Archipel Europa

Das Europa des Kalten Krieges hat sich aufgelöst. Anstelle eines einst homogenen Raums – “der Osten”, “der Westen” – finden sich jetzt Fragmente, Enklaven, Inseln. Für manchen ist das nur Stückwerk, aber in Wahrheit sind es die Teile, aus denen das neue Europa sich zusammenfügt. Der Zerfall ist die Form der Erneuerung, für einen Augenblick wenigstens. Es bringt mehr, sich an die Fragmente zu halten – sie sind reell – als an das Ganze, das vorerst doch nur ein Versprechen ist. Die offizielle Rhetorik hat dem nachgegeben, wenn sie die Fragmentierung, den Zerfall als Pluralisierung, als “Vielfalt in Einheit” feiert. Der Zerfall ist die Stunde der Desillusionierung, also der Aufklärung. Es zeigen sich dann auch die Kräfte, die ins Spiel kommen müssen, wenn etwas Neues entstehen soll.

Rotterdam, Europort, Mouth of Europe. Europa hat seine eingebildeten Hauptstädte und seine wahren. In den eingebildeten laufen die Inszenierungen der Macht, die Rituale der Selbstdarstellung. Von dort kommt der Hintergrund der Pressekonferenz, auf der die Mächtigen sich erklären. Aus den wahren Hauptstädten kommen keine Presseerklärungen. Sie drehen sich um Alltagsgeschäfte, nicht um Haupt- und Staatsaktionen. Rotterdam ist eine Hauptstadt Europas, von der alle leben, von der aber kaum jemand Notiz nimmt. Über Rotterdam wendet sich Europa den Weltmeeren, der Welt zu. Im Delta von Schelde, Maas und Rhein ergießt sich der größte Strom des westlichen Europa ins Meer. Über das Delta nimmt die Welt Kontakt auf mit Europa. Alle großen europäischen Verkehrslinien führen nach Rotterdam, von Rotterdam führen die Wege nach ganz Europa, vor allem den Rhein hinauf: Ruhrgebiet, Köln, Frankfurt, Straßburg, Basel, Lyon, Marseille, Barcelona, Mailand. Rotterdam ist der Endpunkt der “Blauen Banane”, jener Hochenergie- und Hochleistungszone, die zu einer der Hauptachsen Europas geworden ist. Die angemessenste Form, sich mit dieser Hauptstadt Europas vertraut zu machen, ist eine Rundfahrt im Rotterdamer Hafen, wenn das Schiff durch die Hafenbecken gleitet, zwischen den Abertausenden, turmhoch gestapelten Containertürmen hindurch, jenen Städten, die ständig in Bewegung sind, bald emporwachsen und bald abgetragen und anderswohin transportiert werden.

Sie haben noch alte Namen, die etwas vom alten, vom kolonialen Europa erzählen, von Batavia, Sumatra und anderen fernen Regionen. Wer wissen will, was hier zusammenläuft, muß sich die Aufschriften auf den Containern ansehen, die Flaggen auf den Schiffen, den Tankern, muß sich die Namen der Reedereien und Speditionen notieren. Rotterdam ist die Stadt des großen Erasmus, aber vor allem der Ort, an dem Europa gedacht, gemacht wird: jeden Tag, Stunde für Stunde. Käme die Rotterdamer Bewegung zum Stillstand, würde der Mund und die Mündung Europas für einen Augenblick auch nur geschlossen, der ganze Kontinent würde sich in Konvulsionen winden, die Bewegung auf den Autobahnen käme zum Stillstand, die Anzeigetafeln in den Börsensälen würden verrückt spielen. In Rotterdam wird das Tempo Europas gemacht. In Rotterdam beginnt jedes Stückgut seine Reise nach Europa. Europa hängt an Rotterdam, wo diese Bewegung beginnt. Und Rotterdam ist eine neue Stadt. Die Stadt, die samt ihren Werften und Kaianlagen durch die deutschen Luftangriffe in Schutt und Asche gelegt war, ist ein großer Neubau, wie Europa nach 1945.

Heathrow: Die Kreisbewegungen im Himmel über London. Kein Ort in Europa ist so nah an der Welt wie London. Fast immer hat man eine halbe Stunde Zeit, darüber nachzudenken, wenn das Flugzeug sich London-Heathrow nähert, aber in der Warteschleife ausharren muß. Das Flugzeug schraubt sich hinab, im Verbund mit den anderen Flugzeugen, die auch noch nicht an der Reihe sind. Man hat Zeit, das Stadtbild zu studieren, wenn man mehrmals über dieselben Stellen hinwegfliegt: Greenwich, Canary Wharf, Tower-Bridge, das Parlament, Hyde Park, Windsor Castle, ein Schwenk nach Norden und Osten und das ganze noch einmal. Mit den Terminals streckt sich London der Welt entgegen, versucht Ordnung in das Chaos der Bewegungen zu bringen, sie zu kanalisieren, zu ordnen. Welche Masse der unentwegt Bewegten. Welche Geduld der Bewegungserfahrenen. Wie sie sich versiert, erfahren, unaufgeregt durch die Tunnels, die Lifte, die Umleitungen, die Treppen hinauf und hinab bewegen. Ein Relais, ein Scharnier des Weltverkehrs. Ein Tor zur Welt, das mit seinen Labyrinthen eher unter der Erdoberfläche liegt. Europa und die Welt: das ist die Prozedur: Check-In, Paß-Vorzeigen, Security, die geübte Geste, das Lächeln, die Routine. Die eingeübte, gelernte, zur zweiten Natur gewordene Weltläufigkeit. In der sich hinabschraubenden Bewegung im Himmel über London ist etwas vom Sog Europas und von der Attraktion der Welt draußen zu spüren. In der Verbindung zur Welt, die täglich, stündlich, auf die Sekunde genau hergestellt wird, ist mehr Kraft, mehr Evidenz als in den Löwen, die das Empire symbolisieren, und mehr Plausibilität als in den Imperial Archives. Diese Schraubenbewegung, die Warteschleifen im Himmel von London, verbinden Europa mit der Welt. Stau, Potenz, Andrang.

Die Schwimmer im Thermalbad des Hotel Gellert, Budapest. Im Gellert, das seiner Übernahme durch eine starke Aktiengesellschaft entgegensieht, schwimmen noch immer die Gäste. Man tritt gleichsam auf die Veranda hinaus, hat vor sich die Budaer Berge und im Rücken die Stadt, genießt die heißen Quellen und ist doch im Zentrum einer Metropole. Das Publikum besteht – winters wie sommers – aus älteren Herrschaften. Die jungen Leute bevorzugen Gyms und Fitneß-Center. Die Schwimmer im Bassin des Gellert kommen aus Österreich, Deutschland, Holland, Italien. Sie waren die Gewinnler der europäischen Einigung schon vor der EU-Erweiterung und wenigstens noch für die Zeit, da die Luxussanierung noch nicht abgeschlossen ist. Die wohlsituierten Gäste, die mit Bussen in die Stadt gekommen sind, füllen die großbürgerlich-feudalen Kulissen. Auch das Europa der Rentiers hat seine Orte: das Thermalbad des Gellert, die Hotelanlagen auf den Balearen, die Überwinterungszentren an der türkischen Riviera. Aber die Inwertsetzung, die sich vorerst der Rentner bedient, wird dem Rentiersaufenhalt bald ein Ende setzen – oder hat es schon. Die luxuriöse Geselligkeit der Alten, die meist aus dem Westen kommen, ist durchaus der Rede wert. Es macht einen Unterschied in Europa, ob man alt wird oder Senior ist.

Edward Hoppers Tankstelle: LUKOIL, ORLEN, BP, SHELL. Das neue Europa hat eine neue Farbe. Sie sticht gegen den Nachthimmel. Sie ist grell. Sie ist unverwechselbar wie das Zeichen. Der Schriftzug der Ölgesellschaft ist ein Signal, das man schon von Ferne erkennt. Er ist die Signatur des mobil gewordenen östlichen Europa. Das neue Europa ist mobil. Das mobile Europa ist Tankstelleneuropa. Tankstellen haben einen bestimmten Stil, eine eigene Ästhetik, ein spezifisches Design. Es erinnert an die trostlos-lakonischen Bilder von Edward Hopper. Zum Tankstellendesign gehören: daß sie neu sind, daß sie transparent sind, daß sie leuchten in allen Neonfarben, vorzugsweise in den Farben der Company – Shell, BP, Aral –, daß sie den ganzen Regenbogen des standardisierten Sortiments an Getränken, Magazinen, Zigaretten führen. Sie waren die Pioniere der Digitalisierung und des alltäglichen bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Die elektronischen Preistafeln geben die leiseste Schwankung auf dem Erdölmarkt weiter, egal wo wir sind. Die Welt, die einmal feststand, die Preise, die so sicher waren wie die Staatsmacht, schwanken nun so zart und sensibel wie ein Lufthauch oder ein Schmetterlingsflügel. Alles geht nun schnell. Der Übergang zur neuen Routine ist spurlos vollzogen, das Umrechnen geht vor sich, als hätte es niemals zuvor fremde Währungen und Verdacht gegeben. Die Tankstellen im neuen Europa sind Zentrifugen der wachsenden Routine und der Normalisierung. Wie überall in der Welt finden sich Leute ein, die dort nur ihren Kaffee oder ihr Bier trinken wollen. Sie wirken wie Fossile in einer Welt, in der alles neu geworden ist. Die Internationale der Tankstellen macht das Leben leicht, schnell, unbedenklich. Man kann sich auf Wichtigeres konzentrieren.

IKEA an der Leningrader Chaussee. Europäisierung ist Herstellung einheitlicher Standards: im Design, im Service, in den Routinen der Logistik, im Rhythmus von Arbeiten und Freizeit. Ganz Europa ruht auf der Erwartung, daß die Routinen unverrückbar und unerschütterlich sind. IKEA ist eine komplette Welt, ein internationales Netz von Filialen. Das erstaunlichste daran sind nicht die Lampen oder die Regale, sondern die Homogenität der Standards. Sie sind so einheitlich wie das Design der Möbel. Institutionen wie IKEA verkaufen Präzision, Verläßlichkeit. IKEA ist identisch, wo immer eine Filiale eröffnet. IKEA an der Leningrader Chaussee im Moskauer Norden, nun auch an der Warschauer Chaussee und an anderen Stellen weitet das Imperium der identischen Maßstäbe und des identischen Designs aus. Es wird zum Maß anderer Dinge.

Hochgeschwindigkeitstrassen. Europa wird Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag hergestellt. Die Bewegung, die es zusammenhält, ist sein Grundmodus. Würde die Bewegung auch nur für einen Augenblick aussetzen, Europa fiele in seine Bestandteile auseinander. Die Verfertigung Europas kann man bevorzugt an bestimmten Plätzen studieren: auf Flughäfen, Autobahnen, Hochgeschwindigkeitstrassen. Die Hochgeschwindigkeitsverbindungen machen das große Europa zu einem kleinen Kontinent. Die Grenzen der einzelnen Staaten sind überschritten, noch bevor der TGV so richtig in Fahrt gekommen ist. Der Nationalstaat ist zu klein für Hochgeschwindigkeitszüge.

Kiew: Verschiebung der Geographie. Am Rande Europas tauchen plötzlich goldene Kuppeln auf. Europa ist noch immer im Fluß, unfertig. Vom Zentrum aus übersehen wir kaum, was sich an den Rändern tut. Wir wissen nicht einmal, wo die Grenze verläuft. Die Grenze ist dort, wofür sich niemand interessiert. Und dann ändert sich die ganze Landkarte mit einem Mal, von heute auf morgen. Wie bei einem Beben, wie bei einer tektonischen Verschiebung hebt sich plötzlich der Boden, etwas taucht aus den Fluten auf. Zunächst sind es nur Meldungen im Fernsehen über Unregelmäßigkeiten bei irgendeiner Wahl in der Ferne, dann deuten sich Konflikte, Einmischungen, Unannehmlichkeiten an. Die Menge versammelt sich alltäglich, allnächtlich auf dem größten Platz der Stadt, im Rund eines monumentalen Platzes, wie er nur nach einem großen Krieg in einer Stadt angelegt werden konnte, deren Zentrum vollständig zerstört war. Die Menge ist freudig gestimmt, die Augen der Menschen leuchten, die Menge trägt orange, sie ist erfinderisch bei der Belagerung der alten korrupten Macht, sie vertreibt sich die elend kalten Nächte mit Lagerfeuern. Die ganze Stadt bringt Tee, heiße Getränke, belegte Brote. Und irgendwann tauchen hinter den Bildern von den Demonstranten die goldenen Kuppeln der Sophienkathedrale und des Höhlenklosters auf. Über sie hinweg geht der Blick weit ins Land hinaus, über den Dnepr hinweg. Die “Stadt der Städte” ist wieder da, genau an der Stelle, wo vor mehr als 1000 Jahren “der Weg von den Warägern zu den Griechen” verlief. Kiew ist auf die Landkarte Europas zurückgekehrt.

Europa am Strand. Es verläuft zwischen Rimini und Bari. Seine Abschnitte heißen Costa Brava und Algarve. Sie verteilen sich über Rhodos und Kreta. Ihre Ausläufer sind in Eilat und Sharm-el-Sheikh. Ihre fernsten Ableger findet man auf Martinique. Die türkische Südküste gehört schon lange zu Europa. Sie sind angekoppelt an die großen Städte und jederzeit leicht erreichbar, fast wie ein Vorort. Von Manchester nach Alicante, von Düsseldorf nach Adanya, von Berlin nach Mallorca, von Moskau nach Dubai, von Wien nach Benghasi, von Warschau auf die Kanarischen Inseln. Sie entdecken keine neue Welt, sondern bauen sich ihre eigene. Sie kommen nicht zusammen, sondern liegen jeder für sich im Sand oder verschwinden in der Disco. Europa bildet sich im Rhythmus des Jahresurlaubs, in dem Europas Aktivität für ein paar Wochen erstirbt. Europa durchläuft dieselben Prozeduren: Check-in, Verstauen im fliegenden Container, Ankunft in einer südlichen Luft, Unterbringung in bezahlbaren Hotels, Gang zum Meer, Bestaunen des Sonnenuntergangs, Einstimmung auf das Ende des Urlaubs, das unvermeidliche Ritual des Abschieds. Auf den Bildern der Digital- und Videokameras entsteht das neue Bild Europas, so bildet sich der neue Erfahrungshorizont ab. Man vergleicht von nun an keine unterschiedlichen Traumwelten mehr, sondern das Preis-Leistungs-Verhältnis.

Feuilleton. Die Produktion des Referenzrahmens in kulturellen Dingen ist in ein neues Stadium eingetreten. Hinzugekommen zur Kulturberichterstattung aus London, Paris, New York, Mailand ist – ab und zu wenigstens – der Bericht aus Petersburg, Moskau, Budapest, Krakau, Thessaloniki. Mit jeder Vernissage, die Eingang findet in das Feuilleton der großen europäischen Zeitungen, verschiebt sich der Rahmen der Wahrnehmung, erst nur für einen Augenblick und leicht revidierbar, dann mit einer gewissen Kontinuität und dauerhaft. Ein neuer Kulturraum wird produziert. Darin gibt es Echos. Europa ist ein großer Resonanzraum. Darin sind jetzt so viele Stimmen, daß man leicht die einzelne überhört. Weißes Rauschen. Was einmal neu, ja sensationell war, wird gewöhnlich. Sich an etwas gewöhnen, gewöhnlich werden ist der Gradmesser der Integration. Die europäische Kulturszene erscheint nun Tag für Tag. Es ist ein unendlicher Teppich von Diskursen, Debatten. Wir wissen Bescheid über die Inszenierungen in Moskau und die Nuancen des Festivals von Glyndebourne, wie Bayreuth in diesem Jahr ist und was das Haus Wagner Neues zu bieten hat. Tag für Tag wird der Kulturraum neu aufgebaut. Europa ist ein Kunstraum, ein Musikraum, eine große Ausstellungshalle, und das Feuilleton ist das große Logbuch, das uns hilft, darin nicht den Überblick zu verlieren.

Europa auf Rädern. Ferienzeit. Europa macht immer noch Ferien, vor allem im Sommer. Es entdeckt seine alte grenzüberschreitende, abendländische Synchronizität wieder, die über Jahrhunderte vorbereitet und implantiert worden ist. Kein neuer Festtags- und Feiertagskalender hat daran etwas ändern können. Der europäische Zyklus ist stärker als der Kalender der nationalen Feiertage. Synthetisierung von Zeit, Produktion eines europäischen Rhythmus. Herstellung von Zeitgleichheit. Es ist die Eingewöhnung in die Praktiken des Reisens, die Effizienz und Geruchlosigkeit der Raststätten mit ihren europaweit immer gleichen Wickelräumen, Duschen und sonstigen facilities. Im Sommer bewegen sich Millionen von Europäern von einem Ende Europas zum anderen. Völkerwanderung. Millionen im Transit. Bewegung ohne wechselseitige Kenntnisnahme.

Billigflieger. Easyjet, Ryan-Air. Europa ist nur ein Name, das Abenteuer, zu dem Easyjet, Ryan Air und all die anderen Billigfluggesellschaften einladen, ist real. Ryan Air hat Irland vom Rand Europas fast in die Mitte geholt. Stansted ist ein Umsteigebahnhof von Berlin nach Kapstadt geworden. Die Diminutive, mit denen man die Passagiere lockt – Krakaulein, Baselein, Bratislavalein – haben jenseits der Einschmeichelei, die unangenehm ist, etwas Wahres. Europa wird zu einer Sache der Nähe, etwas fast Intimes. Europa will nicht warten, bis das Gleisbett, das aus dem 19. Jahrhundert stammt und im 20. Jahrhundert von hin und her wogenden Armeen, Fronten, Panzern, Truppenaufmärschen, Fluchtbewegungen zerrüttet worden ist, auf die Höhe des 21. gebracht wird. Mit Easyjet dauert es von Berlin nach Krakau nicht zehn, sondern eineinhalb Stunden und kostet denselben Preis. Damit verändert sich vieles. Es entsteht ein neuer Stand: Leute, die in Mainz leben, aber in Turin arbeiten; Schriftsteller, die zu Lesungen in Deutschland von ihrer Arbeitswohnung in Irland anreisen; Shopping-Touristen, die mitternachts aus Moskau in Berlin ankommen, tagsüber im KaDeWe einkaufen gehen und mit der Nachtmaschine tags darauf wieder zu Hause sind; Pendelbewegungen, die kaum aufwendiger sind als die Fahrt mit der S-Bahn vom einen zum anderen Ende der Stadt.

Das Handy im Großraumwagen. Das Handy hat ein neues Geräusch, einen neuen Ton in unsere Welt gebracht. Es zeigt an, daß die Person, die neben uns steht oder in der Reihe hinter uns sitzt, lebhaft gestikuliert und auf jemanden einredet, der nicht sichtbar ist, vielleicht in Beziehung steht zu jemandem am anderen Ende der Welt. Das Mädchen in der U-Bahn in Berlin fragt in ihr Handy nach dem Wetter in Jerusalem. Lebhaft Sprechende und Gestikulierende stehen neben, aber sprechen nicht mit uns. Sie blicken uns nicht einmal an. Das Geräusch des Handys ist die Begleitmusik eines Epochenwandels. Wir sind jederzeit an jedem Punkt der Erde mit jedem anderen, gleich wo er sich aufhält, verbunden. Das Handy ist von nun an immer dabei: bei den Toten in der Metro, die vom Attentat zerrissen worden sind und nicht mehr antworten können; bei der Auslösung des tödlichen Mechanismus; bei der Kontaktaufnahme mit den Erpressern; bei einer x-beliebigen Verabredung.

Scharniere. Brücke über den Belt. Brücken produzieren neue Konfigurationen. Brücken über einen Sund machen zwei Küsten zu Ufern an einem Gewässer. So entstehen Doppelstädte in Sichtweite. So werden zwei sich ferne Landmassen zu einem Kontinuum. Kristallisationen als Ausgangspunkt für folgenreiche Agglomerationen. Metropolitan Area über das Meer hinweg. So ist es zwischen Kopenhagen und Malmö oder Istanbul und Üsküdar. Dieselbe Funktion hat der Tunnel unter dem Pas de Calais; er schmiedet Südengland und Nordfrankreich zusammen und macht London und Paris zu Nachbarstädten. Eine ähnliche Funktion haben Fährverbindungen wie die zwischen Tallinn und Helsinki oder zwischen Pillau/Baltijsk und Danzig/Gdansk. Was wird aus der Schweiz, wenn erst die neuen Tunnels durch die Alpen fertig sind?

ZVAB. Abebooks. Amazon. Der Gang durch die Antiquariate ist abgelöst durch die Suchbewegung auf dem Bildschirm. Jeden Abend können wir die Welt der käuflichen Bücher durchwandern – von der Winterfeldstraße in Berlin über die Seine-Quais, vom Tübinger Marktplatz, in die Wollzeile am Wiener Stephansdom, von Charing Cross zu Strands am Broadway. ZVAB steht für 10 Millionen antiquarische Bücher, Abebooks für mehr als fünf Millionen. Das Verschwinden eines Vergnügens, das Ende einer Lust und der Beginn einer neuen Leidenschaft. Die Transformation des alten Jagdtriebes, der haptisch, visuell trainiert war, in einen Instinkt, der es bloß auf Titel, Autoren und Preisvergleiche absieht. So pendelt der nächtliche Sucher dann zwischen dem Antiquariat am Kollwitzplatz in Berlin und dem in Brighton, zwischen Vancouver und Adelaide/Australien hin und her. Er hat kein Buch gesehen, keines in der Hand gehabt, keinen Buchhändler zu Gesicht bekommen. Eine ungeheure Erweiterung des Suchradius.

Security. Die Tür, durch die wir früher einfach gingen, ist jetzt eine doppelte, die traditionelle, physische und die elektronische. Der öffentliche Raum ist aufgerüstet. Kameras an Schwenkarmen werden automatisch bewegt. Sie blicken auf den Leerraum, der in Scheinwerferlicht getaucht ist, das Feld, das ab und zu von Menschen durchkreuzt wird. Die Tore sind bewacht. In den Lobbys haben sich dezent-demon¬strativ die Kontrolleure aller Bewegung, die Inspektoren von Gesichtern, Taschen und Ausweisen niedergelassen. Keine Bewegung ohne Prüfung. Security Check ist zur Routine geworden. Wir haben uns an das Vorzeigen der Ausweise, den Blick in die Kamera, das Öffnen von Taschen und Aktenmappen gewöhnt. Überall wo Security ist, ist etwas Wichtiges. Das Wichtige ist in den Zentren. Die Apparaturen der Security sind Monumente der Wichtigkeit. Securitylose Zonen zeigen an, daß noch nicht alle Räume erfaßt sind. Security ist grenzüberschreitend und einer der wichtigsten Indikatoren für das Tempo der europäischen Einigung.

Money Machines in der Sofioter Universität. Mitte der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts sah ich zum ersten Mal Geldautomaten in der Eingangshalle der Kliment-Ochrid-Universität in Sofia. Zu dieser Zeit gab es noch nicht viele Geldautomaten, schon gar nicht an Universitäten. Selbst in Deutschland war das noch nicht allgemein verbreitet. Money Machines stand plötzlich für jederzeitige Zugänglichkeit von Geld. Ausländer konnten einfach Geld abheben, wo man früher oft stundenlang herumirrte, weil man keine Wechselstelle mehr fand. Welche Tricks mußte man oft anwenden, um diese triviale, aber überlebenswichtige Operation zu bewältigen. Nun stehen sie überall im ehemaligen Ostblock. Sie sind gleichsam auf einen Schlag installiert worden, fast ohne Übergangszeit. Sie funktionierten ohne Probe- und Eingewöhnungszeit. Sekundäre Modernisierung im Handstreich, ohne Reibungsverlust. Die Etablierung von Standard und Selbstverständlichkeit. Der Mensch muß nicht an der Hand geführt werden. Man darf ihm ruhig viel zutrauen – so wie den russischen Babuschkas, die von heute auf morgen mit dem Anblick von nackten Mädchen, manchmal auch Männern in den Auslagen der Zeitungskioske fertig wurden.

Kanaksprak. In der Interferenzzone der großen Städte, wo die Ströme der Migranten sich mit den Wohnarealen der Einheimischen berührt haben, wächst ein neuer Ton, eine neue Sprache, eine neue Gestik. Sie ist cool, sie arbeitet mit dem understatement, sie setzt sich ab vom Allgemeinverständlichen, aber ist doch so international wie mtv, an dessen Zeichenvorrat sich die neuen Sprachen geschult haben: Kanaksprak in Deutschland, Kurdisch-Schwedisch in Stockholm, Maghrebinisch an den Rändern von Paris. Überall in Europa gibt es Quellgebiete neuer Dialekte, Laboratorien neuer Sprachen und Idiome.

Wanderdünen aus Plastikmüll. Im Nachtzug Sofia­Bukarest. Die Erde in Rumänien ist irgendwie immer schwarz, tiefschwarz – weil es wirklich die Farbe der Erde hier ist oder weil die Stimmung so bedrückend ist. Die Sonne geht auf, aber nicht glühend, sondern eher wie bei einer chemischen Reaktion, wenn Stoffe eine Verbindung eingehen und sich alles verflüssigt. Bukarest liegt hinter den Dünen von Plastikmüll, die der Wind vor sich hertreibt, die alles unter sich begraben, die wie die schwarzen Vögel, Raben oder Krähen, ich kann es nicht unterscheiden, über die verwüsteten Felder flattern, getrieben werden. Der Müll, der Plastikmüll: klebrig, sich nicht auflösend, hart, stärker und länger als ein Menschenleben, über den Tod hinaus, was sich niemand vorstellen kann, er lagert sich überall ab, er setzt sich überall fest. Wir durchfahren einen Kreis von stillgelegten oder nur heruntergekommenen Industriebetrieben. Sie gleichen Kadavern, mit ausgeschlagenen Scheiben, die niemand je erneuern wird. Sie werden einfach in der Landschaft liegenbleiben, in ihrer ganzen Größe rosten, verfallen, herabstürzen, von Staub und Asche bedeckt. Hat es je Landschaften von so großer Verwilderung und so gigantischer Verwahrlosung gegeben? Der Nachsozialismus wird begraben unter den Dünen des Abfalls, des Plastikmülls, von chemischem und nuklearem “waste”. Die Gesellschaft hat kaum Widerstandskraft gegen diese neue Form des Mülls, der unverderblich ist, nicht in Dekomposition übergeht. Die Gesellschaft hat noch nicht verstanden, daß das keine Sonnenblumenkerne sind, die man einfach auf den Boden spuckt. Es ist ein fremder, feindlicher, harter, zäher Stoff, den zu beseitigen ungeheure Kraft und Mittel kosten wird. Der Wind treibt die Plastikmüllwellen vor sich her wie der Wind die Dünen am Strand, auf Bukarest zu.

Dritte Sprache. Lingua Franca. Die dritte Sprache, die alles zusammenhält, ist Englisch, jenes Englisch der äußersten Reduktion, in seiner Ökonomie reduziert bis zur Armseligkeit, aber unverzichtbar. Auf Englisch sagen sich die Nachbarn, die ihre Sprachen nicht sprechen und nicht verstehen, das Allernotwendigste. Die dritte Sprache hilft ihnen sich zu verständigen, wenn sie sich nichts mehr zu sagen haben. Sie rückt in gewisser Weise an die Stelle des Jiddischen, das ausgerottet worden ist; an die Stelle des Deutschen, das durch die deutschen Herrenmenschen in Verruf gebracht und in der Folge aus dem Verkehr gezogen worden ist; an die Stelle des Russischen, das trotz Puschkin und Tolstoj doch die Sprache der Besatzer war. Das Englische ist an die Stelle des Lateinischen getreten, das Europa in der frühen Neuzeit zusammengehalten hatte. An seiner Verbreitung wird täglich, stündlich, Minute für Minute gearbeitet: CNN, Moscow Times, Baltic Independent, Prague Post; die Rezeption des Hotels, die Ansagen im Flughafen, die Sicherheitsanweisungen im Flugzeug, die Sprache der Geldautomaten. Das Universum spricht Englisch, auch das europäische.

Codes, Sound. Im ausgehenden 20. Jahrhundert breitet sich ein neuer Sound aus, ein Geräusch, das nun nie mehr verstummen wird. Das Summen der Rechner, das Klicken der Tastatur, wenn die Nummer auf dem Handy eingegeben wird, der Standard-Text der Mailbox. Dazu gehört eine neue Sprache, die die Älteren noch erlernen müssen, die die Jüngeren, vor allem die Jüngsten wie von selbst, im Nebenher sich zu eigen machen. Ihnen ist geläufig, wie man sich einloggt, wie man auf die Maschine antwortet, wenn man mit ihr in Kontakt tritt.

Eurolille. Die neue Stadt am Tunnel. Der Eurotunnel unter dem Kanal hat London und Paris zu Nachbarstädten gemacht mit Eurolille als Zwischenstation und Abzweig. Rem Koolhaas hat den neuen Bahnhof gebaut. Um den Bahnhof herum entsteht eine neue Stadt. So ist es immer in Europa gewesen. Wenn eine neue Brücke über einen Fluß geschlagen wurde; wenn ein neuer Paß geöffnet wurde; wenn eine neue Karawanserei eingerichtet wurde – immer wieder und immer wieder aufs neue werden Städte gebildet. Andere zerfallen, vergehen. Die neuen Städte im Europa nach 1989 sind auch: Narva an der estnisch-russischen, Kalvarija an der litauisch-polnischen Grenze, Ruse an der Donaubrücke zwischen Rumänien und Bulgarien, Rostov am Don an der neuen russischen Südgrenze, die Containerstädte an der finnisch-russi-schen Grenze.

Brüsseler Anthropologie. Brüssel ist ein Name, aber auch ein Ort. Brüssel gibt es wirklich. Es ist eine der Hauptstädte des neuen Europa. Brüssel ist die Heimat für Abertausende von Europäern geworden. Wer dort gewohnt und gearbeitet hat, kehrt verändert wieder. Er findet sich nicht mehr leicht zurecht in der kleinen Welt jenseits von Brüssel. Er blickt auf die Welt anders als zuvor. Sie ist ihm kleiner geworden. Er befleißigt sich einer Bi- oder Trilingualität, wo andere in ihren Heimatsprachen festsitzen. Er hat die Prozeduren verstanden, die man verstanden haben muß, wenn ein Gebilde von mehr als 25 Staaten zusammengefügt ist. Prozedurales Wissen. Wissen um die Kanäle, auf denen etwas auf den Weg gebracht werden kann. Brüssel soll zauberhaft sein, an bestimmten Orten. Es ist die Stadt Victor Hortas, des legendären Justizpalastes und von vielem anderen. Aber wir bräuchten, wenn wir das wachsende Europa verstehen wollen, vor allem eine Feldstudie, eine Brüsseler Anthropologie, entstanden aus teilnehmender Beobachtung und distanzierter Analyse. Brüssel ist ein Europa im kleinen. Wir können gespannt sein auf die Entdeckung dieser Stadt.

Sankt Petersburg/Baden-Baden. Festspiel-Europa. Baden-Baden hat ein neues Festspielhaus. Es muß bespielt werden, wenn es sich rentieren soll. Baden-Baden ist Festspielstadt geworden mit einem Einzugsbereich, der von Zürich bis Luxemburg, von Nancy bis Frankfurt/Main, von Stuttgart bis Basel reicht. In Baden-Baden sind die Petersburger unter ihrem Stardirigenten Valerij Gergiev besonders häufige und besonders gern gesehene Gäste. Gergiev hat neues Tempo und neuen Glanz nach Petersburg gebracht und Petersburg aus der Provinz herausgeführt. Gergiev hat Petersburg wieder an die internationalen Festspielrouten angeschlossen, auf der sich die Stardirigenten bewegen. Die Russen in Salzburg, an der Met, in Covent Garden, in Berlin. Und umgekehrt: Pierre Boulez in Moskau, Riccardo Muti in Petersburg. Die Europäisierung des Festspielwesens ist vollzogen. Europa ist wieder dort angekommen, wo es um 1900 schon einmal war: mit Richard Strauss in Petersburg, Gustav Mahler in Budapest und Djagilev in Paris.

Love Parade. Die Autokennzeichen am Vorabend der Love Parade auf der Straße des 17. Juni in Berlin kommen aus ganz Deutschland, aber auch von weiterher: Poznan, Wroclaw, Gdansk, Sczeczin, Katowice, Krakow, Warszawa. Mit den Bussen sind auch Jugendliche angereist: aus Riga, Kaunas, Vilnius, Prag, Amsterdam. Der Sound, die Ekstase, die nächtliche Tour, die auf sie folgt. Alles, was dazugehört: das outfit, der Jargon, der Kult. Die Love-Parade-Erfahrung ist grenzüberschreitend und wird in der Erinnerung derer, die in den 1990ern dabeigewesen sind, Baustein der Lebenserinnerung sein. Die jungen Leute, die da von weither anreisen, bleiben unter sich. Es macht keinen großen Unterschied, ob die Parade durch Zürich, Köln oder Wien führt. Die Lust an der Bewegung des Körpers, das Spiel mit den Sprüchen, die Bereitschaft zur vollständigen Erschöpfung, das Ausarbeiten der Aggressionen, überall dasselbe – Dionysos ist zurück in den Städten.

Planet Moskau. Moskau verschlägt auch dem regelmäßigen Besucher immer wieder den Atem. Man kommt nicht mehr mit, nicht mehr hinterher. Die Türme wachsen im Halbjahresrhythmus in den Himmel. Der Strom der Autos wälzt sich wie Lava durch Straßen, die einmal überdimensioniert waren, nun aber den Verkehr nicht mehr fassen. Stalins Hochhäuser haben Konkurrenz bekommen, aber nachts, wenn sie illuminiert sind, leuchten sie wie Cesars Palace am Strip von Las Vegas. Man wundert sich nicht darüber, daß die Entscheidung über den Bau des Tower of Russia, des höchsten Gebäudes Europas, schon gefallen ist. Mit dem Bauboom kann nur die Abrißwut, die Orgie der Zerstörung mithalten. Ikonen der Moskauer Architekturgeschichte sind gefallen: die Manege am Alexandergarten, das Jugendstilkaufhaus Voentorg, Scusevs Hotel Moskva aus den 1930er Jahren. Man weiß nicht, wie es möglich war, daß ganze Straßenzüge, ganze Viertel binnen kürzester Zeit instand gesetzt, renoviert, illuminiert worden sind – aber es ist keine Illusion, sondern eine Tatsache. Man weiß nicht, wie es kommt, daß in der Stadt so viele Luxuslimousinen rollen, aber sie rollen, unbestreitbar und nicht zu Reklamezwecken. Moskau, die alte graue, gelbgraue Stadt, ist grell und bunt geworden. Moskau, die Stadt des Schlangestehens von einst, ist rasend schnell geworden. Sie ist so teuer geworden wie London oder Tokio, und man fragt sich hier wie dort, wie man leben und überleben kann. Aber zwölf Millionen Einwohner tun es, ohne daß es bisher zu einem großen Knall gekommen ist. Moskau hat mühelos die Zeiten, die hier aufeinandertreffen, synchronisiert: die Zeit der Provinz, die mit den Zügen und den Arbeitsmigranten in die Stadt einsickert, und die Zeit der global player, die Zeit von CNN und des Plastikgeldes. Aber Moskau ist näher an London als an Kostroma oder Tula. Es gibt zwar noch die Moskauer Zeit, die von MEW um eine, von GMT um zwei Stunden differiert, doch die Moskauer Uhren ticken nicht anders als die in Berlin oder Paris, eher hektischer. Moskau ist der Planet, der sich davon gemacht und Rußland hinter sich gelassen hat. Moskau ist im 21. Jahrhundert angekommen, das Land weit draußen kommt nicht mehr mit und fällt vielleicht zurück ins 19. Jahrhundert.

Neue Landmarks. Hat das neue Europa Bauten hervorgebracht, die gleichsam zu Symbolen, Ikonen eines neuen Anfangs, eines glücklichen Endes eines im großen und ganzen katastrophischen Jahrhunderts geworden sind oder werden könnten? Mir fällt kein solcher Bau ein. Die Millenniumsbauten waren alle irgendwie ausgedacht, Spielerei, Laune des Augenblicks. Es gibt Gehrys Museumsbau in Bilbao, es gibt die Bibliothèque Nationale und das Centre du Monde Arabe in Paris, es gibt ein Olympiastadion in Athen und einen Parlamentsbau in Straßburg – aber schwerlich würde man sagen, daß sie Marken einer Wende, eines Endes und eines Anfangs sind. Anders ist es mit Silhouetten, die ganzen Städten ein neues Aussehen geben: die wachsende Skyline von Frankfurt/Main und London, die Türme in der Warschauer Innenstadt, die Stalins Kulturpalast einkreisen und so disziplinieren, die neuen Hochhäuser in Vilnius und Riga, auch die Gipfel und Türme am Potsdamer Platz in Berlin. Und Rekonstruktionen und Neubauten: die mächtige Kuppel der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau hat die ganze Skyline verschoben; die Frauenkirche in Dresden; das in neuem Glanz strahlende Gresham Palace am Roosevelt-Platz in Budapest; die wiederhergerichtete Nationalbibliothek in Sarajevo. Aber einen Bau von der Art, mit der das 20. Jahrhundert sich angekündigt hatte: Gustave Eiffels Turm zur Pariser Weltausstellung – so etwas hat das Europa hundert Jahre später nicht zu bieten.

Skyline von Tallinn/Reval. Seit Estland wieder ein unabhängiges und freies Land ist, nähert man sich seiner Hauptstadt nicht nur per Bahn oder per Flugzeug, sondern von der See her, auf einer der stündlich verkehrenden Fähren aus Helsinki. Seit Estland eines der Boomländer des postsowjetischen Kapitalismus ist, wachsen neue Türme empor. Zur Silhouette von Sankt Olai, des Rathausturms und der Türme auf dem Domberg sind in den letzten 10 Jahren neue Türme hinzugefügt worden: Hotels, Geschäftshäuer, vor allem aber Banken. Sie wachsen verdichtet in der Neustadt, in der noch in sowjetischer Zeit die Hotels Viru und Olympia gebaut worden waren. Nun aber wächst dort eine Art Tallinn City aus verspiegeltem Glas, mit angeschnittenen Fassaden, aufgesetzten Antennenmasten, silbriger Haut und nachts in phosphoreszierender Beleuchtung. Das ist eine andere Stadt. Reval hatte eine Silhouette, die seit dem ausgehenden Mittelalter fertig, fixiert war. Nur einmal war ein mächtiges Zeichen gesetzt worden: die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale auf dem Domberg, wo sie noch heute steht, von manchen gehaßt als Symbol russisch-sowjetischer Herrschaft, von anderen hingenommen als zusätzlicher Reiz in der etwas eintönigen Farbigkeit der nördlichen Hansestadt. Nun aber die Türme, aus denen im Winter die Dampfschwaden der Heizungs- und Klimaanlagen aufsteigen, ein Hauch von City of London. Anschluß ans Jahrhundert der Hochhäuser. Es steht Tallinn gut, und es ist nur die Fortführung der Linie des Turms der Kirche des heiligen Olai.

Wetterkarte. Die Zeitungen und das abendliche Fernsehen bringen ausführliche Wetterberichte mit Angabe von Temperaturen, Windrichtung, Feuchtigkeit an wichtigen Punkten in Europa und in Übersee. Neapel, Istanbul, Kiew, Glasgow, Helsinki. So etwas muß nur ein Publikum wissen, das heute hier und morgen da ist. Einst, in Zeiten des Kalten Krieges und als Europa noch geteilt war, stand Europa nur auf der Wetterkarte als ganzes vor Augen. Nun bildet die Wetterkarte das erreichbare Europa ab, Europa in Reichweite.

Berlin. Europe¹s Pleasure Ground. Berlin folgt irgendwie nicht den Zukunftsperspektiven, die die Verantwortlichen für die Stadt entworfen haben: Drehkreuz Europas, Schnittstelle der Vereinigung, Herz Europas. Berlin hat seinen eigenen Kopf und geht seinen eigenen Weg. Vieles spricht dafür, daß es zum privilegierten Erholungspark in Europa, zu Europe¹s Pleasure Ground wird. Berlin ist geräumig. Die Straßen sind breit. Sie bieten allen Raum. Man hat nie Schwierigkeiten beim Einparken. Man kann ohne Skrupel in der Stadt unterwegs sein. Der Himmel ist weit, weil die Traufhöhen eingehalten werden und den Horizont nicht begrenzen.

Es gibt von allem genug: von Straßen, Parks, Seen, Wohnfläche, Trottoiren, Kneipen, Terrassen, Abständen zwischen den Häusern. Es gibt drei Opernhäuser, drei erstklassige Symphonieorchester, mehrere erstklassige Sprechbühnen, Museen im Überfluß. Die Luft ist besser geworden, seit Betriebe geschlossen wurden und die Stadt desindustrialisiert worden ist.

Berlin ist immer noch damit beschäftigt, die Leere, die ein Regime, ein Krieg und eine lange Teilung erzeugt haben, wieder aufzufüllen. Daher gibt es mitten in einer Stadt, die auch Hauptstadt ist, Dinge, die man sich anderswo nicht leisten kann. Einen Sandstrand im Sommer inmitten des Regierungsviertels, Gärten und Brachen, wo anderswo Autos gestapelt sind, Planungen für Golfplätze dort, wo einmal drei U-Bahn-Linien sich kreuzten. Berlin hat von allem: Seen, die man in 20 Minuten leicht erreichen kann, Konzerthäuser, zu denen man per Fahrrad gelangen kann. Berlin ist eine der wenigen Metropolen, die sich den Luxus leisten, in der Hauptsaison ihr Zentrum zur Spielfläche zu machen: kein Wochenende, an dem die City nicht für das Vergnügen gesperrt wäre: Karneval der Kulturen, Love Parade, Christopher Street Day, Berlin-Marathon, der Kurfürstendamm als Laufsteg, die Museumsinsel als Freiluftkino, Feuerwerke am Pariser Platz.

Alles findet an zentraler Stelle statt, dort, wo sonst Staatsgäste auftreten. Hier gibt es Kneipen, die keine Sperrstunde kennen, Schiffe, die über Kanäle und Grachten gleiten. “Kino & Kneipen”, “Pleasure & Wellness” machen den Hauptteil der dicken Stadtmagazine aus. Darüber hinaus ist Berlin im Vergleich zu anderen Städten wie London oder Moskau spottbillig. Die Billigflieger haben Berlin längst entdeckt. Wem die Weite Berlins nicht genügt, kann auch ins brandenburgische Umland hinausziehen. In einer halben Stunde ist man draußen in einer menschenleeren Landschaft. Man hat sogar Anschluß ans Meer, Usedom nennt sich die Badewanne von Berlin. Im Sommer sind Ahlbeck, Kühlungsborn, Swinemünde, Misdroy Vororte von Berlin. Berlin ist etwas für jüngere Leute, die von anderen deutschen Städten die Nase voll haben, aber auch für ältere, für Pensionäre, für Diplomaten im Ruhestand, die es zur Oper, zum politischen brain trust, zur Stiftung genauso nah haben wollen wie zur Terrasse am See. Es wird einem nie langweilig in Berlin, das dabei ist, ein Themenpark des 20. Jahrhunderts zu werden, mit verschütteten Tunnels, verlassenen Gleisen, Topographien des Terrors, wirklichen Schreckensorten und inszenierten.

Rettungswagen. Moskau, Istanbul, Madrid. Auf der Karte Europas, die neu gezeichnet wird, tauchen neue Symbole auf. Der Krieg ist dabei, wieder in die Städte zurückzukehren. Explosionen, Flammenzeichen, Druckwellen. In ihrer Nähe sind Scharfschützen und Sprengstoffspezialisten postiert. Gepanzerte Fahrzeuge. Bewaffnete Männer in schwarzen Monturen. Die Viertel, in denen es geschehen ist, sind abgeriegelt. Krankenwagen und Feuerwehrwagen rasen mit Blaulicht und Sirenen dorthin. Eine Fassade ist eingestürzt. Die Fensterscheiben in der ganzen Umgebung sind herausgeflogen. Das Straßenpflaster ist von Glassplittern bedeckt. Neben der Aktentasche eine abgerissene Hand. Davonstürzende Passanten, die sich den blutenden Kopf halten. Andere, die weggeführt werden. Auf dem Asphalt liegen Tote. Scheinwerferlicht. Aufnahmen aus dem Helikopter. Zerfetzte Waggons, ausgebrannte Züge im erleuchteten U-Bahntunnel. Eine Aufnahme aus der Kamera, die den Bahnsteig überwacht hat. Die Orte haben einen Namen: Antocha in Madrid, Musical-Theater Nordost in Moskau, britisches Konsulat in Istanbul, Schule in Beslan. So entsteht eine neue Karte Europas.

Jahrestage. Synchronisierung. Europa wird alt. Europa wird gemeinsam alt. Das geteilte Europa hatte seine Jahrestage gegeneinander gefeiert, Europa nach 1989 feiert zusammen. Jahrestage und Jubiläen sind: Die Befreiung von Auschwitz, Stalins Todestag, Aufstand in der DDR, Warschauer Aufstand, Landung der Alliierten in Omaha Beach, Kriegsbeginn, Kriegsende. Angenehmer sind die Feiern um die großen Europäer: Mozart. Erasmus. Dvorak. Gombrowicz.

Das Verschwinden der Post, das Verschwinden des Briefs. Wir nehmen Abschied von einem ganzen Kapitel unserer Kultur, die im Briefeschreiben lag. Auch die Aufmerksamsten unter uns, die das Briefeschreiben nicht preisgegeben haben, schreiben e-mails, weil es schnell, zweckmäßig, zeitökonomisch ist. Sie werden keine Spur hinterlassen. Nicht einmal Schnipsel, die man wieder zusammensetzen kann. Allein das Verdächtige wird bleiben und gespeichert von den dafür zuständigen und dazu ausgerüsteten Institutionen. Es wird alles verändern: die Vorstellung von Nähe und Ferne, von Anrede und Gruß, von Intimität und Diskretion. Man vertraute einst seine Briefe nach Moskau oder Warschau nicht der Post an. Der Kontakt war beschwerlich. Der Brief war die Kommunikationsform unter Freunden. Ein Maß der Verbindlichkeit. E-mail ist Allerwelts-Kommunikation. Die fremdesten Leute haben Zutritt. Der Osten hat die Phase der Modernisierung der guten alten Post übersprungen. Er ist gleich zur elektronischen Post übergegangen.

Das Du. Familientreffen auf höchster Ebene. Staatsmänner des ausgehenden 20. Jahrhunderts oder jedenfalls viele von ihnen, sind untereinander per Du. Sie reden sich an als Tony, Gerd, Jacques, Fred, Vladimir, Aleksander. Sie befleißigen sich in aller Öffentlichkeit einer Gestik der Intimität, fassen sich an, kneifen sich in den Oberarm, umarmen sich zuweilen, tauschen auch Küsse aus. Der Kuß wandert aus dem Osten in den Westen. Auch ihre Ehefrauen und Freundinnen machen sich miteinander bekannt, verbringen miteinander Feiertage wie Weihnachten, die bisher als Familienfeste galten. Sie unterhalten sich darüber, wie ihre Kinder geraten sind und wie man Spaghetti zubereitet. So etwas hat es noch nie gegeben, es sei denn innerhalb der europäischen Aristokratie. Doch war man damals unter sich und behielt es für sich.

Es gibt keinen Ersatz für Genf. Genf ist ein Ort, der aus internationalen Beziehungen gewebt ist. Der ganze Ort – die Palais des Völkerbundes, die Museen, die Hotels, die Residenzen, die Botschaften – ist auf Empfang der Welt, auf Verhandlung von Problemen planetarischen Zuschnitts ausgerichtet. Seine Existenzberechtigung scheint in der Organisation eines Platzes der Vermittlung zu bestehen. Jede dritte Hausnummer verweist auf die international-globale Dimension des Ortes. Die Welt scheint sich hier niedergelassen zu haben. Dazwischen gibt es auch türkische Kebab-Restaurants, libanesische und thailändische Restaurants. In Genf hat sich die Diplomatie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kondensiert. Was Genf einmal war, ist heute das Gebäude am East River in New York.

Schwarzes Loch Belarus. Es gibt Orte, die sind herausgefallen aus dem neuen Europa. Sie haben Zeit und Kraft verloren. Es sind große, bedeutende, einmal vibrierende Städte, die im Haß, in der Selbstisolation und schließlich im Krieg verkümmert sind: Belgrad ist ein solcher Fall – eine Stadt, einst Treffpunkt Europas, ist nicht mehr wiederzuerkennen. Aber es kann auch ganze Landstriche, Länder und Staaten treffen. Dieser Fall ist mit Belarus gegeben, obwohl durch das Land die Haupttrasse des ost-westlichen Verkehrs verläuft. Der Sog der Umwälzung in der nächsten Nachbarschaft – in Polen, Litauen, Ukraine, selbst in Rußland – hat nichts bewirkt, nicht einmal eine Milderung des Regimes. Unser Bild von Europa wäre unvollständig und ganz falsch, wenn wir die Augen verschlössen vor der Möglichkeit, ja vor der Existenz “schwarzer Löcher” mitten in Europa.

Peregrinatio academica. Vor dreißig Jahren war ein Studienjahr im Ausland fast noch die Ausnahme, Ergebnis einer spezifischen Anstrengung eines besonders energischen und weltzugewandten Studenten. Die europäischen Austausch- und Studienprogramme mit den europäischen Namen Erasmus oder Sokrates haben das Studium im Ausland zur Selbstverständlichkeit, zur Routine gemacht. Unmerklich, unspektakulär sind wir wieder auf die Pfade der akademischen Wanderung aus der Zeit vor den Nationalstaaten eingeschwenkt. Salamanca, Bologna, Heidelberg, Krakau, Tartu stehen nicht für historische Reminiszenzen oder Abenteuer, sondern sind schlicht Stationen in einem akademischen Werdegang.

Piazza Garibaldi, Neapel – Hauptbahnhof, Kiew. Auf Neapels verkehrsreichstem Platz vor der Stazione Centrale gehen auch die Überlandbusse ab. Aus dem Herzen Neapels geht es direkt und ohne umzusteigen nach Przemysl, Katowice, Lublin, oder weiter in die baltischen Städte. Täglich gibt es eine Direktverbindung über Zitomir nach Kiew, und täglich gibt es eine Flugverbindung von Neapel nach Lemberg. Man merkt es abends in der Stadt, wie nah die Ukraine, vor allem die westliche, Galizien also, ist, wenn man in den Gassen um die Via Tribunali die ukrainische Sprache aufschnappt oder an den Kirchenportalen dazu eingeladen wird, an den Gottesdiensten im unierten Ritus teilzunehmen. Auch ukrainische Kindergärten gibt es. Das deutet darauf hin, daß Ukrainer in Neapel längst seßhaft geworden sind. Ähnliche Beobachtungen können in fast allen anderen großen westeuropäischen Städten angestellt werden: am Zentralen Omnibusbahnhof in Hamburg oder am Funkturm in Berlin. Dutzende von Bussen stehen in den Abendstunden zur Abfahrt bereit. Die Große Wanderung ist längst im Gange, und niemand wird sie aufhalten oder rückgängig machen können. Europa ist längst ein Kontinent der Pendler und Migranten geworden.

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen Abdruck aus Karl Schlögel, Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte, Carl Hanser Verlag 2005.

Published 12 October 2007
Original in German
First published by Osteuropa 8/2005 (German version)

Contributed by Osteuropa © Karl Schlögel / Osteuropa / Eurozine

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