Der Angreifer von außen

Wie in sowjetischen Schulbüchern ein unkriegerisches Imperium konstruiert wurde

Als wir in den Achtzigerjahren in die sowjetische Schule gingen, gab es einen Schatz, der von Kind zu Kind weitergereicht wurde – die Tomek-Bücher. Das war klassische Abenteuerliteratur für die Heranwachsenden – die Hauptfigur, ein Junge namens Tomek, reiste um die Welt und erlebte bei seiner Jagd auf wilde Tiere allerlei Abenteuer. Die Lektüre dieser Buchreihe entführte die jungen Leser nach Australien, Afrika und Südamerika. Das las sich spannend hinter dem Eisernen Vorhang im Moskau der Achtzigerjahre, weil sich dadurch eine winzige Gelegenheit bot, an die in den Büchern beschriebenen, aufregenden Orte zu gelangen. 

Der erste Band der Serie hieß Tomek im Land der Kängurus. Er beginnt mit einer Szene, die nicht in Australien spielt, sondern in einer Schule in Warschau: Die Kinder einer Klasse unterhalten sich über ihren verhassten Lehrer. Dann erfährt der Leser, dass es um das Jahr 1902 geht, die Kinder polnisch sind und der Lehrer ein russischer Trunkenbold, der kürzlich in die Schule versetzt wurde, um die Kinder zu russifizieren – die polnische Sprache zu verbieten und ihre polnischen Nationalgefühle auszurotten. Wie dem Leser auch mitgeteilt wird, ist Tomek, Sohn eines polnischen Revolutionärs im Exil, die Zielscheibe der Angriffe des Lehrers. Doch Tomek zeigt sich als cleverer Junge, der immer einen Weg findet, wie er sich wehren kann. Einige Seiten später, nachdem er seinem Lehrer wieder einmal einen lustigen Streich gespielt hat, geht Tomek nach Hause und trifft dort auf einen Fremden, einen Freund seines Vaters. Er bietet Tomek an, ihn zu seinem Vater zu bringen, damit er diesen auf ein aufregendes Abenteuer begleiten kann, nach Australien, um dort wilde Tiere für einen Zoo in Deutschland einzufangen. Tomek willigt ein, und an diesem Punkt beginnt die eigentliche Geschichte. 

Unsere sowjetische Kindheit war reich an Büchern über Revolutionäre und ihren tapferen Kampf gegen den Zaren, aber die Tomek-Bücher gehörten zu den Raritäten, die eine etwas andere Geschichte des zaristischen Regimes erzählten – darüber, dass es nicht nur repressiv, sondern auch imperialistisch war.

«Notwendigkeiten» und «Beitritte»

In den sowjetischen Schulen wurde das zaristische Regime als das repressivste und rückständigste Regime in Europa dargestellt, der imperialistische Charakter des russischen Staates im historischen Narrativ jedoch nicht weiter hervorgehoben. An den Universitäten war die Darstellung etwas komplexer, doch die besucht schließlich nicht jeder, und so ist es die Schulbildung, die das Selbstbild einer Nation prägt.

Nehmen wir Peter den Großen – er wurde in unseren Schulbüchern immer als positive historische Figur dargestellt. Als Modernisierer des Landes «öffnete er das Fenster nach Europa», um den großen russischen Dichter Alexander Puschkin zu zitieren. Peter I. tat dies, indem er Sankt Petersburg bauen ließ, doch zunächst nahm er den Schweden das Baltikum ab. Nie wurde uns erzählt, wie sich die einheimische Bevölkerung bei dieser Übernahme fühlte. Es war die glorreiche Tat eines großen Zaren, der Russland zwecks Europäisierung auf einen neuen Weg brachte.

In unseren Schulbüchern wurde dafür ein simpler Grund genannt – für Russland war ein Zugang zur Ostsee so «notwendig» wie der zum Schwarzen Meer. Andernfalls hätten wir es nie in die Moderne geschafft. Was andere Nationen und Länder über diese «Notwendigkeit eines Zugangs zum Meer» dachten, welcher Preis für ihn gezahlt wurde und ob dieser Zugang vielleicht auch für andere Länder notwendig war, wurde im Geschichtsunterricht nicht besprochen.

Im 18. und 19. Jahrhundert fand eine dramatische territoriale Expansion Russlands statt, und darüber wurde in russischen Schulen diskutiert. Das offizielle Narrativ behauptet, das Russische Reich sei als einziges auf friedvolle Weise entstanden – andere Nationen wollten ihm ganz einfach beitreten. Dafür wurden im Schulunterricht zwei Beispiele angeführt: die Ukraine und Georgien.

Die Ukraine, so versicherten die russischen Schulbücher, wurde Teil Russlands, als Hetman Bohdan Chmelnyzkyj, Anführer des Kosakenaufstands gegen die polnische Herrschaft, den russischen Zaren Alexei I. um Patronat und Protektion bat, weil die katholischen Polen die Kosaken mit ihrem orthodoxen Glauben unterdrückten. Im Jahr 1654 reisten russische Gesandte in die ukrainische Stadt Perejaslawl, und beide Parteien vereinbarten ein Bündnis. Die wirkliche Geschichte der Annexion der Ukraine war viel komplexer – Russland verleibte sich jenes Gebiet, das im Wesentlichen dem Territorium der heutigen Ukraine entspricht, erst nach einer Reihe von Teilungen Polens und nach der Eroberung der Krim ein. 

Für Georgien lautete die Formulierung, es sei «dem Russischen Reich beigetreten»: Gemäß der offiziellen russischen Lesart unterzeichnete Zar Paul I. im Jahr 1801 ein Dekret über die Eingliederung Georgiens und berief sich hierbei auf den letzten Willen des georgischen Königs Georgi XII. Die wirkliche Geschichte sah anders aus: Als Georgi am 28. Dezember 1800 starb, war das Königreich zwischen den Ansprüchen zweier rivalisierender Erben zerrissen, die der russische Zar gleichermaßen ablehnte, weswegen er einfach beschloss, die Monarchie abzuschaffen und das Land von Russland verwalten zu lassen. Der georgische Gesandte in Sankt Petersburg reagierte mit einer Protestnote, blieb jedoch erfolglos. Im Mai 1801 entmachteten russische Truppen den georgischen Thronfolger und setzten eine Regierung unter der Herrschaft eines russischen Generals ein. 

Aus diesen sehr selektiven historischen Geschehnissen bildete sich das bemerkenswerte Narrativ heraus, Russland sei nie der Angreifer gewesen. Russland habe, im Gegenteil, stets unter Beschuss gestanden und sich gegen den Osten und vor allem gegen den Westen verteidigt.

Kreuzzüge und Kreuzfahrer

Werfen wir einen Blick auf das dramatischste Ereignis der mittelalterlichen Geschichte Russlands – die Invasion der Mongolen. Russland führte einen verzweifelten Kampf gegen sie, und im heikelsten Moment fiel der Westen den Russen in den Rücken, drangen Kreuzritter in die mittelalterliche Rus ein. Das ist, gemäß des russischen Schulbuchnarrativs, die Geschichte von Alexander Newski, des legendären russischen Fürsten, der 1242 in der Entscheidungsschlacht auf dem zugefrorenen Peipussee Schweden und Deutsche besiegte. Die wahre Geschichte von Alexander Newski war weniger glorreich und komplexer: Der lokale Kriegsherr wurde von der Handelsrepublik Nowgorod angeheuert, um ihre Interessen im Baltikum zu schützen, das umkämpft war von der Republik, den Schweden und dem Deutschritterorden. Es gab in der Gegend katholische Kreuzzüge, aber nicht wegen Russland, sondern weil das Gebiet von Heiden bevölkert war und die Katholiken es für ein legitimes Ziel ihrer Missionskampagnen hielten. Dasselbe taten auch die Nowgoroder, die die Esten zu bekehren versuchten.

Alexander Newski gewann eine direkte Konfrontation zwischen dem Westen und den Russen und wurde deshalb von den russischen Zaren zum Heiligen erklärt. In der Sowjetunion ehrte ihn der Regisseur Sergei Eisenstein mit einem nach ihm betitelten Film – der auf Befehl Stalins entstand. Eine Geschichtsstunde über Newski war immer ein guter Moment, um daran zu erinnern, dass der Westen schon immer imperialistisch gewesen sei. Er hatte seine Kreuzzüge im Nahen Osten geführt und dasselbe auch gegen Russland versucht, doch die Russen hatten gesiegt.

In der Debatte um die Kreuzzüge stehen die Russen deswegen immer als Gegner der Kreuzfahrer da. Im imperialen Diskurs brachte dies eine eigenartige Selbstwahrnehmung hervor: Dank der Geschichte von Alexander Newski hatten die Russen lange geglaubt, der Westen habe Russland unterwerfen wollen, so wie er den Nahen Osten unterworfen hatte, und dass er letztlich das Land kolonisieren wollte. Die Russen, die selbst ein Imperium errichtet hatten, fühlten sich also nichtsdestotrotz als Zielscheibe einer Reihe von Kolonisierungsversuchen der westlichen Staaten.

Die Geschichte von Alexander Newski ist in der russischen Lesart der Historie noch aus einem anderen Grund von zentraler Bedeutung: Der vermeintliche Kreuzzug des Deutschritterordens gegen Nowgorod wurde als viel größeres Vergehen aufgefasst als die Kreuzzüge zur Einverleibung Jerusalems, denn die Russen waren immerhin Christen wie die Deutschen. Und das bedeutet, dass der Westen schon immer verräterisch war und bei seinen Angriffen auf Russland stets Ideologie als Waffe einsetzt. 

Der Mythos um Alexander Newski trug dazu bei, die einzigartige Stellung der russisch-orthodoxen Kirche in der russischen Gesellschaft zu festigen. Die russische Kirche war immer eine Nationalkirche und eng mit dem Staat verbunden; der russische Zar ihr Oberhaupt. Die russische Orthodoxie basiert auf dem Konzept, Moskau sei das «dritte Rom» (nach dem Alten Rom und Konstantinopel), und auf dem Glauben an die Auserwähltheit Russlands. Das «auserwählte» Russland sah sich permanent von zahlreichen Feinden umgeben. In diesem Sinne unterstellt die russisch-orthodoxe Kirche der katholischen stets Expansionsbestrebungen, wofür die Newski-Episode als perfekter Beweis dient. Diese Mentalität wirkt bis in unsere Zeit: Nur zwei Jahre nach Putins Machtübernahme wurden fünf katholische Priester vom FSB aus Russland ausgewiesen, unter anderem wegen des Verdachts auf Spionage. In Wirklichkeit wurden sie von der russisch-orthodoxen Kirche verdächtigt, sie wollten orthodoxe Gläubige zum Katholizismus bekehren. Derartige Befürchtungen waren auch der Grund dafür, dass Papst Johannes Paul II. trotz zahlreicher Anträge nie nach Russland gelassen wurde – das Moskauer Patriarchat hatte befürchtet, ein solcher Besuch könne seine Kontrolle über das Gebiet untergraben, das es als sein Eigentum betrachtete.

Kampf gegen die Barbaren

Der Geschichtsunterricht über das 19. Jahrhundert wurde von zwei großen Narrativen dominiert: dem Überfall Napoleons und dem gescheiterten, aber glorreichen Dekabristenaufstand sowie der Entstehung einer revolutionären Bewegung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Die lange und schreckliche Unterjochung des Kaukasus fand vor allem in der Lyrik der russischen Dichter Puschkin und Lermontow einen Ausdruck. Beide begeisterten sich für die russischen militärischen Heldentaten. Nehmen wir Puschkins Poem Der Gefangene im Kaukasus:

Besinge auch die hehre Stunde,
Da Schlachten witternd und Gefahr

Zum Kaukasus dem Höllenschlunde
Hinstürzte unser Doppelaar.

Da in des Tereks graue Wellen
Der erste Schlachtendonner traf

Und er vor Rußlands Trommelfellen
Erschrocken fuhr aus langem Schlaf.1

Das unermesslich große Territorium hinter dem Ural, Sibirien, war nach offiziellen Angaben vorwiegend von Wilden und Barbaren bevölkert, sodass seine Einverleibung ebenfalls nicht als echte Invasion bezeichnet werden könne. Russische Autoren und Künstler waren an dieser Geschichte kaum interessiert. Schlimmer noch, die russischen Zaren erdachten die «Katorga», das System harter Strafarbeit im Russischen Reich, das für dieses Territorium symbolisch wurde. Und tatsächlich entwickelte sich Sibirien zu einem so schrecklichen Ort für Gefangene und Verbannte, dass sich in der russischen Gesellschaft ein merkwürdiger psychologischer Effekt herausbildete – die Vermeidung der Erwähnung Sibiriens um jeden Preis. Dabei ist bemerkenswert, welches Wort in den russischen Schulen für die Beschreibung der Kolonisierung dieses Landes verwendet wird – Unterwerfung Sibiriens. Allein hier gesteht die russische offizielle Geschichtsschreibung die Unterwerfung eines Territoriums ein, doch wird diese Unterwerfung von der Öffentlichkeit als Urbarmachung der rauen und grausamen Natur Sibiriens verstanden, nicht als Unterwerfung der vielen indigenen Völker, die es bewohnten.

Die blutige Eroberung Zentralasiens wurde völlig übersehen oder falsch dargestellt. Der russische Künstler Wassili Wereschtschagin (1842–1904) war Augenzeuge der russischen Eroberung Zentralasiens. 1871 malte er «Die Apotheose des Kriegs» – einen Schädelhaufen vor den Mauern einer asiatischen Stadt. Das Gemälde war «allen Eroberern der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft» gewidmet und galt als eines der einprägsamsten Antikriegsgemälde der Weltgeschichte. Die russische Eroberung war tatsächlich blutig und brutal – doch zeigt das Gemälde nicht die russischen Soldatenopfer, sondern die der asiatischen Despoten wie Timur. Anstatt also eine Kritik der russischen Invasion zu sein, verurteilt das Gemälde die asiatische Barbarei.

Schuldzuweisungen

Wenn sich die Tatsache nicht verbergen ließ, dass sich russische Truppen eigentlich ziemlich weit vom russischen Territorium entfernt hatten, gaben die Schulbücher den Zaren die Schuld. Napoleon überfiel Russland, und der glorreiche Vaterländische Krieg des russischen Volkes gegen den ausländischen Angreifer wurde ein weiterer Beweis dafür, dass Russland sich immer in einer Verteidigungsposition gegen den Westen befindet. Was jedoch der russische General Suworow einige Jahre vor diesem Überfall in Italien im Kampf gegen die Franzosen machte, wurde zwar erwähnt, aber nur im Zusammenhang mit der Geschichte von Zar Paul I., der Suworow nach Europa schickte, weil er dummerweise seine Verpflichtungen gegenüber den Verbündeten ernst nahm. Dass derselbe Suworow, der vom russischen Militär immer noch sehr geschätzt wird, den Warschauer Vorort Praga plünderte, um einen von Tadeusz Kościuszko angeführten polnischen Aufstand niederzuschlagen, und dort Tausende von Menschen massakrierte, wurde nie erwähnt. Als einige den russischen Umgang mit Polen anprangerten, hatte der größte russische Dichter Alexander Puschkin, «die Sonne der russischen Poesie» und beliebtester Autor des Landes, seine Antwort im Werk «An die Verleumder Russlands» schon parat:

Was soll das Wortgelärm, Tribunen fremder Staaten?
Warum mit Fluch und Bann wollt Rußland ihr verraten?
Was hat euch so empört? Des Polen Schändlichkeit?
Laßt uns: dies ist ein Streit – ein vom Geschick geweihter! –
Von Slawen unter sich, im eignen Haus der Streiter,
Und eine Frage, der – ihr nicht gewachsen seid.

Und kurz vor Ende Puschkins Gegenangriff:

Für euch der Kreml und Praga schweigen,
Doch der Versuchung Wahn erfaßt
Euch bei des Kampfes tollem Reigen
Und heimlich sind wir euch verhaßt …
Warum? Darum, daß selbstvergessen,
Im roten Feuermeer von Moskaus Flammenbrand
Wir nicht den Willen anerkannt,
Dem ihr euch beugtet unterdessen?2

Puschkin meint mit «Willen» den von Napoleon, der 1812 einen demütigenden Rückzug aus dem niedergebrannten Moskau antrat, und impliziert, dass die westlichen Mächte Russland nicht aus Sorge um Polen kritisierten, sondern aus Neid auf den Patriotismus in Russland und dessen Fähigkeit, einen Angreifer zu besiegen, den andere europäische Länder nicht aufhalten konnten. 

Dieselbe Geschichte wiederholte sich immer wieder. Es war der engstirnige Zar Nikolaus I., der 1856 Franzosen und Engländer provozierte, aber Franzosen und Engländer griffen «unsere» Krim an, und die heldenhafte Verteidigung von Sewastopol durch russische Soldaten, die ihr Land gegen Angriffe aus dem Westen verteidigten, wurde zu einem wichtigen Teil des offiziellen Geschichtsnarrativs.

Da war auch der unfähige Zar Nikolaus II., der Russland in den Ersten Weltkrieg hineinzog, weil er seinen Verpflichtungen gegenüber den Verbündeten nachkommen wollte. Was folgte, war ein Überfall der Deutschen, die nach der Revolution auch noch versuchten, die Ukraine zu annektieren.

Und als es keine Zaren mehr gab, denen man die Schuld zuschieben konnte, kam das Wort «Notwendigkeit» wieder ins Spiel: am auffälligsten natürlich in der russischen Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs. Die Sowjetunion schickte die Rote Armee nach Finnland und ins Baltikum, weil diese Gebiete für sie «notwendig» waren, um besser gerüstet zu sein für die bevorstehende deutsche Invasion, die später offiziell als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet wurde.

Musterschüler

Viele Generationen von Heranwachsenden in Russland sind mit diesem Narrativ aufgewachsen, und so überrascht es kaum, dass so viele Russen tatsächlich glauben, die NATO schmiede seit Jahrzehnten ein Komplott gegen Russland, nähere sich unaufhaltsam den russischen Grenzen und warte auf einen günstigen Zeitpunkt für einen Angriff. Laut dieses Narrativs wiederholt die NATO das Vorgehen deutscher Kreuzritter im 13. Jahrhundert, die sich einer Armee und einer Ideologie bedienten, und diesmal werden liberale Werte benutzt, um Russland anzugreifen.

Dieselben Kernaussagen zirkulieren in der Kreml-Propaganda. Putin griff sie in seinem berüchtigten Artikel «Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern» auf, veröffentlicht am 12. Juli 2021:

«Im 16. und 17. Jahrhundert entstand eine Befreiungsbewegung in der orthodoxen Bevölkerung der Dnjepr-Region. Einen Wendepunkt markierten die Ereignisse in der Zeit von Hetman Bohdan Chmelnyzkyj. Seine Anhänger strebten die Unabhängigkeit von der Rzeczpospolita an.

In einem Bittgesuch des Saporoger Heers an den König der Rzeczpospolita im Jahr 1649 ist von der Wahrung der Rechte der russischen orthodoxen Bevölkerung die Rede, davon, dass ‹der Woiwode von Kiew russischer Abstammung und von griechischer Konfession sein solle, auf dass er die Kirche Gottes nicht bedränge …›. Aber die Saporoger wurden nicht gehört.

Die darauffolgenden Sendschreiben von Bohdan Chmelnyzkyj nach Moskau wurden von den Ständeversammlungen geprüft. Am 1. Oktober 1653 beschloss dieses höchste Repräsentativorgan des Russischen Staates, die Glaubensbrüder zu unterstützen und sie unter seinen Schutz zu stellen. Im Januar 1654 bestätigte die Perejaslawer Rada diese Entscheidung.»3

Zwei Monate später eröffnete Putin in der Oblast Pskow ein gigantisches Denkmal für Alexander Newski. Seine Hauptaussage über Newski klang auffallend vertraut:

«Er [Newski] lebte in einer überaus schwierigen Zeit unserer Geschichte, als das Schwinden und der Verlust unserer Staatlichkeit tragische Realität zu werden drohten. Fast alle Fürstentümer der alten Rus erlebten die verheerende Invasion der Horde, und die westlichen Nachbarn wollten sich die Ländereien von Nowgorod und Pskow untertan machen. Es war der Kampf um diese im Grunde genommen letzte Grenze des Vaterlands, in den Alexander Newski mit seinen Kriegern machtvoll und unbezwinglich eintrat.»4

Am 20. Februar 2022, nur vier Tage vor Beginn des Angriffskriegs, betonte Putins Sprecher Dmitri Peskow in einem Interview in der Sendung «Kreml. Putin» im Fernsehsender Rossija-1: «Wir möchten daran erinnern, dass Russland in seiner Geschichte niemals jemanden angegriffen hat. Und Russland, das so viele Kriege überstand, ist das letzte Land in Europa, das das Wort ‹Krieg› überhaupt aussprechen will.»5

Diese Aussage mag für das westliche Publikum bizarr klingen, nicht jedoch für die Russen, die seit ihrer Schulzeit an dieses historische Narrativ gewöhnt sind.

Kontinuität

Bei erster Betrachtung fällt auf, dass die Darstellung der Geschichte des Russischen Reichs, anders als die der zaristischen Innenpolitik, im sowjetischen Bildungssystem nie ernsthaft revidiert wurde. Selbstverständlich wurde in unseren Büchern über Tomeks Abenteuer auch nie erwähnt, dass ihr Autor, Alfred Szklarski, in den Vereinigten Staaten als Kind polnischer Emigranten zur Welt kam und nach der Unabhängigkeit Polens von Russland dorthin zurückkehrte, während des Zweiten Weltkriegs im Land blieb und nach dem Krieg mehrere Jahre im Gefängnis verbrachte.

Die Sowjetunion nutzte die «Internationale» – deren Text vom Mitglied der Pariser Kommune Eugène Pottier stammt – zwanzig Jahre lang als Nationalhymne, auch wenn der Staat niemals international ausgerichtet war. Ging es also nur um Stalin und seine Besessenheit vom russischen Imperium? Immerhin war er es, der den Mythen von Suworow und Alexander Newski zur Renaissance verhalf – im Zweiten Weltkrieg zeichnete er seine fähigsten Generäle mit Orden aus, die ihre Namen trugen. Auch war es Stalin, der Peter den Großen und Iwan den Schrecklichen als «positive» historische Figuren propagierte. Aber das ist nur ein Teil der Antwort. 

Im postsowjetischen Russland fand nach 1991 in den Schulen das Narrativ von den Heldentaten des russischen Imperiums eine Fortführung. An Hochschulen und in der Wissenschaft ist die Betrachtungsweise der historischen Ereignisse, wie gesagt, etwas komplexer als im Schulbuch für Geschichte, auch werden hier einige Debatten erlaubt, aber es sind die Schulen, die die nationale Mentalität prägen. 

Es ist die Verbindung aus Schulunterricht und dem literarischen Kanon der Nation, die eine emotionale und tief verwurzelte Kategorisierung dessen schaffen, was als akzeptabel und ehrenvoll gilt und was nicht. Sie bilden den nationalen Heldenpantheon und entlarven die Schurken. Dieser Kanon hat sich als wirklich langlebig erwiesen. Kürzlich versuchte der Kreml, die öffentliche Wahrnehmung der Dekabristen-Revolte in eine terroristische Verschwörung zu ändern. Die Kreml-Propagandisten folgten damit der neuen Mode, jede Revolte in der russischen Geschichte als Angriff auf die nationale Sicherheit, also als Hochverrat zu interpretieren. Sie scheiterten kläglich, vor allem deshalb, weil die Propagandisten unfähig waren, die russischen Schulen mit einem neuen literarischen Kanon zu beliefern – mit Lobsängern, die, anders als Lermontow und Puschkin, die Zaren anstatt der Dekabristen preisen.

Das bedeutet allerdings auch, dass dort, wo Puschkin und Lermontow als russische Imperialisten agieren, dies im nationalen Bewusstsein verankert bleibt. Der Angriffskrieg auf die Ukraine macht deutlich, dass in Russland etwas getan werden muss, um die unselige Tradition der fortgesetzten Verfälschung der nationalen Geschichte in Schulbüchern zu brechen, damit die nächsten Generationen von Russen eine andere Vergangenheit sehen können – als notwendige Voraussetzung dafür, dass sie die Zukunft anders gestalten.

Zitiert aus: Alexander Puschkin: Der Gefangene im Kaukasus. Aus dem Russischen von Adolf Seubert. Leipzig: Reclam 1873 [Anm. d. Ü.]

Zitiert aus: Alexander Puschkin: Gedichte Poeme Eugen Onegin. Übersetzt von Wolfgang Groeger. Berlin: SWA-Verlag 1947 [Anm. d. Ü.]

Originalquelle: http://kremlin.ru/events/president/news/66181 [Anm. d. Ü.]

Originalquelle: http://kremlin.ru/events/president/news/66661 [Anm. d. Ü.]

Originalquelle: https://tass.ru/politika/13773973 [Anm. d. Ü.]

Published 7 December 2022
Original in English
Translated by Franziska Zwerg
First published by Wespennest 183 (2022) (German version); Eurozine (English version)

Contributed by Wespennest © Irina Borogan / Andrei Soldatov / Wespennest / Eurozine

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Read in: EN / DE

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