Der tote Albatros

Die Sozialwissenschaften, Jörg Haider und der Widerstand

“God save thee, ancient Mariner
from the fiends that plague thee
thus! – Why look’st thou so?”
– “With my crossbow I shot the
albatross.”

Samuel Taylor Coleridge,
The Rime of the Ancient Mariner, II. 79 -82

 

In Coleridges Gedicht treibt der Wind ein Schiff vom rechten Weg in eine unwirtliche Gegend ab. Einziger Trost ist den Seeleuten ein Albatros, mit dem sie ihre Nahrung teilen, bis ein Matrose ihn ohne ersichtlichen Grund, möglicherweise aus schierer Überheblichkeit, erschießt. In der Folge müssen alle Schiffsinsassen leiden – die Götter strafen die Untat. Die Seeleute hängen dem Matrosen den toten Albatros um den Hals, und aus dem Symbol für Freundschaft wird ein Symbol für Schuld und Schande. Der Matrose überlebt als einziger die Reise und ist für den Rest seines Lebens gezeichnet. Der lebendeAlbatros steht für den anderen, der sich uns in fremden und weit entfernten Ländern öffnet, der um unseren Hals hängende totefür unsere Arroganz, unseren Rassismus. Wir sind von ihm besetzt und finden keinen Frieden.

Vor mehr als einem Jahr erhielt ich eine Einladung nach Wien, um im Rahmen der Vortragsreihe “Von der Notwendigkeit des Überflüssigen – Sozialwissenschaften und Gesellschaft” zu referieren. Ich sagte gern zu. Ich glaubte, ein Wien besuchen zu können, das in der Entstehungsgeschichte der internationalen Sozialwissenschaften, insbesondere in den Jahren 1870 bis 1930, der Ära von Traum und Wirklichkeit, eine so einflußreiche Rolle gespielt hatte; die Stadt, in der Sigmund Freud, den ich für den bedeutendsten Sozialwissenschaftler im 20. Jahrhundert halte, zu Hause war, bis ihn die Nazis im Jahr seines Todes zur Flucht nach London zwangen; in der die in ihren Ansichten so konträren und gleichwohl viel zuwenig anerkannten Vertreter der Politischen Ökonomie, Joseph Alois Schumpeter und Karl Polanyi, etliche Jahre gelebt haben und schließlich mein Lehrer Paul Lazarsfeld gemeinsam mit Marie Jahoda und Hans Zeisel die methodisch so innovative Studie Die Arbeitslosen von Marienthalerstellt hatte.
Kurz nachdem ich die Einladung erhalten hatte, fanden die österreichischen Wahlen statt, in deren – durchaus nicht unvermeidlichen – Folge die Freiheitliche Partei Österreichs, FPÖ, die Beteiligung an der Regierung erlangte. Die übrigen EU-Staaten suspendierten ihre bilateralen Beziehungen zu Österreich. Ich mußte mich entscheiden, ob ich dennoch nach Wien reisen wollte, und zögerte. Letztlich entschied ich mich aus zwei Gründen dafür. Zunächst lag mir daran, meine Solidarität mit dem anderen Österreich, das sich seit der Etablierung der neuen Regierung so sichtbar manifestiert, auszudrücken. Wichtiger noch war es mir, meiner Verantwortung als Sozialwissenschaftler gerecht zu werden. Wir alle haben den Albatros, der nun um unseren Hals hängt, erschossen und sind nachhaltig aufgefordert, uns für eine historische Ordnung einzusetzen, die geeignet ist, den Rassismus, von dem die moderne Welt so tief durchdrungen ist, zu überwinden.

Oberflächlich betrachtet, sind die Ereignisse in Österreich nicht besonders spektakulär. Während einiger Legislaturperioden wurde das Land erfolgreich von einer Koalition der beiden großen “Mainstream-Parteien”, der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, SPÖ, und der Österreichischen Volkspartei, ÖVP, regiert. Im Lauf der 90er Jahre verschlechterten sich deren Wahlergebnisse, und 1999 überrundete die FPÖ im ersten Wahlgang die ÖVP um mehrere hundert Stimmen. Die Koalitionsverhandlungen zwischen den Mainstream-Parteien scheiterten, die ÖVP wandte sich der FPÖ zu. Viele Österreicher, einschließlich ihres Präsidenten Thomas Klestil, reagierten bestürzt, aber die Koalition kam zustande und die neue Regierung wurde gebildet.

Die Entscheidung der ÖVP bestürzte und überraschte auch die politischen Führer der übrigen EU-Staaten. Wenngleich einige die kollektive Entscheidung, die bilateralen Beziehungen zu Österreich zu suspendieren, hinterfragten, hielt die EU an ihrer Position fest. In Umkehrfolge waren nicht nur die Österreicher, die die jetzige Regierung unterstützen, entrüstet, sondern auch etliche ihrer Opponenten, aus deren Sicht die EU überreagiert hatte: “Haider sei nicht Hitler”. Andere argumentierten, Haider vergleichbare Politiker ließen sich in allen EU-Staaten, auch in deren Regierungen finden, und folglich mache sich die EU der Heuchelei schuldig. Schließlich vertraten einige Österreicher und andere Europäer die Ansicht, es wäre angemessener gewesen, zunächst abzuwarten und, falls sich die neue Regierung eines Fehlverhaltens schuldig mache, auf die Sache bezogen zu reagieren. Zeitgleich hat sich ein “Widerstand” im Land formiert, der bis heute anhält.

Weder das Verhalten der EU noch die österreichischen Gegenreaktionen sind ohne einen Blick auf die historischen Etappen der Weltordnung und deren sozialwissenschaftliche Interpretationen hinreichend verständlich. Ich schlage daher vor, vier aufeinanderfolgende zeitliche Abschnitte anzuschauen: den seit 1989, seit 1945, seit 1492 und den nach 2000.

Das Weltsystem seit 1989

Seit 1989 konzentriert sich ein großer Teil der Weltöffentlichkeit auf die ehemals kommunistischen Länder, und zahllose sozialwissenschaftliche Konferenzen widmen sich seither dem Thema “Transformation”. In der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien und den kaukasischen Gebieten der Sowjetunion haben etliche Bürgerkriege stattgefunden, in die außenstehende Mächte aktiv involviert waren. Sozialwissenschaftler sprachen von “ethnischen Säuberungen”, Folgeerscheinung lang anhaltender ethnischer Feindseligkeiten. Selbst in Gebieten, in denen ein hoher Grad an Gewalt vermieden wurde, wie in der Tschechischen Republik, in Ungarn oder in den baltischen Staaten, wurden Anzeichen wiedererwachender ethnischer Spannungen ausfindig gemacht. Zeitgleich entbrannten sowohl in Teilen Afrikas als auch Indonesiens heftige Bürgerkriege. Die Analysen dieser Kriege in der paneuropäischen Welt (worunter ich Westeuropa, Nordamerika, Neuseeland und Australien, nicht jedoch Osteuropa fasse) unterstellten den kriegführenden Gesellschaften eine schwache zivilgesellschaftliche Ausprägung und ein historisch unterentwickeltes Verhältnis zu den Menschenrechten. Wer die Presse in Westeuropa gelesen hatte, konnte kaum übersehen, in welchem Ausmaß sich die Beschäftigung mit der sogenannten postkommunistischen Welt darauf konzentrierte, das “Problem” benennen zu können. Man glaubte es im Fehlen in der paneuropäischen Welt vermeintlich verwirklichter Standards der Moderne konstatieren zu können.

Gleichzeitig fällt auch auf, wie wenig Beachtung die Presse, die Politiker und insbesondere die Sozialwissenschaftler den Veränderungen, die seit 1989 in der paneuropäischen Welt selbst vor sich gegangen sind, schenkten. In politischen Regimen, die ihr nationales Selbstverständnis aus der Tatsache ableiteten, in einen “kalten Krieg” verwickelt zu sein, entdeckten die Politiker wie ihre Wähler, daß die seit vierzig Jahren gepflegten Arrangements sinnlos geworden waren. Warum sollte sich in Italien ein System von Koalitionen rund um eine ständige Mehrheit der Christdemokraten gebildet haben, wenn nicht wegen des kalten Kriegs? Was sollte eine gaullistische Partei in Frankreich oder eine CDU in Deutschland noch zusammenhalten? Warum sollte sich die Republikanische Partei der USA weiterhin den Zwängen einer bilateralen Außenpolitik verpflichtet fühlen? Im Ergebnis dieser Selbstzweifel zerbröckeln die bedeutenden konservativen Parteien der paneuropäischen Welt. Sie bewegen sich zwischen den Positionen eines neuen ökonomischen Ultraliberalismus und eines eher sozial orientierten Konservativismus, zwischen Bestrebungen, die angeschlagene Bürgermoral wiederaufzurichten oder in paternalistischer Weise die sozialen Netze zu sichern. Und inmitten dieses Aufruhrs fürchten einige Vertreter der sich bekämpfenden Gruppierungen um ihre sozialen Positionen und Einkommen.

Die Mitte-Links-Parteien, meist Sozialdemokraten, sind ebenfalls in Not. Im Zusammenbruch des Kommunismus kulminierte lediglich eine sich ausbreitende Desillusionierung gegenüber der traditionellen Linken in all ihren drei Hauptversionen – den kommunistischen Parteien, den sozialdemokratischen Parteien und den nationalen Befreiungsbewegungen. Diese Desillusionierung war – gar nicht so paradox, wie es zunächst scheinen mag – die Konsequenz des Erfolgs eben dieser Bewegungen, ihrer weltweiten Machtübernahme. Einmal an der Macht, erwiesen sie sich als nicht wirklich fähig, ihr historisches Versprechen einzulösen, eine neue Gesellschaft aufzubauen, zu mehr Gleichheit in einer demokratischeren Welt beizutragen. In Westeuropa bestand die traditionelle Linke überwiegend aus Sozialdemokraten. Und seit 1968, mehr noch seit 1989, wählte man sie als “kleineres Übel”, aber niemand tanzt mehr auf der Straße, wenn sie eine Wahl gewinnen. Niemand erwartet von ihnen eine Revolution, nicht mal eine friedliche. Am stärksten desillusioniert sind ihre Führer selbst, die sich mittlerweile darauf beschränken, die Sprache der “Mitte” zu sprechen. Mit der Desillusionierung ist eine Abkehr vom Staat selbst einhergegangen. Bisher von der Bevölkerung toleriert, ja sogar als fähiger Vermittler sozialer Transformation betrachtet, sieht man in ihm nun den Urheber von Korruption und verurteilt den unnötigen Einsatz von Gewalt – der Staat ist den Bürgern nicht mehr Schutzwall, sondern Last.

Die Situation in Österreich ist lediglich ein weiteres Moment in einem generellen paneuropäischen Trend. Wozu soll eine nationale Koalition in einer postkommunistischen Ära gut sein?

Und warum soll man Parteien wählen, die sich nur für den Proporz interessieren? In dieser Situation nach dem kalten Krieg hat die FPÖ am 3. Oktober 1999 26,9 Prozent der Wählerstimmen erhalten – die höchste Prozentzahl, die in irgendeinem europäischen Land nach 1945 von einer rechtsextremen Partei erreicht wurde. 1995 gewann Le Pens Front National 1,1 Prozent der Stimmen, und das war ein Schock. Die beiden bedeutendsten konservativen Parteien Frankreichs bestanden jedoch darauf, Unterstützungsangebote der Front National auf allen Ebenen abzulehnen.

Bei den Regionalwahlen 1998 konnten die konservativen Parteien in zahlreichen Regionen nur mit der Front National Mehrheiten bilden. Als fünf Parteifunktionäre die Direktive mißachteten und die Unterstützung der FN annahmen, wurden sie prompt aus ihren Parteien, der Rassemblement pour la République (RPR) und der Union pour la Démocratie Française (UDR) ausgeschlossen. Andererseits bildete Berlusconi in Italien eine von Fini, dessen Alianza Nazionale der Partei Haiders vergleichbar ist, unterstützte Regierung. Allerdings hatte sich Fini vor den Wahlen von seiner neofaschistischen Vergangenheit losgesagt.

Warum, wenden viele Österreicher ein, maß die EU dann dem, was in Österreich passiert war, eine solche Bedeutung bei? Die Antwort ist einfach. Eben weil die übrigen Mitgliedsstaaten sich nicht von Österreich unterscheiden, fürchteten sie, in absehbarer Zeit vor eine ähnliche Wahl gestellt zu werden und womöglich der Versuchung anheimzufallen, den Weg der ÖVP einzuschlagen. Die Angst vor sich selbst hatte die heftige Reaktion ausgelöst. Gleichzeitig beeinflußte die österreichische Unfähigkeit, einzusehen, daß eine Grenze überschritten wurde, die sich ganz Westeuropa gesetzt hatte, und zwar nicht im Jahr 1999, sondern 1945, die Gegenreaktion.

Die Sozialwissenschaften schenkten diesen Themen nach 1989 wenig Beachtung. Statt dessen spricht man, ungeachtet der jeweiligen politischen Provenienz, von Globalisierung, als handele es sich dabei um mehr als eine geläufige Rhetorik, hinter der sich der bereits seit langem geführte Kampf versteckt, den die kapitalistische Weltwirtschaft führt und in dem es darum geht, grenzüberschreitende Kapitalströme unangetastet zu lassen. Sand in unseren Augen. Ähnlich verhält es sich mit der endlosen Litanei von der ethnischen Gewalt, für die nicht nur Sozialwissenschaftler, sondern auch Menschenrechtsaktivisten verantwortlich zeichnen. Ethnische Gewalt ist eine beängstigende und schreckliche Realität, aber sie ist nicht die exklusive Domäne der weniger erfolgreichen, weniger weisen, weniger zivilisierten anderen. Sie ist das absolut folgerichtige Ergebnis der tiefen und zunehmenden Ungleichheit in unserem Weltsystem. Weder moralische Ermahnungen noch die Intervention der sich selbst als makellos und fortschrittlich Dünkenden in von “Rückständigen” besetzten Zonen tragen zur Lösung des Problems bei.

Die Sozialwissenschaften liefern uns weltweit kein Instrumentarium, mit dessen Hilfe wir erklären könnten, was seit 1989 geschehen ist, und damit auch keins zum Verständnis der gegenwärtigen Realität in Österreich.

Das Weltsystem seit 1945

1945 endete die Schreckensherrschaft der Nazis. Weder Hitler noch die Deutschen haben den Antisemitismus erfunden. Er war vielmehr seit langem der eigentliche Ausdruck eines tief verwurzelten Rassismus in der europäischen Welt und in seiner modernen Version schließlich während eines ganzen Jahrhunderts in der europäischen Szene heimisch. Ein Vergleich zwischen dem Paris und dem Berlin des Jahrs 1900 läßt Berlin diesbezüglich nicht schlimmer erscheinen. Der Antisemitismus ließ sich überall finden, auch während des Zweiten Weltkriegs, auch in den USA.

Wie erklärt sich dann, daß zumindest nach 1945 alle Welt entsetzt war über den Nationalsozialismus? Wenngleich sich vor 1945 nahezu jedermann in der paneuropäischen Welt offen und ohne Skrupel antisemitisch und rassistisch verhielt, hatte doch kaum jemand eine “Endlösung” angestrebt. Hitlers Endlösung verfehlte den eigentlichen Kern des Rassismus in der kapitalistischen Weltwirtschaft, der nicht darauf abzielt, Menschen auszuschließen oder gar zu vernichten, sondern darauf, sie als Untermenschen und politische Sündenböcke in das System einzubinden und ökonomisch auszubeuten. In diesem Sinn war der Nationalsozialismus – die Franzosen würden sagen, eine dérapage – ein grober Fehler, ein Bremsklotz, ein Kontrollverlust. Man könnte auch sagen, der Geist war aus der Flasche entwichen.

Rassismus galt als akzeptabel, die Endlösung dagegen nicht. Die Frage, wo die Grenzen zu ziehen seien, war immer schon heikel, und zweifelsohne hatte es bereits zuvor dérapages gegeben, aber niemals in einem solchen Ausmaß, an einem so zentralen Schauplatz und nie auf so eindeutige Weise. In der paneuropäischen Welt einigte man sich darauf, das Vergangene zu bewältigen, in dem man öffentlichen Rassismus und insbesondere öffentlichen Antisemitismus mit einem Bann belegte, tabuisierte.

Sozialwissenschaftler beteiligten sich an diesem Spiel. Nach 1945 erschienen zahlreiche Publikationen, in denen Rassentheorien angeprangert wurden. Die Deutschen begannen -zunächst zögernd, dann aber zunehmend moralisch couragiert – ,ihre Schuld zu analysieren und auf diese Weise ihre Schande zu verringern. Andere paneuropäische Länder schlossen sich dem – ebenfalls zögernd – 1989 an. Alliierte Mächte, Frankreich und die Niederlande, anerkannten als ihren Schuldanteil, die dérapage zugelassen zu haben. Einer der Gründe, warum die EU so heftig auf Haider reagierte, ist sicher die Haltung Österreichs, statt dessen darauf zu beharren, in erster Linie Opfer gewesen zu sein. Möglicherweise hatte sich eine Mehrheit der Österreicher den Anschluß nicht gewünscht; die in Wochenschauen festgehaltenen Bilder von jubelnden Wienern lassen daran zweifeln. Festzuhalten bleibt, daß diejenigen Österreicher, die weder als Juden noch als Roma galten, nach dem Anschluß als Deutsche zum “Dritten Reich” gehörten, und darin sonnte sich die Mehrheit.

Die Auffassung, der Rassismus sei gescheitert, weil zu weit gegangen, hatte in der paneuropäischen Welt nach 1945 zweierlei zur Folge: Zum einen betonte man mit Nachdruck ein Selbstverständnis als integrative, von rassistischer Unterdrückung freie Nationen. Die Länder der Freiheit sahen sich konfrontiert mit dem “teuflischen Reich” der Sowjetunion, und dessen Rassismus wurde zum Dauerthema westlicher Propaganda. Unterschiedlichste politische Entscheidungen waren von diesem Selbstverständnis durchdrungen: das Verbot der Rassentrennung durch den Obersten Gerichtshof der USA 1954; die philo-israelische Politik; gar die Begeisterung, die der Ökumene in der westlichen Welt des Christentums entgegengebracht wurde (wie auch der Idee von der Existenz eines jüdisch-christlichen Erbes).

Gleichzeitig, und gleichermaßen folgeträchtig, entstand das Bedürfnis, einen aufpolierten Rassismus in seiner urprünglichen Funktion wieder zu etablieren. Da nunmehr weder Juden noch Katholiken in überwiegend protestantischen Ländern als in das System zu integrierende Untermenschen behandelt werden konnten, sah man sich in der Ferne um. In der Zeit nach 1945 expandierte die Wirtschaft in der paneuropäischen Welt, während die Geburtsraten radikal sanken. Es begann die Ära der Gastarbeiter, wie die Deutschen die von ihnen angeworbenen ausländischen Arbeitskräfte etwas verschämt genannt hatten.

Die Gastarbeiter kamen aus Lateinamerika, Süd- und Ostasien, Indien, Afrika, den Mittelmeerländern und seit 1989 aus den vormals sozialistischen Staaten nach Nordamerika und Westeuropa. Sie suchten und fanden Arbeit – ihre Arbeitskraft war für den Aufschwung unerläßlich. Aber sie wurden fast durchgängig sozial, politisch und ökonomisch benachteiligt.

Als die Weltwirtschaft in den 70er Jahren in ihre lang anhaltende Kondratieff-B-Phase eintrat und die Arbeitslosigkeit erstmals seit 1945 anstieg, wurden die Immigranten zu geeigneten Sündenböcken. Plötzlich traten wieder ultrarechte Kräfte auf, manche an der Seite führender konservativer Parteien, andere als eigenständige Gruppierungen.(Letztere warben nicht nur bei Konservativen um Unterstützung, sondern auch bei den Arbeiterparteien der linken Mitte.)In den 90er Jahren wurden sie zunehmend bedeutender.

Unter den führenden Parteien herrschte Verunsicherung darüber, wie mit dem Wiederaufleben mehr oder weniger offen rassistischer Gruppierungen umzugehen sei. Man fürchtete, der Geist könnte noch einmal aus der Flasche entweichen und die soziale Harmonie in ihren Staaten zerstören. Einige vertraten die Ansicht, man solle die Rechten unterlaufen, indem man ihre Anti-Einwanderungspolitik in gemäßigter Form übernähme, andere forderten, sie wie einen Virus zu behandeln, den es schnellstmöglich zu isolieren gelte.

Auch in diesem Fall erwiesen sich Sozialwissenschaftler nicht als hilfreich. Sie hielten an der These vom deutschen Sonderweg fest und ließen die Tatsache außer acht, daß das gesamte Weltsystem lange Zeit mit dem Feuer gespielt hatte. Sie unternahmen den Versuch, die paneuropäische Welt freizusprechen, indem sie auf deren nichtrassistische Rhetorik verwiesen. Tatsächlich war der Rassismus hier so virulent wie vor 1933 oder 1945 – er hatte lediglich andere Objekte mit Haß und Angst besetzt. Ist derzeit nicht die Rede vom “Zivilisationsbruch”, einem Terminus, den ein Sozialwissenschaftler eingeführt hat?

Die Anwürfe der EU gegen Österreich sind selbst mit einem rassistischen Unterton unterlegt, soweit ich feststellen kann. Denn wie argumentiert die EU? Außerhalb der paneuropäischen Welt, eventuell auch in so nahe benachbarten Ländern wie Ungarn und Slowenien, seien Haiders denkbar – normal? -, undenkbar jedoch im “zivilisierten” Europa. Es gälte, die moralische Überlegenheit Europas zu verteidigen, und Österreich drohe dies zu vereiteln. Das ist wahr, Österreich droht, diese zu vereiteln und muß von seiner unhaltbaren Position abrücken. Aber der Ausgangspunkt der EU-Beanstandung ist nicht über den Verdacht eines moralischen Makels erhaben. Die universellen Werte Westeuropas sind durchsetzt von dem chronischen, konstitutiven Rassismus der paneuropäischen Welt.

Das Weltsystem seit 1492

Als die Europäer auf dem amerikanischen Kontinent landeten und von ihm Besitz ergriffen, trafen sie auf eine ihnen gänzlich fremde Bevölkerung. Einige Einheimische lebten als einfache Jäger und Sammler, andere in hochentwickelten Weltreichen. Schlechter bewaffnet und mit einem anfälligeren Immunsystem ausgestattet, konnten sich weder die einen noch die anderen gegen die Eroberer behaupten. Die Europäer mußten entscheiden, wie sie mit diesen Menschen umgehen wollten. Einige, besonders diejenigen, die sich zum ersten Mal große Ländereien angeeignet hatten, wollten sie so bald wie möglich ausbeuten. Sie rechtfertigten sich mit der Behauptung, diese Menschen seien Barbaren und zu nichts anderem als der Sklaverei tauglich. Christliche Missionare, entsetzt über die Behandlung der einheimischen Bevölkerung durch die Konquistadoren, beharrten darauf, daß es notwendig und auch möglich sei, die Seelen dieser Menschen zu gewinnen und sie zum Christentum zu bekehren. Einer ihrer Vertreter war Bartolomé de Las Casas, dessen Streitbarkeit 1550 zu einer berühmt gewordenen Debatte um die Natur des anderen führte. Bereits 1447 hatte er für Karl V. in einem kurzen Bericht den Horror, der in Amerika vor sich ging, zusammengefaßt und geschlußfolgert:

“Christen haben lediglich um des Goldes willen, um in kürzester Zeit unermeßlich reich zu werden, um höchste Positionen, die ihnen in keiner Weise zustehen, einzunehmen, so viele wertvolle Menschen getötet und ihre Seelen zerstört … Sie erwiesen diesen bescheidenen, geduldigen und so leicht zu besiegenden Menschen weder Respekt noch Rücksichtnahme, noch Achtung … Sie haben sie wie Tiere behandelt (gäbe Gott, sie hätten sie so gut und rücksichtsvoll behandelt wie Tiere); sie haben sie schlimmer behandelt, wie den letzten Dreck.”1

Der leidenschaftliche Verteidiger der Rechte der Einheimischen war gleichzeitig Bischof von Chiapas, wo die mexikanischen Indianer bis heute um ihre Rechte kämpfen. Karl V. ließ sich zunächst von Las Casas’ Argumenten dazu verführen, ihn zum Protektor der Indianer zu machen. Später kamen ihm jedoch Zweifel, und im Jahr 1550 berief er eine Junta von Richtern, die einem Streitgespräch zwischen Las Casas und einem seiner weiteren Berater, Juan Ginás de Sepúlveda, beiwohnen sollten. Sepúlveda, erklärter Gegner Las Casas’, rechtfertigte mit vier Argumenten die Behandlung der Indianer, die Las Casas beanstandet hatte: Sie seien Barbaren und folglich von Natur aus zivilisierten Völkern unterlegen. Sie seien abergläubisch und brächten Menschenopfer dar, ein Verbrechen gegen das Naturgesetz, gegen das einzugreifen sei. Eine Intervention schütze unschuldiges Leben und erleichtere die Christianisierung. Diese Argumentation klingt unglaublich aktuell. Man tausche lediglich den Begriff Christentum durch den Begriff Demokratie aus.

Las Casas erwiderte, kein Volk dürfe genötigt werden, sich aufgrund einer unterstellten kulturellen Unterlegenheit einem anderen Volk zu unterwerfen, noch für Verbrechen bestraft werden, die für sie keine Verbrechen seien. Unschuldiges Leben zu schützen sei moralisch nur dann gerechtfertigt, wenn dadurch nicht noch größeres Übel verursacht werde. Und schließlich könne das Christentum sich nicht angemessen durch das Schwert behaupten. Auch diese Argumentation klingt zeitgenössisch.

Las Casas stellte das eigentliche Selbstverständnis des spanischen Imperiums in Frage. Möglicherweise war dies der Grund, warum ihm Karl V. seine Unterstützung schließlich entzogen hat. Das Faszinierende an diesem bedeutenden Streitgespräch vor der Junta in Valladolid ist, daß niemand sagen kann, welche Argumentation für die Junta ausschlaggebend war. Dies ist in gewissem Sinn symptomatisch für das moderne Weltsystem – haben wir uns je entschieden? Können wir uns überhaupt entscheiden? War Las Casas, der Antirassist und Verteidiger der Unterdrückten, gleichzeitig bestrebt, eine “gute” Variante der Kolonisierung zu institutionalisieren? Ist es denkbar, daß jemals jemand durch das Schwert bekehrt werden kann?

Seither hat sich eine globale kapitalistische Weltwirtschaft etabliert, die ihre Hierarchien stets rassistisch begründet hat. Es gab immer Menschen, die gegen die schlimmsten Erscheinungsformen dieses Rassismus opponiert haben und damit auch begrenzte Erfolge erzielten, und gleichzeitig stets brutale Massaker, Endlösungen vor der Endlösung, weniger bürokratisch, systematisch und geplant durchgeführt und sicherlich weniger offensichtlich.
Und wie verhält es sich mit der Deklaration der Menschenrechtedurch die Französische Revolution? Die Französische Revolution und ihr egalitärer Universalismus verkörpern zweifellos den Protest gegen Hierarchien, Privilegien und Unterdrückung. Die Geste, die Anrede “Monsieur” zugunsten der des “Citoyen” abzulehnen, symbolisiert diesen Protest. Alle Bürger sollten sich an der Regierung beteiligen können, nicht nur eine begrenzte Gruppe von Aristokraten. Selbst wenn jedoch jemand darüber befindet, daß jeder Mitglied einer Gruppe sein kann, muß zuvor jemand entscheiden, wer die Mitglieder dieser Gruppe benennt, und dies impliziert notwendigerweise, daß ihr einige nicht angehören. Der Entwurf schließt demnach sowohl ein als auch aus.

Während der zwei Jahrhunderte, die seit der Französischen Revolution vergangen sind, war das Ausschließen ebenso bedeutsam wie das Einschließen. Der österreichische Politiker Karl Lueger definierte die Begrenzung der Staatsangehörigkeit 1883 wie folgt: “Wir sind Menschen, christliche Österreicher”,2 eine Definition die offenbar den Beifall der Wiener Wähler, wenn auch nicht des damaligen Kaisers fand. Lueger war nicht bereit, die Judeo-Magyaren einzubeziehen, die ihm so fremd waren wie die ausländischen Kapitalisten, die er ebenfalls anprangerte. Die seinerzeit gestellte Frage, ob es sich bei dieser Haltung um Protofaschismus oder lediglich um einen “kalkulierten Extremismus” handele, wirft das Phänomen Haider heute erneut auf.

Zu eben dem Zeitpunkt in der modernen Geschichte, zu dem uns die Französische Revolution dieses Minenfeld “Bürgertum” vermachte, befand sich die Welt des Wissens in einem entscheidenden Umbruch. Der Prozeß der Säkularisierung hatte in der Loslösung der Philosophie von der Theologie seinen erfolgreichen Abschluß gefunden. Nun, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, gerieten die Termini Wissenschaft und Philosophie zu ontologischen Gegensätzen.

Die Strukturen des Wissens im modernen Weltsystem wurden von dieser Spaltung geprägt. Und mit dieser Spaltung ging eine intellektuelle und institutionelle Trennung zwischen der Suche nach Wahrheit (die Domäne der Naturwissenschaften) und der nach dem Guten und Schönen (die Domäne der Philosophie oder der Geisteswissenschaften) einher. Die sich später entwickelnden Sozialwissenschaften sind von diesem Bruch geprägt, ihre Unfähigkeit, über den konstitutiven Rassismus der kapitalistischen Welt zu reden, ist durch ihn bedingt.
Die Französische Revolution hinterließ uns als bedeutendes kulturelles Erbe die Auffassung, daß politischer Wandel normal und das Volk souverän sei, zwei in ihren Implikationen extrem radikale Ideen. Weder der Untergang der Jakobiner noch das Ende der Napoleonischen Herrschaft verhinderten, daß diese Auffassungen das Weltsystem durchdrangen und allgemein akzeptiert wurden. Die Herrschenden mußten sich mit der neuentstandenen geo-kulturellen Realität arrangieren. Wenn politischer Wandel als ein normaler Vorgang zu betrachten war, war es wichtig zu wissen, wie das System funktioniert, um den Prozeß des Wandels kontrollieren zu können. Aus diesem Bedarf bezogen die Sozialwissenschaften als der Wissenszweig, der sich mit sozialem Handeln, sozialen Strukturen und sozialem Wandel beschäftigt, ihre entscheidenden Anstöße.

Die Bereiche des Wissens trennten sich in einer Weise, die uns heute selbstverständlich erscheint, obgleich man im 17. Jahrhundert nicht so gedacht hatte. Die Naturwissenschaften betrachteten die natürliche Welt als ihren exklusiven Bereich, die Geisteswissenschaften die der Ideen, der kulturellen Produktionen und der intellektuellen Theorien. Als es um den Bereich der sozialen Wirklichkeit zu gehen begann, wetteiferten beide Kulturen um sie, und ein “Methodenstreit” entbrannte. Die Sozialwissenschaften spalteten sich in verschiedene Lager. Einige der im Universitätssystem des 19. Jahrhunderts entstehenden Disziplinen lehnten sich eng an das ideographische, humanistische (die Geschichte, Anthropologie, Orientalistik), andere an das nomothetische, naturwissenschaftliche (die Ökonomie, Soziologie, Politikwissenschaft). Letztlich ging es um die Frage, ob sie lediglich mit der Suche nach Wahrheit befaßt seien oder ob die Frage nach dem Guten, Wahren, Schönen ebenfalls ihr Gegenstand sei. Die Sozialwissenschaften haben dieses Thema nie bewältigt.

Am Bestand des sozialen Wissens des 19. Jahrhunderts bis hin zum Jahr 1945 läßt sich ablesen, daß sich die Sozialwissenschaften nie direkt mit dem Thema Rassismus befaßt haben; ebenso die Geschichtswissenschaft, die einzige moderne Sozialwissenschaft, die lange vor dem 19. Jahrhundert existierte. Aus einleuchtenden Gründen widmete sie sich lediglich historischen Nationen, kein rein scholastisches Vorgehen, sondern ein politisch intendiertes. Als historische Nationen galten die mächtigen, modernen Staaten, die ihre Historiker über sich schreiben lassen konnten. Noch in den 60er Jahren konnte Hugh Trevor-Roper die unglaubliche Aussage machen, daß Afrika keine Geschichte habe. Der Begriff “historische Nation” gerät in der Praxis der Geschichtswissenschaft zu einer rassistischen Kategorie. Es ist demzufolge kein Zufall, daß sich 95 Prozent der vor 1945 betriebenen Geschichtsschreibung fünf historischen Nationen widmen: Großbritannien, Frankreich, den Vereinigten Staaten von Amerika, den Deutschlands (ich wähle diese Formulierung bewußt) und Italien, die restlichen Prozent den weniger geschichtsmächtigen europäischen Staaten wie den Niederlanden, Schweden oder Spanien. Dem europäischen Mittelalter und den Quellen des modernen Europas, dem antiken Griechenland und Rom, schenkt ein kleiner Prozentsatz seine Beachtung.

Wie verhält es sich mit den anderen Disziplinen der Sozialwissenschaften? Ökonomen entwickelten eine allgemeine Theorie des homo oeconomicus. So vertrat Adam Smith die These, daß alle Menschen von Natur aus danach streben, “zu tauschen, zu verkaufen und Handel zu treiben”. In seiner Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichtums (The Wealth of Nations)fordert er seine Leser (und die britischen Regierungen) dazu auf, davon abzulassen, dieses allen Menschen innewohnende Streben zu behindern. Ricardos Theorie des internationalen Handels stützt sich auf ein Konzept der relativen ökonomischen Überlegenheit, das er mit einem Beispiel erläutert, in dem es um England und Portugal geht. Weder erwähnt er, daß dieses Beispiel der realen Geschichte entlehnt ist, noch geht er darauf ein, bis zu welchem Grad sich diese sogenannte relative ökonomische Überlegenheit der britischen Machtüberlegenheit über den schwächeren portugiesischen Staat verdankt.

Tonangebende Ökonomen vertreten die Ansicht, daß ein nach ihren Vorgaben den Gesetzen des Markts unangepaßtes ökonomisches Verhalten der Analyse nicht wert sei. Derlei Anmaßungen täuschen eine politische Unschuld vor und vereiteln die Analyse der ökonomischen Ursachen oder Konsequenzen rassistischer Bewegungen. Schlimmer noch, ein politisch rassistisches oder gegen Rassismus widerständiges Verhalten gilt ihnen als gleichermaßen ökonomisch unvernünftig.

Die politischen Wissenschaften trugen ebenfalls wenig zur Klärung bei. Sie konzentrierten sich auf Verfassungsfragen, ein Ergebnis ihrer historischen Anlehnung an die Rechtswissenschaften, und machten aus dem Rassismus ein formales Problem der Gesetzgebung. So galt die südafrikanische Apartheidspolitik als rassistisch, weil formal in der Gesetzgebung verankert, wohin gegen Frankreich als nichtrassistisch galt, weil es keine Formen legalisierter Diskriminierung aufwies. Vor 1945 entwickelten die politischen Wissenschaften die, wie sie sie nannten, “vergleichende Regierungslehre”. Aber welche Regierungen verglichen sie miteinander? Die der fünf führenden paneuropäischen Länder. Kein anderes Land war es wert, untersucht zu werden, denn kein anderes galt als wirklich zivilisiert.

Nun liegt die Annahme nahe, mit den Soziologen, denen der Ruf vorauseilt, innerhalb der Universitäten die Heimstatt des politischen Radikalismus zu sein, verhalte es sich anders. Vor 1945 lassen sich zwei Gruppen von Soziologen ausmachen: die eine vertrat explizit die Überlegenheit der Weißen, insbesondere in den USA, die andere beschrieb die Lage der Unterprivilegierten in den großen städtischen Zentren und bemühte sich, die Devianz zu erklären, die sie diesen Bürgern zuschrieben. Wenngleich die Untersuchungen intendierten, diese Menschen zu fördern, stand der Befund, daß es sich bei ihnen um abweichendes Verhalten handele, ein zu korrigierendes und den Normen der Mittelschichten anzupassendes Verhalten, außer Frage. Und da sich die unteren Klassen in den meisten Fällen, nicht nur in den USA, ethnisch von den Mittelklassen unterscheiden, ist der rassistische Unterton, der diesen Untersuchungen unterlegt ist, nicht zu überhören, mag dies den Theoretikern selbst auch gar nicht bewußt gewesen sein.

Geschichtswissenschaft, Politische Wissenschaften, die Ökonomie und Soziologie – sie alle widmeten ihre Analysen lediglich Phänomenen der paneuropäischen Welt, die sie zur Welt der Moderne und der Zivilisation erklärt hatten. Ihre Universalismen gaben die Hierarchien innerhalb des modernen Weltsystems vor. Die Analyse der außereuropäischen Welt war anderen Disziplinen vorbehalten: die Anthropologie befaßte sich mit den “barbarischen Völkern ohne Geschichte”, die Orientalistik mit den nichtwestlichen Hochkulturen, die, warum auch immer, ohne europäische Intervention und ohne eine Reorganisation ihrer sozialen Dynamiken nicht in der Lage seien, sich die Moderne anzueignen. Insbesondere die Ethnographie sprach ihren “Stämmen” so lange jegliche Geschichtlichkeit ab, wie sie nicht in Kontakt mit dem, was sie unter Kultur verstehen, gekommen seien. Und orientalistische Studien betrachteten die Geschichte nichtwestlicher Hochkulturen als eingefroren.

Die außereuropäische Welt repräsentierte “Tradition”, die paneuropäische Modernität, Entwicklung und Fortschritt. Zur Beschreibung der modernen Welt griffen die Sozialwissenschaftler auf drei Disziplinen, die Ökonomie, die politische Wissenschaft und die Soziologie, zurück. Zur Analyse der außereuropäischen Welt hielt man weder diese Trinität noch die Geschichtswissenschaft für notwendig. In der Herausbildung verschiedener Arenen, in denen soziale Aktionen stattfinden – der Markt, der Staat und die Zivilgesellschaft – erkannte man das Wesen der Moderne. Da Naturwissenschaften und Philosophie getrennt voneinander betrieben wurden, gab es niemanden, der darauf hinwies, daß es sich bei diesen Theorien eher um die Annahmen liberaler Ideologie denn um plausible Beschreibungen sozialer Realität handelte. So verwundert es nicht, daß die Sozialwissenschaften sich zum Verständnis des Nationalsozialismus als wenig hilfreich erwiesen. Und die Modifikationen nach 1945 reichen nicht aus, nun das Phänomen Haider mit ihrer Hilfe einordnen zu können. Mit irgendeiner Form von Widerstand gegen dieses Phänomen war nicht zu rechnen, bestenfalls mit dessen Einordnung als “abweichendes Verhalten”, ein Verhalten, dem man mit sanfter, gönnerhafter Sympathie begegnet.

Sozialwissenschaftler waren so sehr mit den Geburtswehen der modernen Weltordnung beschäftigt, daß sie wenig Interesse für die bereits bestehende aufbrachten. Ihr Streben nach wissenschaftlicher Unabhängigkeit zeigte immer noch Spuren des Ablösungsprozesses von der Kirche. Als Max Weber von der Ernüchterung der Welt sprach, bediente er sich einer theologischen Diktion, obgleich er über den preußischen Nationalismus herzog. Der schreckliche Zusammenbruch der bürgerlichen Werte, den der Erste Weltkrieg ausgelöst hatte, veranlaßte Weber, in seinem Münchner Vortrag “Wissenschaft als Beruf” die Sozialwissenschaften zu ermahnen, sich den Blick nicht von falschen Hoffnungen verstellen zu lassen:

“Nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns, sondern zunächst eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte, mag äußerlich jetzt siegen welche Gruppe auch immer. Denn: wo nichts ist, da hat nicht nur der Kaiser, sondern auch der Proletarier sein Recht verloren. Wenn diese Nacht langsam weichen wird, wer wird dann von denen noch leben, deren Lenz jetzt scheinbar so üppig geblüht hat?”3

Das Weltsystem nach 2000

Das starke Wahlergebnis für die FPÖ und die heftige Reaktion der EU sind wichtige Anzeichen einer gegenwärtigen Krise. Der Wechsel von einem grundlegenden Zukunftsoptimismus, der sicheren Annahme, die Dinge würden besser werden, hin zu einer grundlegenden Furcht, dem könnte nicht so sein, hat den wohlhabenden Teil der Welt erreicht. In Österreich, in ganz Westeuropa und in den Vereinigten Staaten ist das Vertrauen in die Reformfähigkeit, in einen linearen Fortschritt, einer Skepsis gegenüber den Versprechen der sowohl konservativen als auch linksliberalen Mainstream-Politiker gewichen. Die zentrale Übereinkunft des Liberalismus des 19. Jahrhunderts gilt nicht mehr. 1968 grundsätzlich angezweifelt, wurde sie 1989 endgültig begraben.

Ein Weltsystem, das zusammenbricht, weil seine Anpassungsregularien sich erschöpft haben, stehen die Mächtigen und Unterprivilegierten nicht untätig gegenüber. Sie werden Sorge dafür tragen, daß es durch ein System ersetzt wird, in dem Hierarchien und Ungleichheiten beibehalten werden, wie unterschiedlich die Prinzipien auch sein mögen, auf denen sie beruhen. Für solche Leute ist Haider ein Demagoge und eine Bedrohung. Er versteht so wenig von der gegenwärtigen Wirklichkeit, daß er sich nicht einmal im klaren darüber ist, wie wichtig eine jährliche Verdoppelung, Verdrei-, Vervierfachung der Einwandererzahlen während der nächsten 25 bis 0 Jahre ist, wollen die Österreicher ihren gegenwärtigen Lebensstandard halten; daß ohne einen erheblichen Arbeitseinsatz der Immigranten die Altersabsicherung der Bevölkerung nicht zu gewährleisten ist. Es ist zu befürchten, daß eine neue Herrschaft von Demagogen die paneuropäische Welt in Bürgerkriege stürzt.

Es gibt Kräfte im Transformationsprozeß, die sich von der FPÖ und der Führerschaft der EU unterscheiden. Aber sind sie sich im klaren darüber, was sie wirklich wollen? Die Sozialwissenschaft kann hier eine Rolle spielen, aber es muß eine Sozialwissenschaft sein, die die kulturelle Trennung zwischen der Suche nach Wahrheit und der nach dem Guten überwinden und mit dem Phänomen einer anhaltenden Unsicherheit umgehen kann.

Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Umbrüche. Muß uns diese Tatsache bedrohen?

Während der 68er Revolte in Frankreich machte der Studentenführer Daniel Cohn-Bendit den taktischen Fehler, Deutschland einen kurzen Besuch abzustatten. Da er deutscher, nicht französischer Staatsangehöriger war, verweigerte ihm die Regierung de Gaulle die Wiedereinreise. In Paris skandierten die Studenten : “Wir sind alle deutsche Juden, wir sind alle palästinensische Araber.” Eine gute Parole, eine, der man sich anschließen kann. Man könnte ihr hinzufügen: “Wir sind alle Jörg Haider.” Wenn wir die Haiders dieser Welt bekämpfen wollen, und wir müssen sie bekämpfen, müssen wir zunächst uns selbst anschauen. Als die österreichische Regierung gebildet worden war, rief Israel aus Protest seinen Botschafter zurück. Nur etwa einen Monat später brachte die Knesset Premierminister Barak mit dem Antrag, daß jedes Referendum zum Rückzug aus den Golanhöhen einer “speziellen Mehrheit” bedürfe – ein Code für eine Vorbehaltsklausel, die den arabischen Bürgern Israels de facto in dieser Sache ihre Bürgerrechte entziehen würde – ,in große Schwierigkeiten. Einer der Hauptbefürworter dieses Antrags war Natan Sharansky, der bekanntermaßen gegen den Antisemitismus des sowjetischen Regimes protestiert hatte. Ihm ist entgegenzuhalten, daß im Kampf gegen den Rassismus keine unterschiedlichen Regeln für Österreich, Israel, die ehemalige Sowjetunion oder die Vereinigten Staaten gelten können, sondern allgemeingültige gefunden werden müssen.

Der Albatros hängt an unserem Hals und macht Widerstand zu einer moralischen Pflicht, die ohne eine Analyse der Verhältnisse, gegen die es zu opponieren gilt, nicht klug und erfolgversprechend erfüllt werden kann. Eine solche Analyse zu leisten ist die moralische und intellektuelle Aufgabe der Sozialwissenschaften. Dazu müssen sie die Positionen aufgeben, die uns bisher in unserer Erkenntnis-und Wahrnehmungsfähigkeit verkrüppelt haben. In einer Zeit des Übergangs können wir alle großen Einfluß auf die Ereignisse nehmen. In Momenten struktureller Umwandlungen sind die Schwankungen wild, und kleine Anstöße können große Wirkungen haben; eine Ausgangssituation, die Möglichkeiten offeriert, jedoch gleichzeitig einen moralischen Druck erzeugt. Sollte die Welt am Ende dieser Übergangszeit nicht manifest besser geworden sein, als sie es jetzt ist -und das dem so sein wird, ist gut möglich – dann sind wir selbst dafür verantwortlich.

Leicht gekürzte Fassung des Vortrags “The Racist Albatross: Social Science, Jörg Haider, and Widerstand”, gehalten an der Universität Wien am 9. März 2000.

Bartolomé de Las Casas, , Paris 1996 (1547), S.52.

Zitiert nach: Hellmut Andics, , Wien 1983, S.271.

Max Weber, , Gesamtausgabe, Bd. 17, hrsg. von W.J. Mommsen u.a., Tübingen 1992, S.251.

Published 4 January 2001
Original in English
Translated by Gaby Zipfel
First published by Mittelweg 36 (German version)

Contributed by Mittelweg 36 © Immanuel Wallerstein / Gaby Zipfel / Mittelweg 36 / Eurozine

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