"Walhalla ist ein Warenhaus"

Der hochtechnisierte Romantizismus des deutschen Kaiserreichs

Im Jahr 1908 konstatiert der Wiener Publizist Karl Kraus, das moderne Leben sei zur “Stehbierhalle” verkommen, das Schicksal zum Warenhaus: “Um die Seele des Men-schen ringen Wertheim und Tietz” (Kraus 1908, S. 26). Kraus pessimistischer Seufzer kolportiert eine vor allem im Deutschen Kaiserreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitete Furcht vor der Warenhausmoderne, die die Seele und das Eigentliche des Menschen in Gefahr bringe. Die konsumorientierte Gegenwart greife, so glaubten viele Zeitgenossen von Kraus, nach den Werten der Vergangenheit und löse diese auf, oder – schlimmer noch – versehe sie mit einem Preisschild, um sie in den allgemeinen Warenkreislauf einzubringen und so zu entwerten.

Die Eröffnung der ersten Warenhäuser um 1900 wurde in Deutschland insgesamt als volkswirtschaftliche Bedrohung und vor allem als sichtbarer Ausdruck modernen Kulturverfalls und als Amerikanisierung gewertet, und weniger als Zeichen eines ökonomischen und kulturellen Aufbruchs. Hier zeigte sich ein deutscher Kulturpessimismus, dessen Denkmuster aus der Spätromantik stammten und der die angelsächsische Zivilisation abwertete und gegen die deutsche Kultur ausspielte. Trotz der kulturkritischen Einschätzung zur Warenhausverbreitung insgesamt begeisterte man sich aber durchaus für die Warenhausbauten als solche und für die technischen und logistischen Innovationen, die das Warenhaussystem mit sich brachte. Die Warenhäuser des Deutschen Kaiserreichs wurden damit symbolische Räume der Moderne, die einerseits ob ihrer technischen und architektonischen Raffinesse bewundert, deren gesellschaftliche Auswirkungen andererseits gefürchtet wurden. Sie waren so Kristallisationspunkte einer moralisch aufgeladenen, mit antisemitischen und misogynen Stereotypen durchsetzten Debatte um den beginnenden Massenkonsum und die Modernisierung des Kaiserreichs. Und es war vor allem der deutsche “Mittelstand”, der kulturpessimistisch vor den Ver-lockungen der “Warenhausmoderne” warnte.

Im Folgenden wird gezeigt, wie sich der deutsche Mittelstand als solcher im Abwehr-kampf gegen die Warenhäuser konstituierte und wie es ihm gelang, das Warenhaussystem zu diskreditieren, wie gleichzeitig aber auch die technische Seite dieses Systems auf Bewunderung stieß. Dabei wird herausgearbeitet, inwiefern diese Gleichzeitigkeit von Kulturpessimismus und technischer Faszination als Ausdruck eines typisch deutschen “hochtechnisierten Romantizismus” verstanden werden kann, der die kulturellen Folgen der Moderne ablehnt, ihre technische Errungenschaften aber begrüßt.

Die Faszination von Architektur und Technik

Vor allem die Architektur der Häuser und die mit ihr verbundene Art der Theatralisierung der ausgestellten Waren ist ein sinnfälliger Ausdruck der entstehenden Konsumgesellschaft um 1900. Modern war das Warenhaus nicht nur wegen seiner neuartigen Geschäftspraktiken (Barzahlung, hoher Warenumsatz, alle Dinge unter einem Dach, direkter Zugriff der Kunden auf die ausgestellten Waren), sondern auch und vor allem aufgrund seiner neuartigen Ästhetik und Architektur. Das Warenhaus der Jahrhundertwende wurde vornehmlich als Eisenkonstruktion errichtet, deren Front fast vollständig verglast werden konnte. Damit öffnete sich der vormals abgeschlossene Warenraum nach außen. Das window-shopping, das erst mit den Warenhäusern möglich wurde, weckte Wünsche, die die Klein- und Einzelhändler des deutschen Kaiserreichs nicht mehr befriedigen konnten. Auch der Innenraum der Warenhäuser unterschied sich deutlich von den engen, dunklen Kammern, in denen die meisten Geschäfte um 1900 noch untergebracht waren. Er war hoch, lichtdurchflutet und die Eisenbauweise ermöglichte riesige Räume, die dem Blick des Betrachters keine Grenzen setzten. Der zeitgenössische Begriff Konsumtempel vermittelt einen Eindruck davon, wie die Innenräume der ersten Warenhäuser auf die Besucher gewirkt haben müssen: Der Konsum stand plötzlich im Mittelpunkt eines Raumerlebens, das vorher nur in Sakralbauten zu erfahren war. Émile Zola beschreibt in seinem Roman Im Paradies der Damen – dem Urtext der literarischen Beschäftigung mit der neuen Betriebsform Warenhaus – die Wirkung der Warenhausarchitektur auf seine Protagonistin Denise: “Dieses Geschäft, das so plötzlich vor ihr aufgetaucht war, dieses für sie ungeheuer grosse Haus, liess ihr das Herz aufgehen, hielt sie im Bann; aufgewühlt, voller Interesse, vergass sie alles übrige” (Zola 2002, S. 6). Die Weite des Raumes war Teil einer kaufmännischen Persuasionsstrategie, die mit visuellen Reizen kombiniert verkaufsfördernd wirken sollte. Auch die Art der Warenpräsentation war Teil einer visuellen Strategie, die darauf abzielte, Gebrauchsgegenstände mit Bedeutung und Sinn aufzuladen, um sie so begehrenswerter zu machen. Die Schaufenster, Glasvitrinen und Präsentationstische des Warenhauses arrangierten und dramatisierten die zu verkaufenden Gegenstände und luden so gewöhnliche Handelswaren mit einem symbolischen Mehrwert auf. Die Warenhäuser verkauften nicht nur Artefakte, sondern auch Images; die Kunden der Warenhäuser wurden nicht mehr nur vom Gebrauchswert einer Ware überzeugt, sondern auch von ihrem ästhetischen Reiz und vom Versprechen auf die soziale Anerkennung, die ein Kauf in der Vorstellungswelt der Warenhauskunden zeitigen musste. Die Schaufenster der Warenhäuser machten die Bürger und Bürgerinnen der Städte mit neuen Waren vertraut, luden Produkte mit erwei-tertem Sinngehalt auf und schufen eine Konsumwelt, die über die kulturellen und ökonomischen Begrenzungen der Jetztzeit verwies. Das Warenhaus selbst war so eine Vitrine der Moderne, eine Erziehungsanstalt, die die Untertanen des Kaiserreichs auf die kommende Konsumgesellschaft vorbereitete. Wie dominant die Warenhäuser – durch ihre Architektur und auch durch ihre Werbetafeln – im Stadtbild dabei geworden waren, wird ersichtlich, wenn man den Beschreibungen des Autors Walter Schweriner folgt, der unter anderem davon berichtet, dass bereits kurz nach der Eröffnung des Warenhauses Wertheim die Schaffner der “Großen Berliner Pferdebahn” an den Haltestellen am Leipziger Platz nur noch “Wertheim” ausriefen.1

Nicht nur die Architektur, sondern auch die Technik der Warenhäuser faszinierte die Zeitgenossen. Der Publizist Leo Colze beispielsweise beschreibt in einer Broschüre zum modernen Kaufhaus von 1908 insbesondere die Versorgungstechnik des “Kaufhaus des Westens, Berlin”. Er schreibt detailliert über die Belüftung, Heizung, Elektrik, über den Feuerschutz, die Kühlung und die Wasserversorgung des neu eröffneten Kaufhauses. Colze beschreibt die Technik des Warenhauses in seiner Monographie, die sich vor allem an interessierte Laien richtet, insgesamt in einer Detailfülle, die auf den heutigen Leser ermüdend wirkt, die aber einen guten Eindruck von der ungeheuren Wirkung des technischen Komplexes Warenhaus auf den damaligen Beobachter vermittelt. Colze war überwältigt von der “Riesenmaschine” Warenhaus und er lobt auch explizit die moderne Architektur des KdW.

Der Kampf des Mittelstandes gegen das Warenhaus

Während viele Zeitgenossen sich durchaus von der architektonischen und technischen Güte des Warenhauses beeindruckt zeigten, war der Diskurs über die gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen der Betriebsform Warenhaus innerhalb des Deutschen Kaiserreichs sehr viel negativer. Auch wenn im Deutschen Kaiserreich noch 1913 der Anteil der Warenhäuser am Einzelhandel nur 2,5 Prozent betrug, waren die Warenhäuser als deutlich und weithin sichtbare Zeichen des sozioökonomischen Wandels heftiger Kritik ausgesetzt.

Die ökonomisch argumentierenden Gegner des Warenhauses im Kaiserreich rekrutierten sich dabei häufig aus den Reihen der Kleinhändler. Dort war die Angst, von der wirtschaftlichen Kraft der Großkaufhäuser an den Rand gedrängt zu werden, natürlich besonders groß. Entsprechend skeptisch sah man den rasanten Aufstieg des Warenhaussystems. Das Warenhaus wurde von den Klein- und Einzelhändlern als existentielle Bedrohung verstanden, und so entwickelte sich unter dem Eindruck dieser Konkurrenz die Idee vom Mittelstand, dessen Träger auch der Einzelhandel sei, und der im Gegensatz zu den Warenhauskapitalisten einen sozial und politisch verantwortungsvollen Handel betreibe. Der auch heute noch virulente Mittelstandsbegriff diente demnach zunächst als Konstrukt zur Abgrenzung gegen das moderne Großkapital, das sich im Kaiserreich als Warenhaussystem zeigte. Tatsächlich verschlechterten sich um 1890 die Bedingungen für den Einzelhandel dramatisch, da mit dem langsamen Niedergang des Handwerks immer mehr Menschen in den Klein- und Einzelhandel drängten. Viele Einzelhändler machten für die Verschlechterung ihrer Situation allerdings vornehmlich die Warenhäuser verantwortlich, obwohl deren Anteil am Gesamtumsatz um 1900 noch nicht besonders groß war. Zudem war der berufliche Status der Einzelhändler im direkten Vergleich zu den Handwerkern lange Zeit unklar und unsicher; viele Händler blieben wirtschaftlich erfolglos und das Händlerwesen erschien vielen Deutschen des Kaiserreichs ohnehin als undeutsch. So stellte etwa der Soziologe Werner Sombart dem angelsächsischen Händler das Idealbild des deutschen Helden entgegen. Die Mittelstandsideologie speiste sich jedenfalls aus dem Wunsch der Händler und Handwerker, die Mitte der Gesellschaft zunächst zu konstituieren und dann auch dort zu bleiben. Der Kleinhandel forderte deshalb ebenso vehement wie erfolglos eine gravierende Besteuerung der Warenhäuser. Der Mittelstandsvertreter Paul Dehn (1899) beispielsweise ging in seinem Aufsatz Die Grossbazare und Massenzweiggeschäfte davon aus, dass nur eine hohe Warenhaussteuer den kleinen und mittleren Handel vor dem Untergang bewahren könne. Er vermutete, dass die Warenhäuser zu einer Gesellschaft der Extreme führten, in der sich eine Minderheit von Warenhauskapitalisten einer Masse von Kleinhandel-Proletariern gegenübersähe. Der Publizist Henningsen spricht gar von einer kulturfeindlichen und staatszersetzenden Wirkung der Warenhäuser, da sie den Mittelstand bedrohten.

Die Idee vom Mittelstand als wichtigster Träger von Wirtschaft und Gesellschaft ist dabei eine sehr deutsche: Das Konzept Mittelstand existiert in anderen europäischen Ländern nicht, obwohl überall dort, wo das Warenhaus zwischen 1850 und 1900 seinen Siegeszug antrat, eine von Kleinhändlern mitgetragene Abwehrbewegung gegen die Warenhäuser beobachtet werden konnte. Der englische Begriff middle class beziehungsweise die französische classe moyenne bezeichnen lediglich sozio-ökonomische (und damit verbundene kulturelle) Kategorien. Der deutsche Begriff Mittelstand hingegen verknüpft die sozioökonomische Lage des Einzelnen mit einem Verweis auf eine romantische Vergangenheit, in der jeder um seinen unverrückbaren Platz in der Gemeinschaft weiß.

Der Begriff entspringt damit der Vorstellung von einer ständisch geprägten Gesellschaft mit einer festen sozialen und kulturellen Hierarchie, er beschreibt eine adynamische Gesellschaftsstruktur, die nicht auf Wandel, sondern primär auf Stabilität ausgerichtet ist. Die Kleinhändler, deren sozialer Status unsicher geworden war, suchten staatlichen und gesellschaftlichen Schutz unter dem Begriff und der Idee Mittelstand und sie nutzten diesen Begriff gleichzeitig, um sich von dem modernen, als bedrohlich wahrgenommenen Warenhaussystem abzugrenzen. Der Begriff Mittelstand war demnach im Kaiserreich damit auch ein Kampfbegriff, mit dem die Warenhäuser attackiert wurden.

Dabei wurde auch auf antisemitische Stereotype zurückgegriffen, waren doch viele Wa-renhausbesitzer Juden. Der berüchtigte Antisemit Theodor Fritsch gab in seiner Hetzschrift Handbuch der Judenfrage (das 1887 zunächst als Antisemitismus-Catechismus erschien) den Ton und die Argumentationsstränge für die Diskussion vor; er spielte dann auch für die politische und ideologische Ausrichtung des Reichsdeutschen Mittelstandsverbandes eine wichtige Rolle. Fritsch kontrastiert in seinem Handbuch den ehrlichen deutschen Kaufmann mit dem Warenhausjuden, der durch “tausend Schliche und Kniffe” (Fritsch 1887) den Käufer zu täuschen versuche.

Die Warenhausmoderne und ihr “hochtechnisierter Romantizismus”

Ein kritischer Beobachter deutscher Verhältnisse um 1900 war der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen. Ihm zufolge wurde das deutsche Kaiserreich von der technischen und ökonomischen Entwicklung ab 1870 geradezu “überrollt”. In Imperial Germany and the Industrial Revolution (1915) und in An Inquiry into the Nature of Peace and the Terms of its Perpetuation (1919) zeigt er, dass die schnelle wirtschaftliche Entwicklung den Deutschen keine Zeit gelassen habe, ihr politisches und kulturelles System an die Moderne anzupassen und die Wucht der Veränderung das Kaiserreich überforderte. Während in den USA und England der Modernisierungsprozess zwar auch zu erheblichen Friktionen geführt habe, sei er dort aber hinreichend langsam verlaufen, um den Amerikanern und Engländern Gelegenheit zu lassen, sich auf die neuen technischen und ökonomischen Herausforderungen auch kulturell und politisch einzustellen. Für Veblen war das Kaiserreich damit nur ein unvollständig moderner Staat. Ein modern regime existierte für ihn nur dort, wo die modernen ökonomisch-technischen Rahmenbedingungen eine entsprechende Spiegelung im politisch-kulturellen Bereich erfuhren. Demokratische Systeme wie die USA und England konnten sich nicht nur besser an Veränderungen anpassen als das “dynastische” System des deutschen Kaiserreichs. In demokratischen Systemen, so Veblen, änderten sich auch die Einstellungen und Wertmuster der Bürger schneller als in ihren dynastischen Gegenstücken, in denen die Untertanen noch lange veralteten, romantischen Vorstellungen anhingen. Ein modern regime entwickele sich evolutionär, ein dynastisches nur revolutionär. In Deutschland blieb diese Revolution allerdings aus, und damit verfügte ein “archaisch dynastisches” politisches System gleichzeitig über modernste Technologien.

Veblens Skizze dieser frühen Modernisierungstheorie und seine Begründung für den Entwicklungsrückstand des deutschen Kaiserreiches auf politisch-kulturellem Gebiet enthält im Kern die Argumente, die Barrington Moore in den 1960er Jahren in Social Origins of Dictatorship and Democracy formulierte. Moore interpretierte den deutschen Sonderweg in die Moderne als eine konservative Revolution, bei der zwar eine ökonomische Modernisierung angestrebt wurde, gleichzeitig aber traditionelle und autoritäre politische, kulturelle und soziale Strukturen beibehalten wurden. Ganz anders, so Moore, verlief die Entwicklung in England, den USA und Frankreich. Dort waren einerseits (unterschiedliche) bürgerliche Revolutionen erfolgreich, andererseits verliefen dort die ökonomische und die politisch-kulturelle Modernisierung weitgehend synchron. Diese Länder schlugen deshalb, im Gegensatz zu Deutschland, einen “demokratisch-kapitalistischen” Weg in die Moderne ein. Moores Modernisierungstheorie interpretiert die Abwesenheit von demokratischen Institutionen in wirtschaftlich hochentwickelten Staaten als “Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen”.

Dieses Argumentationsmuster – im Deutschland der Jahrhundertwende hätten zwar auf einer technisch-organisatorischen, aber nicht auf einer politisch-kulturellen Ebene Prozesse der Modernisierung stattgefunden – ist nach Herf (1984) als “reactionary modernism” zu bezeichnen. Herf beschreibt mit diesem Begriff ein kulturelles Paradoxon der deutschen Gesellschaft, nämlich die Begeisterung der intellektuellen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite für Technik und ökonomischen Fortschritt bei gleichzeitiger Ablehnung einer aufklärerischen, liberalen Haltung. Er benutzt den Begriff um die spezifische Modernität des Nationalsozialismus zu erklären, deren Wurzeln er bis in die Weimarer Republik und teilweise bis ins Kaiserreich verfolgt. Der Gegensatz von “westlicher Zivilisation” und “deutscher Kultur” wird von “reactionary modernists”, so Herf, aufgelöst, indem sie versuchen, die technischen Aspekte der Zivilisation für die deutsche “Kulturna-tion” fruchtbar zu machen. Das Konzept des reactionary modernism ist dabei eher als idealtypisches Konstrukt zu verstehen denn als exakter historischer Begriff: Herf bezieht sich hier auch auf Thomas Manns Diktum vom hochtechnisierten Romantizismus des Kaiserreichs, den Mann aus der deutschen Geistesgeschichte und vor allem aus einer typisch deutschen Innerlichkeit heraus erklärt.

Herfs Begriff des reactionary modernism ist sicherlich von einer eher starren Polarisierung zwischen Reaktion und Moderne geprägt, die der unübersichtlichen, historischen Realität des Kaiserreichs nicht wirklich gerecht werden kann. Herf bringt allerdings die von Veblen um 1900 entwickelte Modernisierungstheorie auf den Punkt, freilich ohne an Veblen anzuknüpfen, da er Veblens Modernisierungstheorie gar nicht kennt. Nach Herf geht der reactionary modernism vor allem auf zwei Gruppierungen in der Weimarer Republik zurück, deren wichtigste ideologische Wurzeln im Kaiserreich zu finden sind: Neben einer Gruppe, die aus Ingenieurswissenschaftlern und Mitgliedern der politisch einflussreichen Vereinigung der Mittelständler bestand, spielten Literaten und Akademiker der Weimarer Rechten eine große Rolle. Diese Einteilung lässt sich auf die Gruppe der Warenhausgegner um 1900 übertragen. Die Debatte um das Warenhaus konnte im Kaiserreich seine besondere antimoderne Wirkung entfalten, weil sie einerseits innerhalb der kulturellen Elite verankert war, aber andererseits auch an Befürchtungen und Ängste innerhalb des wachsenden Mittelstandes anknüpfen konnte.

Herf beschreibt mit seinem Konzept des reacionary modernism eine spezifisch deutsche Form der Adaptation an Moderne, die weit über ihren Entstehungshorizont hinaus wirkt. Die angstbesetzten und ablehnenden Reflexe gegen die Massen- und Konsumkultur waren für Herf immer auch Ausdruck der Angst vor der Moderne.
Die Debatte um das Warenhaus ist in diesem Zusammenhang symptomatisch für die Debatte um die Moderne insgesamt. Mit der Kritik des Warenhauses konnte – pars pro toto – die gesamte moderne Lebensweise kritisiert werden. Das Warenhaus war Produkt und Symbol der modernen Konsumgesellschaft und aufgrund seiner physischen Unübersehbarkeit bot es sich als Projektionsfläche für Hoffnungen und vor allem Befürchtungen in Bezug auf die Moderne geradezu an. Das Warenhaus symbolisierte die entstehende Massen- und Konsumgesellschaft, hier schienen die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Gefahren der Modernisierung zusammenzufließen. Für viele Deutsche zeigte das Warenhaus zwar auch den Fortschritt im positiven Sinne, aber die veröffentlichte Meinung diskutierte die Betriebsform Warenhaus überwiegend negativ und kulturpessi-mistisch. Karl Kraus formulierte das Credo seiner Tage im Lied des Alldeutschen, auch er spielt die deutsche Kunst und den deutschen Mythos gegen die Warenhausmoderne aus: “Wir mischen Handel mit Gebet, die Kunst im Dienst des Kaufmanns steht. Es war einmal, doch jetzt ist’s aus, Walhalla ist ein Warenhaus” (Kraus 1918).

Tipps zum Weiterlesen:

Briesen, Detlef (2001): Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral. Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Campus Verlag.
König, Gudrun (2010): Konsumkultur: Inszenierte Warenwelt um 1900. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag.
Lenz, Thomas (2011): Konsum und Modernisierung. Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne. Bielefeld: Transcript Verlag.

Literaturverzeichnis

Herf, Jeffrey (1984): Reactionary Modernism: Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich. London: Cambridge University Press.
Kraus, Karl (1908): Die Fackel. Nr. 261, S. 26.
Kraus, Karl (1918): Die Fackel. Nr. 499, S. 8.
Moore, Barrington (1966): Social Origins of Dictatorship and Democracy. Lord and Peasant in the Making of the Modern World. Boston: Beacon Press.
Veblen, Thorstein (1915): Imperial Germany and the Industrial Revolution. New York: Macmillan.
Veblen, Thorstein (1917): An Inquiry into the Nature of Peace and the Terms of its Perpetuation. New York: Huebsch.
Zola, Émile (2002, [1883]): Das Paradies der Damen. Berlin: Edition Ebersbach.

Das Wertheim ging übrigens, ebenso wie sein Vorgänger, das 1909 eröffnete Passage-Kaufhaus, bereits 1914, wenige Jahre nach der Eröffnung, in Konkurs.

Published 28 June 2011
Original in German
First published by dérive 43 (2011) (German version)

Contributed by dérive © Thomas Lenz / dérive / Eurozine

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