren. Erst nachträglich ließen Regierung und Laidoner diese Handlungsweise vom Asutav Kogu billigen, der am 17. Juni seine zweite Sitzungsperiode mit einer patriotischen Debatte aufnahm.9 Nachdem Ministerpräsident Otto Strandman eine Erklärung Laidoners zum Kriegsgeschehen an der Südfront verlesen hatte, billigte die Versammlung die Tätigkeit von Armeeführung und Regierung mit überwältigender Mehrheit. Mit besonderer Begeisterung wurde dabei die Erklärung der sozialrevolutionären Fraktion aufgenommen, sie sei sich in dieser Frage mit den anderen Parteien einig – und Hans Kruus beschwor den Geist Lembitus, eines der Helden des Kampfes gegen die deutschen Eroberer im 13. Jahrhundert: “Solange auch nur ein Dreikäsehoch noch auf unserem Land lebt, geben wir nicht auf!”10 Die Geburt des Mythos der Schlacht von Wenden für die estnische Geschichte fiel daher bereits in eine Zeit, als ihr Ergebnis noch gar nicht feststand.

Aus dieser demonstrativen patriotischen Einigkeit scherte neben den deutschbaltischen Abgeordneten nur die Fraktion des ehemaligen Ministerpräsidenten Päts aus. Er hielt seinen Kollegen die Opfer des Kriegs vor Augen und sprach sich dafür aus, dass jedes Land seine eigenen Grenzen verteidigen müsse und Estland nicht für Lettland die Kastanien aus dem Feuer holen könne. Damit setzte er sich dem Vorwurf aus, deutschfreundlicher Defätist zu sein. Mehr noch: Er misstraute plötzlich auch der Strategie Laidoners. Mit dieser Haltung isolierte sich Päts politisch selbst.

Bevor wir zum Siegesfest zurückkommen, sei hier nur angemerkt, dass Päts auch im weiteren Verlauf des Krieges sowohl in bezug auf die im Oktober verabschiedete radikale Agrarreform als auch in bezug auf den Beginn der Friedensverhandlungen mit Moskau grundsätzlich in Opposition zur Regierung stand. Er nahm dabei stets eine Position ein, die sich stark an die orthodoxe Haltung der Siegermächte des Ersten Weltkriegs anlehnte: Garantie des persönlichen Besitzes, kein Kontakt mit den Bolschewiki. Er schien dabei zu übersehen, dass Estland durchaus einen eigenen politischen Spielraum besaß – und zumindest die pragmatischen Briten durchaus an Kontakten mit Lenin interessiert waren.

Später, in seinem Beitrag zum ersten Siegesfest im Juni 1934, betonte Päts wohl nicht ohne eigennützige Absicht die erfolgreiche Verteidigung des Landes im Januar/Februar 1919: Nur in dieser Zeit hatte er selbst als Ministerpräsident und Kriegsminister gemeinsam mit Laidoner die Geschicke Estlands gelenkt. Wichtiger war ihm jedoch zwei Monate nach seinem Putsch etwas anders, denn gleichzeitig zog dieser Text die unverhohlene Parallele zwischen dem Juni 1919 – “Sein oder Nichtsein” – und dem März 1934: “Im Nachhinein ist es nun wohl sehr vielen klargeworden, an was für einen Abgrund unser Volk im Laufe dieses inneren Kampfes geraten war. (…) Dass wir all dies nun glücklich überwunden haben und unser Staat und unser Volk wieder den friedlichen und sicheren Pfad des Aufbaus nehmen kann, auch dies ist ein Sieg, und zwar ein sehr großer Sieg.”11 Für die Glaubwürdigkeit dieser Parallele (und damit Päts’ eigener) war es von großer Bedeutung, dass er Laidoner an seiner Seite wusste.

ÜBER DIE SYMBOLIK DES SIEGESFESTS

Das Siegesfest feierte Estlands staatliche Unabhängigkeit, weshalb der 23. Juni zu einem Gedenktag wurde, der dem eigentlichen Unabhängigkeitstag am 24. Februar an politisch-symbolischer Bedeutung gleichkam. Weshalb gerade der Sieg über die Landeswehr, über die “baltischen Barone” gewählt wurde, hängt in erster Linie mit dem Siegestaumel zusammen, von dem das Land im Juni 1919 ergriffen worden war. Es war einer der wenigen Momente, in denen das Ideal des “nationalen Ganzen” (rahvuslik tervik), der rhetorischen Leitidee der Jahre unter dem Regime Päts, sich für einen kurzen Augenblick scheinbar manifestiert hatte. Ob hierbei auch ein aus der tagespolitischen Auseinandersetzung mit dem Freiheitskämpferbund übernommenes antideutsches Moment eine Rolle spielte, ist nicht nachzuweisen, auch wenn in der Presse zu lesen war, dass das Land in den letzten 15 Jahren so tief gefallen sei, “dass sich aus der Mitte des Volkes einzelne Verräter erheben konnten, die für ein paar silberne Schekel bereit waren, ihr Volk und seine Freiheit den Nachfolgern der Landeswehr und den Kräften des tollwütigen deutschen Fascismus zu verkaufen” (Rahva Sõna, hier zit. n. Postimees, 22.6.34). Unübersehbar war in dieser Zeit freilich ein innenpolitischer Faktor: Mit der Einführung des Siegesfests sollte an die integrative Wirkung für das estnische Nationalgefühl appelliert werden, die der eruptive Ausbruch des lang angestauten nationalen und sozialen Antagonismus gegen alles Deutsche im Juni 1919 zweifellos hatte. Diese integrative Wirkung sollte das Siegesfest nun auch für das von politischen Auseinandersetzungen gezeichnete Estland nach der Weltwirtschaftskrise haben.

Mit Recht stellte der “Postimees” am 21.6.1934 mit Bezug auf den ganzen Unabhängigkeitskrieg fest: “Diesen großen Sieg hat unser Volk nicht an einem Tag, in einer Woche oder in einem Monat errungen, sondern wir mussten über 13 Monate lang heroisch kämpfen. Aber wenn wir der heroischsten Periode unseres Volkes gedenken wollen, dann müssen wir sie auf einen Punkt konzentrieren, d.h. an dem Tag, an dem wir den größten und schönsten Sieg über den Feind errungen haben.” Mit dem Maßstab der “Schönheit des Sieges” gemessen, hatten die eigentlich entscheidenden Schlachten des Unabhängigkeitskriegs während der verlustreichen Verteidigung der Narvalinie im Dezember 1919 gegen die Rote Armee keine Chance. Schließlich wurde dieser Gegner ja nicht vernichtend geschlagen wie die Landeswehr. Auch der 2. Februar, der Tag der Unterzeichung des Friedens von Tartu, der den Krieg erst beendete, war nicht mit einem emotionalen Sieg verbunden, höchstens mit einem allgemeinen Aufatmen. Zudem, man denke an die Parlamentsdebatten im Februar 1934, wäre aus diesem Wintertag wohl nie ein “richtiger” Nationalfeiertag geworden.

Ein staatliches Siegesfest hatte nur als Fest des ganzen Volkes eine Chance, wenn man den “Vapsid” die Deutungshoheit in der Erinnerungspolitik entreißen wollte. Denn zweifellos hatten jene dieses Schlachtfeld historischer Interpretationen und Mystifikationen als erste öffentlichkeitswirksam besetzt. Am 14. Dezember erließ Päts per Dekret ein “Gesetz über die Verwendung des Begriffs Unabhängigkeitskrieg”12 , mit dem verboten wurde, die Begriffe “Unabhängigkeitskrieg”, “Freiheitskreuz” und “Denkmal des Unabhängigkeitskriegs” in politischer Absicht zu benutzen. Über ihre politisch korrekte Verwendung hatte fortan der Innenminister zu entscheiden. Damit war gesetzlich festgestellt, wer die Erinnerung an den Unabhängigkeitskrieg von nun an diktierte. Geschichtspolitik war jetzt eine Sache allein des Staates. Er bestimmte daher auch den Inhalt des Siegesfests. So konnte dieses Fest zu einem Kristallisationspunkt der Ideologie des Regimes13 werden und die Schlacht von Wenden zu ihrer idealen Verkörperung.

Päts machte in seinem Grußwort zum 23. Juni 1936 deutlich, dass das Einigungsmoment des Tages für ihn von besonderer Bedeutung war: “Der Kampf um die Unabhängigkeit war Estlands größter Akt der nationalen Einheit. Am 23. Juni, dem Siegesfest, feiern wir die Einigung des estnischen Volkes zu einer Nation, die Wiederkehr des gemeinsamen Willens, die moralische Neugestaltung des estnischen Volkes, die ihren Anfang im Unabhängigkeitskrieg nahm.”14 Bei der Begründung des Festes fehlte es nicht an zeittypischem, blutigem Pathos: “Die Seiten, die unserer staatlichen Unabhängigkeit und Geschichte vorangehen, sind mit dem Blut der Söhne unseres Vaterlands geschrieben, die das Teuerste gaben, was sie hatten – ihr Leben.” Für H. Schilting war das Fest aber nicht nur eine Sache der Erinnerung an gemeinsam vergossenes Estenblut, es war ein Schwur des ganzen Volkes für die Zukunft: “Möge das Siegesfest zu einem solchen Festtag für unser Volk und unseren Staat werden, an dem wir den hohen Sieg unserer Freiheit feiern und versprechen, all unseren Willen, unsere Mühe und Liebe dem Aufbau des Vaterlandes zu widmen, damit der Sieg der Freiheit nicht verloren gehe” (Päewaleht, 22.6.34). Deutlicher wurde General Aleksander Tõnisson, der Befehlshaber der Ostfront des Unabhängigkeitskriegs, der bei seiner Ansprache in Tartu am 23. Juni 1934 sagte: “Das Gedenken an die großen Kämpfe ist notwendig, um auch die heranwachsende Generation im Geiste des Heldentums zu erziehen. Für diesen Zweck ist nun ein besonderer Tag geschaffen worden – das Siegesfest. Möge dieser Tag den Glauben an unsere ruhmreiche Zukunft vertiefen” (Postimees, 24.6 34). Das erzieherische Moment blieb Bestandteil jedes Siegesfests, hierin trafen sich Vergangenheit und Zukunft.

Der 23. Juni war ein Tag, an dem die legendäre Einheit des Volkes von 1919 gefeiert und als Ideal der Gegenwart eine mythologische Funktion bekam. Der Schlüssel des Sieges habe in der Einmütigkeit der Esten bei Wenden gelegen, erklärte der Chefredakteur des “Päewaleht”, Harald Tammer, am 22. Juni 1934: “Die Einmütigkeit, die einmütige Kraftanstrengung der kampfbereiten Generation des ganzen Volkes war es, was uns den Sieg bei Wenden gebracht hat. Als eine unvergleichliche und lehrreiche Demonstration für den Nutzen der Einmütigkeit muss die Schlacht bei Wenden im Gedächtnis sowohl unserer als auch der kommenden Generationen bleiben.” Auf die Frage, wozu die Erinnerung an die Helden der Vergangenheit dienen solle, antwortete der Leiter des staatlichen Propagandadienstes Hugo Kukke: “Natürlich dafür, dass die früheren Heldentaten des Volkes in uns lebendig werden. Damit wir fühlen, dass wir Kinder eines gemeinsamen Schicksals sind. Damit wir wissen, dass wir ein starkes, lebensbejahendes und lebensfähiges Volk sind, das aus eigener Kraft und mit Hilfe seiner Einmütigkeit auch die größten Schwierigkeiten überstanden hat.15” Die Beschwörung der Einmütigkeit des Volkes erhielt ihren emotionalen Höhepunkt am Abend des 23. Juni, wenn die traditionellen Johannifeuer zu “Siegesfeuern” mutierten, an denen sich Jung und Alt versammelten. Diese Zeremonie als “Ausdruck der siedenden Seele” ließ den Theaterregisseur Leo Kalmet von der Schaffung einer Tradition “der neuen Unabhängigkeitszeit” träumen, bei der das Volk die Möglichkeit habe, an “großen, die Massen vereinigenden Gefühlen teilzuhaben und sich mit Hilfe von passenden Aktivitäten auszudrücken.” Die uralten Johannifeuer und die neue Siegesfeuer-Zeremonie seien wie geschaffen dafür, “in eine große, schöne und inhaltsreiche nationale Tradition zusammenzuschmelzen.”16

Die Massenkultur a la Nürnberg oder Moskau hatte offenbar auch in Estland Vorbildcharakter. Von Jahr zu Jahr festigte sich die nationale Optik des Festes. Das Hissen der Flagge war obligatorisch und das Tragen von Volkstracht ausdrücklich erwünscht. Es war auch ein Tag, an dem das Volk schwören sollte, dass “wir uns von allem befreien, was der Seele des Esten fremd ist, und das ehren, was uns eigen ist – das Estnische.”17 Das Siegesfest im Jahre 1939 schließlich wurde erklärt zu einer Art “Aktionstag” für alle laufenden nationalen Veranstaltungen und Kampagnen: “Besonders betont werden die Anschaffung der Staatsflagge, die Estifizierung fremdartiger Eigen- und Ortsnamen, die Errichtung von Fahnenmasten, die Verschönerung der Häuser und Höfe, das Herrichten der alten Burgen und historischen Kampfplätze, die Anschaffung und das Tragen von Volkstracht, die Verbreitung von Volkstanz und Chorgesang (…)” usw. Die Inszenierung des Volkes durch das Regime sah vor, dass dem Mythos von Wenden in einem feierlichen Ritual gehuldigt werden musste. Dazu gehörte natürlich auch eine “vorbildliche und vernünftige Ordnung”: Der Gebrauch von Alkohol war zu vermeiden.18 Aus dem Siegesfest durfte unter keinen Umständen ein Tag fürs “Faulenzen und Trinken” werden.

Schon 1934 jedoch war eines unmissverständlich klar: die Schlacht bei Wenden kam der Einlösung einer historischen Pflicht des estnischen Volkes gleich: “Nach den sieben Jahrhunderten, welche die beiden Freiheitskämpfe voneinander trennen, konnten die Esten die notwendige Potenz zurückgewinnen, um mit einem ausgedehnten Unabhängigkeitskrieg fertig zu werden, der ganz Estland umfasste” (A. Ers., Postimees, 22.6.34). Estland, so hieß es, sei am verdienten Ende seiner historischen Mission angelangt.19 Während der zweiten Hälfte der 1930er Jahre machte sich jedoch eine kleine, aber deutliche Akzentverschiebung bemerkbar: Nicht mehr nur die staatliche Unabhängigkeit an sich markierte diesen historischen Endpunkt, sondern die neue, auf Betreiben von Päts ausgearbeitete Verfassung von 1938, und damit Estlands erster Präsident selbst. Päts war nun “der erste Bürger und erste Präsident unseres Staates”. Dass dieser “populärste Staatsmann und Volksführer” (insgesamt) zehn Jahre an der Spitze des Staates gestanden habe, zeige die einmütige Anerkennung, die das Volk seinem Führer entgegenbringe, “dessen staatsmännische Weisheit und tiefe Liebe zu seiner Heimat und zu seinem Volk unseren Staat durch mannigfache Schwierigkeiten zu unserem heutigen Frieden und Glück getragen haben.” Zum 23. Juni gratulierte daher “das ganze Volk seinem geliebten Führer” persönlich und wünschte ihm noch “ein langes Leben und eine glückliche Hand beim Lenken unseres staatlichen Geschicks.”20 Der Präsident war nicht mehr ein gewählter Vertreter des Volkes, er war die Verkörperung des Staates – und er persönlich Garant der glücklichen Zukunft des Volkes. Den Vergleich mit Väterchen Stalin brauchte Päts nicht mehr zu scheuen. Und zumindest symbolisch wurde an jedem 23. Juni der Sieg bei Wenden zu Päts’ eigenem Sieg.

Päts als Sieger von Wenden? So weit ging die Mythologisierung des Führers dann doch nicht, dieser Ruhm blieb Laidoner, dem zweitem Mann im Staat, vorbehalten. Laidoner sei “ein großer Krieger, ein großer Nationalist, ein großer Este” und international als “begabter Politiker” geschätzt (tatsächlich hatte er einige Missionen im Auftrag des Völkerbundes ausgeführt). Mit Bezug auf den 23. Juni fand die Propaganda einen Begriff für ihn, der nicht nur seine persönliche, sondern auch die Rolle der Schlacht von Wenden für die estnische Geschichte auf den Punkt brachte: “Johan Laidoner, der Vollender des Kampfes von Lembitu!”21 So wurden in der Ikonographie der “schweigenden Zeit” Päts und Laidoner zu den Vollendern der estnischen Geschichte: Laidoner tötete den (deutschen) Drachen und Päts segnete das Volk. Die Einmütigkeit der Schlacht von Wenden aber wurde zum Glaubensbekenntnis des “nationalen Ganzen” stilisiert und in der Darstellung der Schlacht selbst zeigte sich die Apotheose der Nation.

ZUSAMMENFASSUNG

Harald Tammer hatte am 1.6.34 im “Päewaleht” aus Anlass der Gründung einer staatlichen Propagandaagentur gewarnt, dass es weitaus schwieriger sei, positive Propaganda zu machen als negative. Man dürfe nicht vergessen, “dass auch das estnische Volk seine Traditionen hat, und eine von ihnen ist die ziemlich zurückhaltende, ja fast misstrauische Beziehung zu allem, was die Regierung macht. (…) Die staatliche Propaganda müsste im Volk Optimismus wecken – allerdings keinen grundlosen – und Glauben an die Möglichkeit eines besseren und menschenwürdigeren Lebens stiften.” Die Reduktion der Quelle des Optimismus auf die Person des Präsidenten war sicher nicht im Sinne Tammers. Das Siegesfest wurde trotzdem zum Nationalfeiertag, an dem der Staat sich und sein Volk feierte, er wurde zu einer unmissverständlichen Werbeveranstaltung für das Regime. Dies bezeugen allein die mehrfach zitierten “Koguteosed” (Sammelwerke) der Jahre 1936-1938, die ausführlich das Leben in Estland und die nationalen Projekte wie die Estifizierungs- und Verschönerungskampagnen priesen.

Eine ähnliche Verschönerung wie das estnische Dorf musste auch die estnische Geschichte über sich ergehen lassen. Das eschatologische nationale Narrativ der späten 1930er Jahre war vom heldenhaften Kampf des Estentums für seine Freiheit erfüllt, der in der Schlacht von Wenden kulminierte. Die Berufung auf den Heldenmut der einst die Ostsee beherrschenden Vorfahren, die sich den deutschen Rittern entgegengestellt hätten, wurde zum typologischen Motiv. Was im 13. Jahrhundert scheitern musste – es fehlte ja die nationale Einmütigkeit -, gelang 700 Jahre später, als Päts und Laidoner das Volk einigten und in die Schlacht führten. Der bereits 1919 angeklungene, aber erst jetzt voll entfaltete Mythos vom “Wunder von Wenden” entstammte dabei einer nicht untypischen “Geschichte der Sieger” und stellte das Grundgerüst einer in dieser Form nie zu Papier gebrachten “Meistererzählung” der estnischen Geschichte dar.22

Aber auch die Verlierer schreiben Geschichte – mit denselben Mitteln. Für das deutschbaltische Narrativ spielte das “Wunder an der Düna”, die Eroberung Rigas durch die Baltische Landeswehr am 22. Mai 1919, die Rolle des Siegestages. An diesem Tag trafen sich die Veteranen der Landeswehr und des Baltenregiments traditionell auf ihren alljährlichen Gedenkveranstaltungen. Die Symbolkraft des Sieges stiftete Gemeinschaft und bekräftigte – später auch in der Emigration z. B. in der Bundesrepublik Deutschland – deutschbaltische Ideale. Die Erinnerung galt den Märtyrern des Kampfes, denn das “Wunder an der Düna” war eine Tat von Todgeweihten. Hier haben wir es also nicht, wie im Falle des estnischen Siegesfests, mit einem Gründungsmythos zu tun. Der deutschbaltische Mythos des 22. Mai beschwört in erster Linie ein kollektives Opfer.23

Erst lange nach 1939/40 näherten sich die beiden konträren Mythen fern der Heimat in der Emigration aneinander an. Ihr gemeinsamer Nenner war nun der (aktuelle) Antibolschewismus, der ja schon 1919 eigentlich doch beide Seiten verbunden hätte. Während das “Wunder an der Düna” im Zuge dieser Akzentverschiebung seine Bedeutung behielt, konnte der Mythos von Wenden nur für die Esten gelten. Weitere Untersuchungen über die nationale Traditionspflege der estnischen Emigration wären sicher spannend, und die Frage, warum nicht einmal hier ein Narva-Mythos entwickelt wurde (als Abwehrkampf, der im Gegensatz zu 1944 im Jahre 1919 siegreich war), wartet auf ihre Antwort. Dass – im Gegensatz zu Narva – Wenden auf lettischem Boden liegt, ist übrigens ein indirekter Hinweis auf die latente Nebenbedeutung, die der Sieg über die Landeswehr für Estland auch hatte: Estland trat auf als Retter Lettlands und vielleicht sogar Litauens und Polens vor der deutschen Gefahr. Ohne alliierte Einmischung wären die estnischen Soldaten nur allzu gern triumphierend durch Riga gezogen, doch hätte das die nachbarschaftlichen Beziehungen zweifellos arg strapaziert.

Heutzutage ist aus dem Siegesfest zweifellos ein Tag zum “Faulenzen und Trinken” geworden, wie es ja auch der 17. Juni war, der aus Anlass des Aufstandes in der DDR 1953 in der Bundesrepublik gefeierte “Tag der deutschen Einheit”. Die Bedeutung der Erinnerung an den Unabhängigkeitskrieg verblasst vor dem Hintergrund der Erinnerung an die sowjetische Okkupation. Zwangsläufig wurde das “Wunder von Wenden” ersetzt, wahrscheinlich durch den Mythos der “Waldbrüder”, der antisowjetischen Guerilla, der ja auch ein kollektives Opfer feiert. Geschichtspolitisch tut sich heute in bezug auf die Jahre 1918-1920 wenig, außer dass durch lokale Initiativen endlich auch für die russischen Opfer des Unabhängigkeitskriegs Gedächtnisorte geschaffen werden, die für das Baltenregiment schon existieren.

Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit für die estnische Historikerzunft, eine Gesamtdarstellung des Unabhängigkeitskriegs vorzulegen, die wissenschaftlichen Kriterien entspricht. Die emotionalen Wunden des Kriegs sind zweifellos verheilt, das Interesse durch das Kino wieder geweckt. “Freiheit hat ihren Preis” hieß es pathetisch im Trailer für Elmo Nüganens Film über diesen Krieg nach dem Roman von Albert Kivikas: “Namen auf der Marmortafel” (Nimed marmortahvlil) aus dem Jahre 2002. Die Zerstörung von Mythen selbstverständlich auch.

Vgl. hierzu Andres Kasekamp, The Radical Right in Interwar Estonia. Houndsmills, Basingstoke, London: Macmillan Press 2000; Toivo U. Raun, Estonia and the Estonians, Stanford, Cal. 1991, sowie die ältere Darstellung bei Georg von Rauch, Geschichte der baltischen Länder, 3. Aufl. München 1990.

Hierzu siehe die Arbeit von Kasekamp, The Radical Right.

Riigikogu V koosseis. Täielikud protokollid ja stenograafilised aruanded. III ja IV istungjärk [Die Staatsversammlung, 5. Zusammensetzung. Vollständige Protokolle und stenographische Berichte. 3. und 4. Sitzungsperiode], Tallinn 1933-34, S. 1380-82, 1398-1403, 1405-07. Siehe auch Riigi Teataja [Staatsanzeiger] Nr. 18 (3.3.1934), Nr. 122, S. 314.

Eduard Laaman, Võidu vaim [Der Geist des Sieges], in: Koguteos Võidupüha [Sammelwerk Siegesfest], hrsg. v. A. Truuvere, Ed. Salurand, A. Taioste, Tallinn 1936, S. 16.

Vabadusmonument I. Vabadussõja Mälestamise Komitee sõjaajalooline album [Freiheitsmonument I. Das kriegshistorische Album des Erinnerungskomitees für den Freiheitskrieg], hrsg. v. Oskar Kurvits, Tallinn 1933, S. 141-42, 129.

A. Hinnom, Põlise vaenlase vastu. Soomusrongide diviisi heitlusi Landeswehriga [Gegen den Erzfeind. Die Kämpfe der Panzerzugdivision mit der Landeswehr], Tallinn 1933; Wenden lahingust ja selle tähtsusest [Über die Schlacht von Wenden und ihre Bedeutung], in: II Võidupüha 23. juunil 1935. Kava, põhimõtteid, materjale [II. Siegesfest am 23. Juni 1935. Programm, Grundgedanken, Materialien], Tallinn 1935, S. 12-16.

Vt. Karsten Brüggemann, Die Gründung Estlands und das Ende des "Einen und unteilbaren Rußland". Die Petrograder Front des Russischen Bürgerkriegs 1918-1920, Wiesbaden 2002, S. 193, 256-260. Für eine englischsprachige Zusammenfassung siehe Karsten Brüggemann, "Defending National Sovereignty Against Two Russias: Estonia in the Russian Civil War, 1918-1920", in: Journal of Baltic Studies 34 (2003), S. 22-51.

Asutava Kogu I istungjärk [Die 1. Sitzungsperiode der Verfassunggebenden Versammlung], Tallinn (1919), Sp. 793.

Asutava Kogu II istungjärk [Die 1. Sitzungsperiode der Verfassunggebenden Versammlung], Tallinn (1919), Sp. 1-26

Eduard Laaman, Eesti iseseisvuse sünd [Die Geburt der estnischen Selbständigkeit], Stockholm 1964, S. 573.

Konstantin Päts, Eesti riik II [Der estnische Staat II], zusammengest. v. Toomas Karjahärm, Hando Runnel, Tartu 2001, S. 412-414.

Riigi Teataja Nr. 105 (17.12.1934), Nr. 828, S. 1803-1805.

Zur Ideologie des Regimes von Päts vgl. Ago Pajur, Die "Legitimierung" der Diktatur des Präsidenten Päts und die öffentliche Meinung in Estland, in: Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919-1944, hrsg. v. Erwin Oberländer, Paderborn 2001, S. 162-213. Koguteos Võidupüha (1936), S. 2.

Koguteos Võidupüha (1936), S. 2.

Hugo Kukke, Võidupüha mõttest [Vom Sinn des Siegesfests], in: Võidupüha pidustused Tallinnas 1937. Tallinna Võidupüha korraldava komitee väljaanne [Über die Feierlichkeiten zum Siegesfest in Tallinn 1937. Ausgabe des Tallinner Organisationskomitees für das Siegesfest], Tallinn 1937, S. 9.

Leo Kalmet, Võidupüha sisustamisest [Über den Inhalt des Siegesfests], in: Võidupüha pidustused (1937), S. 22-23.

Koguteos Võidupüha (1936), S. 2.

Juhend kuuenda Võidupüha pühitsemiseks Tartumaal [Leitfaden für die Feier des sechsten Siegesfests in Tartumaa], Tartu 1939, S. 3-4.

Laaman, Võidu vaim, S. 16.

Koguteos Võidupüha [Sammelwerk Siegesfest], hrsg. v. Arvo Taioste, Tallinn 1938, S. 3.

Koguteos Võidupüha (1938), S. 5.

Kalmet, Võidupüha sisustamisest, S. 22, schrieb z. B.: "Unsere Vorfahren sind Herren und stolze Herrscher der Ostsee gewesen (...)" Siehe auch Võidupüha ja eestlaste minevikust kaasjani [Über das Siegesfest und die Geschichte der Esten von der Vergangenheit bis heute], in: Võidupüha pidustused, S. 23-26.

Karsten Brüggemann, "Legenden aus dem Landeswehrkrieg: Vom 'Wunder an der Düna' oder Als die Esten Riga befreiten, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 52 (2002), S. 576-591.

Published 9 March 2004
Original in German

Contributed by Vikerkaar © Vikerkaar Eurozine

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