Das vage Land (Jeron al-Homos)

Die Sonne ist hier manchmal schwarz vor lauter Licht

Kartographie und Gegenzeichnung

Gleich anderen Darstellungsformen handeln die Kartographien von der Welt unter einem bestimmten Blickwinkel. Dieser Blick ist nie interesselos, das von ihm mitgeführte Interesse nie naiv, am wenigsten, wo der Blick vorgibt, die Welt in realistischer Einfachheit so zu sehen, wie sie eben ist. Im Falle der Kartographien ist der interessierte Blick genuin politisch. Die Landkarten bilden nicht Landschaften ab, sondern richten Territorien ein und ordnen sie. Erst in einem verhältnismäßig späten und abgeleiteten Sinne erschließen sie einer Öffentlichkeit Lebensräume. Aber selbst dann bleiben die Kartographien Dokumente einer Macht, die die Welt im Bild beansprucht. Stadtplan und Freizeitkarte sind so verstanden nicht weniger politisch als Darstellungen des mittelalterlichen mundusoder koloniale Seekarten. Die Kartographien funktionieren im Wortsinne ideologisch.

Heute, wo die Welt bis ins von Satellitenaufnahmen vorgegebene Detail erfaßbar ist, manifestiert sich die Ideologie nicht mehr – wie noch kaum hundert Jahre zuvor – an weißen, lückenlose Inbesitznahme fordernden Flecken. Die politischen Kalküle werden vielmehr an dem ablesbar, was bei durchgängiger kartographischer Gestaltung nicht gezeigt wird. Auf den allgemein zugänglichen Karten schlägt sich das politische Interesse in den Aussparungen nieder. Es gestaltet vage Zonen, in denen sich in auffälliger Weise, nämlich entgegen der ansonsten präzise genug festgehaltenen, strukturellen Anlage des dargestellten Territoriums, nichts findet als eine auf ihre geologische Beschaffenheit reduzierte, farbige oder sonstwie symbolisch ausgemalte Fläche. Spuren von Bebauung fehlen, solche von Straßen, Fahrpisten oder Wegen sind auf ein Minimum reduziert. Oft scheinen sie nur erfaßt, weil man das Verkehrsnetz der geographischen Kontinuität halber schlecht ausblenden konnte.

Die im Handel erhältlichen Landkarten und Stadtpläne geben mit einiger Genauigkeit die Logik der gegenwärtigen israelischen Territorialpolitik wieder. Allerdings sind die Karten dazu gegen den dominanten Schein des enggeknüpften israelischen Straßennetzes zu lesen. Die vagen Zonen liegen abseits der Straßen und von ihnen entrückt, selbst dort noch, wo sie von ihnen zerschnitten werden und an den vorbeirasenden Fahrzeugen abgleitende Enklaven verleugneten, aussichtslosen Lebens bilden. Die vagen Zonen sind die Realität, die es unter der Perspektive der herrschenden Politik nicht gibt. Sie bezeichnen ein Paradox, ortlose Orte, mit ihnen jedoch, in von jedem Widersinn freier Eindeutigkeit, alltägliche Umstände, die in weitestgehende Unsichtbarkeit verbanntsind – oft genug, weil die Macht mit dem Unsichtbaren leichter, vor allem ohne Zeugen umgehen kann.

Auf den Jerusalemer Stadtplänen findet sich eine solche vage Zone im Süden der Stadt, kurz vor Beginn des Gebiets von Bethlehem, oder genauer hinter der Straßenbiegung, an der Derech Harosmarin von der in gerader Linie weiterführenden Derech Hevron zum westlichen Vorort Gilo abzweigt. Der sonstigen, die städtischen Bebauungs- und Nutzflächen gewissenhaft ausweisenden kartographischen Präzision zum Trotz läuft Derech Hevron jenseits der Gilobiegung plötzlich leer. Was die Straße umgibt, ist je nach Kartenart grüne oder gelbe Farbe, manchmal auch bloßes Weiß. Selbst das Grundstück des Ecomenical Institutevon Tantur, das direkt an der Gilobiegung liegt, wird zumeist nicht eingezeichnet. Der einzige deutliche Vermerk gilt der sich von Südwesten her schräg herüberziehenden Greenline von 1967. Nichts auf den Jerusalemer Stadtplänen zeigt den Checkpoint an, der Derech Hevron ein Stück vor Ende des Geländes von Tantur unterbricht, nichts verweist auf die aufgereihten Betonblöcke des sogenannten fence, der Sicherheitsmauer, die das Bethlehemer Gebiet knapp 500 Meter hinter dem Checkpoint vom Jerusalemer Gebiet trennt, nichts schließlich kennzeichnet das halbe Dutzend Häuser, das sich in dem zwischen Checkpoint und Mauer entstandenen Zwischenbereich befindet. Kaum verwundert, daß dieser Zwischenbereich auf den Stadtplänen ohne Namen bleibt. Gleichwohl trägt er einen Namen: Jeron al-Homos. Auch die Jerusalemer Municipality, der das Gebiet untersteht, führt es unter dieser Bezeichnung.

Die örtliche Anlage von Jeron al-Homos wird von der nord-südlichen Achse bestimmt, die die von Jerusalem her leicht abschüssige, fast schnurgerade Derech Hevron bildet und deren eines Ende der Checkpoint, deren anderes Ende das offene Passierstück der Bethlehemer Mauer markieren. Die sechs bewohnten Grundstücke sortieren sich paarweise, zwei westlich, zwei östlich der Straße, zwei auf einem am östlichen Rand gelegenen Hügel, zu dem eine kaum 100 Meter lange Straße hinaufführt. Während das Gelände jenseits des östlichen Hügels steil gegen den Taleinschnitt vor Beit Sahur abfällt, läuft es im Osten über ein weites, leicht geschwungenes und mit Olivenbäumen bestandenes Land, dessen etwa einen Kilometer entfernte Grenze der Jerusalem und die Siedlung Gush Ezion verbindende, vom Hochsicherheitszaun flankierte Highway 60 absteckt.

Trotz seiner geographischen Randlage und obwohl er strukturell nur das eine Ende der örtlichen Achse ausmacht, bildet der Checkpoint, der unter der Bezeichnung Gilo-Checkpoint oder auch Checkpoint 3000 bekannt ist, das eigentliche Zentrum von Jeron al-Homos. Für alle Geschehnisse vor Ort ist er der maßgebliche Bezugspunkt. Der Checkpoint hält das Zentrum, indem er die Grenze des örtlichen Bewegungsraumes bezeichnet. Während der Weg Richtung Bethlehem an dem Mauerdurchgang stets offenbleibt, ist er Richtung Jerusalem jedesmal neu geschlossen und erst wieder zu öffnen. Der Checkpoint zeigt die nie restlos sichere, in manchen Fällen auch verwehrte Möglichkeit der Grenzüberschreitung an. Jeder, der Jeron al-Homos betritt, gerät in den Schatten dieser unsicheren Möglichkeit, ob er nun von Jerusalem oder von Bethlehem kommt, ob er in Jeron al-Homos wohnt, es besucht oder nur durchquert, ob er eine Passiererlaubnis hat oder nicht, ob er Tourist ist. Es spielt dabei keine Rolle, daß die offizielle Grenze mit der Bethlehemer Mauer zusammenfällt und somit illegal bereits ist, wer sich von Bethlehem ohne die für israelisches Gebiet nötigen Papiere nach Jeron al-Homos wagt. Noch die Angst, in Jeron al-Homos von israelischen Grenzpolizisten aufgegriffen und für mehrere Stunden in Sicherheitsgewahrsam genommen zu werden, hat ihren sichtbaren Anhalt an den Aufbauten des Checkpoints. Es ist der Checkpoint, von dem in dichten Zeitabständen die dunkelgrünen Polizeijeeps gefahren kommen. Ebenso werden von dort die je nach Dienstschicht drei bis fünf Polizisten starken Fußtrupps ausgeschickt, die Derech Hevron bis hinunter zum Bethlehemer Mauerdurchgang kontrollieren, wobei sie fast ununterbrochen auch das umliegende Gelände beobachten.

Die Gewalt der Zeit

Der Checkpoint ist ein Verschlag in der Mitte der Straße und ein Verschlag an ihrer Seite. Richtung Jerusalem führt von dem Seitenverschlag eine hohe, ein Rechteck ziehende Mauer, in deren Schutz das Unterkunftsgebäude der Grenzpolizisten liegt. Dicht vor dem Unterkunftsgebäude ist in etwa zehn Meter Höhe ein Ausguck angebracht, von dem sich das gesamte Gelände um den Checkpoint inklusive eines Teils des von einer Steinmauer umgebenen Institutsgeländes von Tantur überschauen läßt. Gegen Bethlehem ist der Gehsteig auf etwa 20 Meter Länge von lückenhaftem Wellblech überdacht. In beiden Richtungen zeigen gelbe Bodenmarkierungen an, wo die Passanten stehenzubleiben und zu warten haben, bis die Grenzpolizisten sie von dem jeweils etwa zehn Meter entfernten Seitenverschlag aus rufen. Auf Bethlehemer Seite muß kurz vor beziehungsweise hinter dem Verschlag ein torförmiges Detektorgerät passiert werden, das auf einer rechtwinklig versetzten, etwa einen halben Meter über Bodenniveau gelegenen Betonplattform angebracht ist. Zu ihm führt links und rechts je eine dreistufige Eisentreppe. Die Fahrzeuge, die zu dem Verschlag in der Straßenmitte vorzufahren haben, werden in der Regel von drei Soldaten untersucht, wozu bei Personen- und Lieferfahrzeugen auch die Inspektion des Wageninneren und des Koffer- oder Laderaums gehört.

Als das Herz der Macht, die sich in Jeron al-Homos etabliert hat, steht der Checkpoint für ein rigides Diktat der Zeit. Der Checkpoint unterteilt die Menschen in Kontrollierte und Kontrollierende, er teilt sie darin aber vor allem in solche, die warten, und solche, die warten lassen. Wer den Checkpoint passieren will, gibt den Anspruch auf die eigene Zeit auf. Solange er ansteht, um zu den Kontrollierenden vorgelassen zu werden, hängt seine Zeit von deren Direktiven ab. Mit dem Verlust der eigenen Zeit schwindet auch das eigene Leben und verstummt, so daß sich unter den am Checkpoint Aufgereihten kaum Gespräche entwickeln. Es gibt nichts zu sagen, weil in der Situation des Wartens, unter der Maßgabe einer vereinheitlichten Zeit niemand etwas zu sagen hat. Allenfalls kommen kürzeste Dialoge auf, ein rascher Austausch von Ungeduld und verhaltener Wut, bei dem aber jeder dem anderen nur das Wort aus dem Mund nimmt. Die einheitliche Abrichtung der Zeit läßt auch die Sprache einsinnig werden. Sie läuft auf den Befehl zu: “Bo!” – “Komm!” Erst nach erfolgter Kontrolle, die Macht im Rücken, werden Gespräche wieder möglich.

Die Kontrollierenden wissen sich der Zeit als eines Mittels zu bedienen, das Autorität demonstriert und züchtigt. Methodisch lassen sie warten. Die zur Wartezeit gemachte Zeit verwandelt die Stimme oder heranwinkende Hand des im Kontrollverschlag sitzenden Diensthabenden zur Stimme und zur Hand der Macht. Schon die leichteste Verzögerung der an die Wartenden ergehenden Aufforderung genügt, um ihnen vorzuführen, wie ohnmächtig sie sind. Ihr Geschick ist den Kontrollierenden überlassen. Dieser noch subtilen Form von Demütigung schließen sich andere an: Die Kontrollierenden beenden erst noch in aller Ruhe eine bestimmte Tätigkeit (rauchen, essen, Zeitungslektüre), bevor sie sich den entstandenen Warteschlangen auf beiden Checkpointseiten zuwenden. Den zu schwachen Stoßzeiten einsam Wartenden lassen sie mehrere Minuten unverrichteterdinge stehen. Wagt der Wartende einen Schritt nach vorn, wird er von den Kontrollierenden angegangen, wer ihn gerufen habe. Auch die Fahrzeugkontrollen werden zuweilen so lange unterbrochen, daß sich der Verkehr mehrere hundert Meter weit staut.

Während der Kontrollvorgänge ist die gute Stimmung unter den Kontrollierenden kaum einmal beeinträchtigt. Sie kann geradezu ausgelassen sein. Die Kontrollierenden scherzen miteinander, sie lachen laut. Aus vollem Lachen heraus kann es geschehen, daß sie einem Kontrollierten das hingehaltene Papier entreißen und nach einem kurzen Blick als ungültig wieder vor ihn hinwerfen. Deutet sich in solchen Augenblicken der mögliche Gewaltexzeß an, enthüllt die innere Beschaffenheit der Fröhlichkeit, daß sie selbst gezwungen, das Ergebnis eines forcierten Willens ist. Das anhaltende Gelächter, die Weisen, in denen man sich neckt und Spaß miteinander hat, sind kaum je ohne eine schrille Nuance, die in äußerster Kürze aufscheinen kann. Der Moment hysterischer Verzerrung genügt, um die Maskerade fallen zu lassen. In Wirklichkeit leidet auch der Spaß, in Wirklichkeit ist die gute Zeit, die zu haben man sich vormacht, eine eintönige, bis zum unabsehbaren Dienstschluß gedehnte Zeit. In gewissem Sinne sind auch die Kontrollierenden dem Regime des Checkpoints ausgesetzt. Gleich den Wartenden bleibt ihnen nichts anderes, als das Beste aus einer Situation zu machen, die sie nicht verlassen können. Die Hysterie im Vergnügen ist der Indikator dafür, daß die Kontrollierenden ihre Situation und die zu ihr gehörenden Praktiken wahrnehmen. Entsprechend machen viele von ihnen Ausnahmen, wo die Ausnahme die Regel unangetastet läßt. Den passierenden Touristen etwa begegnet man meistens freundlich.

Die Wege der Machtlosen

Neben den Wartenden und den Wartenlassenden bringt der Checkpoint als dritte Gruppe diejenigen hervor, denen der Grenzüberschritt verwehrt ist, die aber dennoch auf die andere Seite gelangen wollen. Gleich den Wartenden bestätigen sie die Gültigkeit der Grenzziehung als der von der Macht gesetzten und sich im Checkpoint verkörpernden Rechtslage, obgleich auf andere Weise. Bei den Wartenden handelt es sich gleichsam um die positiven Objekte der Macht. Sie bestätigen die Rechtslage, indem sie die Kontrolle erwarten und damit ein von der Macht gewährtes Recht für sich beanspruchen. Dagegen versammelt die dritte Gruppe die negativen Objekte der Macht, die des gewährten Rechts entbehren, aber die Geltung dieses Rechts mit jedem versuchten Grenzüberschritt dokumentieren.

Der Drang der Rechtlosen, die Grenze zu überqueren, zeugt von der Fähigkeit der Macht, Zielstellungen zu manipulieren und sich zuträglich zu machen. Noch die ausgeschlagene Erlaubnis zum Übertritt hält die andere Seite der Grenze als einen möglichen Ort fest. Dessen suggestive Versprechungen ließen sich zumindest entschärfen, brächte man ihm Gleichgültigkeit entgegen. Solcher Indifferenz wirkt die Macht jedoch entgegen, indem sie den Grenzüberschritt auch für die Rechtlosen verlockend macht. Es ist bekannt, daß sich auf israelischem Gebiet weitaus mehr Geld verdienen läßt als auf palästinensischem, und daß die Grenze nicht lückenlos gesichert ist. Mit diesen Aussichten bleiben die Rechtlosen auf den Grenzüberschritt fixiert. Viele von ihnen unternehmen ihn Tag für Tag, um sich zumeist als Hilfsarbeiter auf israelischen Baustellen zu verdingen. Die mit der Grenzziehung statuierte Rechtlosigkeit schafft der Macht so unterderhand weitestgehend anspruchslose, billige Arbeitskräfte. Die ökonomische Situation in den palästinensischen Gebieten trägt wesentlich dazu bei, daß die Rechtlosen ihr mit Risiken und Zurücksetzungen verbundenes, illegal verdientes Geld dennoch als “gutes Geld” verstehen. Es verbessert die finanzielle Lage erheblich, verspricht privates Glück: die Gründung einer Familie, eines eigenen Geschäftes, den Besitz eines größeren Autos. Auch verdankt sich ein Großteil der Wohnhäuser, die während der letzten Jahre in Bethlehem, Beit Sahur und Beit Jalla entstanden sind, dem guten israelischen Geld.

Der einfachste Weg, den Gilo-Checkpoint zwischen Jeron al-Homos und Jerusalem zu umgehen, führt durch das Institutsgelände von Tantur. Auf Jerusalemer Seite steht das Areal durch eine nie verschlossene Pforte offen. Ihr Pendant auf der Seite von Jeron al-Homos bildet ein in der südwestlichen Flanke der Umgrenzungsmauer klaffender, circa zwei Meter breiter Spalt, den ein israelisches Panzerfahrzeug während der Zweiten Intifada gebrochen hat. In Absprache mit dem Ecomenical Institutesteht Tantur unter israelischer Bewachung. Je nach Entscheidung der Polizeikommandatur können Grenzpolizisten vor oder hinter dem Mauerspalt postiert sein oder neben Derech Harosmarin an der offenen Pforte warten. Zuweilen auch laufen Patrouillen an den Hängen des mit Olivenbäumen und Pinien bewachsenen Hügels entlang, dessen Kuppe von dem Institutsgebäude eingenommen wird.

Die Zeiträume, während deren die israelische Grenzpolizei vor oder in Tantur anwesend ist, sind unregelmäßig und lassen sich nicht vorhersehen. Folglich finden Versuche, Tantur zu durchqueren, zu allen Tageszeiten und – etwa im Falle später Heimkehrer – auch nachts statt, was besonders gefährlich ist, weil die Polizisten in der Dunkelheit schnell schießen. Über den Stand der Dinge in Tantur findet mittels Mobiltelefon ein ständiger Austausch statt. Der Austausch funktioniert so gut, daß der durch Jeron al-Homos auf Tantur zulaufende Sandweg von einem Moment auf den anderen völlig verwaist im vollen Sonnenlicht liegen kann, während die über die Umgrenzungsmauer hinweg sichtbare Hügelkuppe in eine tiefe, Gebäude wie Vegetation einschließende Starre gefallen zu sein scheint – sichere Indizien dafür, daß sich Polizisten auf oder vor dem Institutsgelände aufhalten.

Trotz der hin- und hergesendeten Informationen gelingt es den Polizisten immer wieder, die Tantur illegal Passierenden zu überraschen und aufzugreifen. In kleinen, drei bis fünf Personen starken Trupps tauchen die Polizisten an dem Mauerspalt oder aus den Olivenpflanzungen links und rechts des sich nach Derech Harosmarin senkenden Asphaltweges auf und halten die ihnen unvorbereitet Gegenüberstehenden mit vorgestreckten Gewehren an. Die Gestellten (in der Mehrheit in Jerusalem arbeitende Männer, aber auch Frauen und Alte, kaum Kinder) ergeben sich zumeist widerstandslos und ohne Anstalten zur Flucht zu machen. Nach einer kurzen Leibesvisitation und nachdem man ihnen die Papiere entzogen hat, wird ihnen eine nahe Stelle angewiesen, wo sie niederzuhocken und zu warten haben, bis die Polizisten den Einsatz beenden und sie zwecks weiterer Einvernahme zum Checkpoint bringen. Manchmal geschieht es, daß die durch Tantur Kommenden die Polizisten gewahren, bevor sie von diesen gestellt werden können. Während die Frauen und Alten in solchen Fällen eher kehrtmachen, suchen die jüngeren Männer die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Sie laufen auf die Umgrenzungsmauer zu, um über sie hinweg auf Derech Hevron zu springen. Die Polizisten, die durch die schlagartig entstandene, mit nur halb unterdrücktem Schreien und Rufen verbundene Bewegung sofort aufmerksam geworden sind, treten ebenfalls in Aktion. Nicht weniger schreiend, warnend, es werde unverzüglich geschossen, verfolgen sie die Fliehenden. Nur wenige von diesen sind kaltblütig genug, ihre Verfolger ungeachtet aller Drohungen abzuschütteln und tatsächlich die Mauer, schließlich die Straße zu erreichen. Es ist weniger eine Frage des Glücks, wenn ihnen dort kein Polizeijeep entgegen- oder nachfährt und sie über Derech Harosmarin hinweg in den arabischen Vorort Beit Safafa entkommen können. Eher scheint es Teil eines Spiels zu sein, das mit den Machtlosen gespielt wird und das in einem Ausleseverfahren nur den Zähesten gestattet, auf den Baustellen des machthabenden Landes Arbeit zu tun.

Die Rechtlosen wären diesem Spiel gänzlich ausgeliefert, wenn sie es nicht auf eigene Weise mitspielen würden. Das Mittel der Rechtlosen gegen die Macht ist die List. Sie triumphiert, wo es gelingt, Wege zur Grenzüberschreitung aufzutun, die der Macht unbekannt sind. Im Falle von Jeron al-Homos laufen diese Wege entweder durch das westliche Olivenland bis zum Highway 60 oder durch die Talsenke vor Beit Sahur. Den Uneingeweihten bleibt die genaue Beschaffenheit der illegalen Passierwege ein Rätsel. Fest steht, daß sie es den Rechtlosen erlauben, die massiven Sicherheitsvorkehrungen der Macht, ihre durch die Senke wie um den Highway gezogenen, unter elektrische Hochspannung gesetzten Zäune zu überwinden. Allerdings endet die Gefahr, von der Macht gefaßt zu werden, nicht an den Zäunen oder im unmittelbaren Bereich der Grenze. Zu allen Zeiten fahren Polizeijeeps über Derech Hevron und durch die Straßen Beit Safafas. Beinah täglich werden die arabischen Kleinbusse, die zwischen Beit Jalla und dem Jerusalemer Damaskustor verkehren und die für die Illegalen die schnellste Verbindung zur Stadt bedeuten, ausgiebigen polizeilichen Kontrollen unterzogen. Der Anblick der Niederlage ist die stille Verbitterung in den Gesichtern, nicht nur derer, die wegen unzureichender Papiere aus dem Bus entfernt wurden, sondern auch derer, die ihre Fahrt in dem um einige Plätze leerer gewordenen Bus fortsetzen können.

Die Stille der Verbitterung weist darauf, daß sich das von der Macht gestaltete Spiel selbst mit der scharfsinnigsten List nicht gewinnen läßt. Die List fügt sich den Bedingungen des Spiels und seinen absehbaren Resultaten: Entmündigung, Sprachlosigkeit. Es gibt letztlich kein Wort, das den Sprachverlust aufreißen kann. Nur ein Lachen vielleicht mag für sich sprechen und dem Lachen derer antworten, die am Checkpoint verfügen. Man denke an diese Szene: Eines Vormittags sollen sich Illegale, die von der Grenzpolizei gefaßt wurden, entlang der dem Checkpoint gegenüberliegenden Mauer aufreihen. Sie sind auch willens dazu. Sie können es aber nicht, weil sie so lachen müssen über die komischen Repliken, die einer von ihnen, ein großgewachsener, ziemlich korpulenter Kerl, den aufsichtführenden Polizisten entgegenhält. Die Polizisten wissen gegen dieses Lachen nichts auszurichten. Sie werden laut, sie geben Befehle, sie weisen den Kerl zurecht, der schon wieder vortritt. Sie hantieren mit den Gewehren, unsicher, weil sie fühlen, daß der angedrohte Waffengebrauch der Situation unangemessen ist und daher die Autorität nicht wiederherstellen kann. Unversehens hat sich das nicht zu unterbindende Lachen der Machtlosen über das Ordnungsgefüge der Macht hinweggesetzt.

Das normale Leben

Die Bewohner von Jeron al-Homos leben mit dem Checkpoint wie man in anderen Gegenden mit einer Naturgewalt, etwa einem ständigen Wind, lebt. Sie haben sich auf den Checkpoint eingestellt, ihr Alltag vollzieht sich innerhalb des Gefüges, dessen Koordinaten durch die Präsenz des Checkpoints bestimmt sind. Sie haben gelernt, sich mit den Schwierigkeiten oder zumindest Umständlichkeiten, die der Checkpoint ihnen aufnötigt, zu arrangieren und seine Realität ins Selbstverständliche zurückzudrängen. Das Leben der Bewohner von Jeron al-Homos ist durch und durch Normalität. Es dokumentiert die Zähigkeit, mit der sich der Wille zur Normalität an der extremen Situation betätigt, um ihr die Spitzen, die Momente latenter Lebensunsicherheit und Angst zu nehmen und sie nach Maßgabe von Erträglichkeit, ja eines in der Erträglichkeit als Fluchtpunkt gesetzten Glücks einzurichten.

Im Falle von Jeron al-Homos meint das Extreme nicht Umstände unmittelbarer physischer Bedrohung, also das im existentiellen Rahmen Extreme schlechthin, das unausgesetzte Todesnähe ist. Das extreme Gepräge von Jeron al-Homos resultiert zunächst aus der Situierung selbst. Der Ort liegt ganz außen, er liegt am äußersten Rand. Er ist in dieser Lage ein Ort des Todes, aber nur formal, das heißt nur insofern, als seine Topologie die Wesensanlage der existentiell extremen Todessituation veranschaulicht. Auf formaler Ebene handelt die Topologie von Jeron al-Homos wie die Todessituation von etwas, das als Jenseits möglich und unmöglich zugleich ist und auf das menschliches Leben mit einer Unbeirrbarkeit zustrebt, die an die Lichtflüge von Insekten erinnert.

Wie bereits bemerkt, untersteht Jeron al-Homos der Jerusalemer Municipality. Ihr Verhalten gegen den Ort entspricht dessen Zwischenlage. Die Bewohner von Jeron al-Homos müssen die arnona, die kommunale Steuer, entrichten, ohne dafür Gegenleistungen erwarten zu dürfen. Einen Straßendienst etwa gibt es nicht. Die Gehsteige sind zum Teil aufgeborsten. Sand, zerbrochenes Glas, leere Trinkdosen und Papier liegen am Rand. Die nie abtransportierte Ruine einer ehemaligen Lotteriebude steht nur wenige Schritte hinter dem Checkpoint an der Seite. Auch eine Müllentsorgung fehlt. Die Bewohner von Jeron al-Homos werfen den in Plastiktüten gesteckten Unrat in eine Mulde neben der Straße, wo sie ihn in bestimmten Wochenabständen verbrennen. Die Grenzpolizisten am Checkpoint geben vor, den dabei entstehenden, über das gesamte Gebiet ziehenden Rauch nicht wahrzunehmen. Sie kümmern sich auch nicht um das Feuer, das manchmal unbeaufsichtigt die ganze Nacht hindurch brennt. Wenigstens haben die Bewohner von Jeron al-Homos den Vorteil, daß die ihnen alle zwei Monate zugestellte Wasserrechnung nur die Grundgebühr erhebt. Seit der Errichtung des Checkpoints während der Ersten Intifada kommt kein Beamter der Municipalitymehr in das Gebiet, um den Stand der Wasserzähler abzulesen.

Ansichten

Die Bewohner von Jeron al-Homos verteilen sich auf die sechs Grundstücke, die westlich und östlich der Straße liegen. Hier und da erweist man sich kleinere Dienste oder Gefälligkeiten, gelegentlich kommt es zu kleinen Streitereien. Sonst hat man kaum miteinander zu tun. Wie die am Checkpoint Wartenden bleiben die an ihm Wohnenden separiert in einem enggezogenen Raum, jeder eine Monade, die auf das Eventuelle vorbereitet ist, das sich ereignen mag.

Das erste Haus im Westen, das etwa 150 Meter von der Straße entfernt liegt, ist ein langgestrecktes, in den 60er Jahren errichtetes Gebäude des Malteserordens. Bis vor zwei Jahren bewohnten noch mehrere Schwestern und Brüder das Gebäude. Zurückgeblieben ist eine einzige Schwester, die man nur selten außerhalb des Hauses antrifft. Eine Zeitlang fuhr sie manchmal morgens mit einem weißen Fiat-Kombi nach Jerusalem, dann wurde ihr das Auto direkt vom Haus weg gestohlen. Seitdem hat sich ihre Angst vergrößert, alleine in dem Haus zu leben. Dem arabischen Mann, der die grobe Arbeit in dem um das Gebäude gezogenen Garten besorgt, versucht sie die Anwesenheit einer weiteren Schwester vorzumachen. Zudem hat sie einen der in Jeron al-Homos streunenden, herrenlosen Hunde mit täglichen Fütterungen angelockt. Das Tier treibt sich im Eingangsbereich des Hauses herum, allerdings ist es für den Wachdienst ungeeignet. Den Menschen, die über den direkt am Ordensgebäude entlangführenden Sandweg nach Tantur kommen, läuft es geduckt und mit wedelndem Schwanz entgegen. Die Schwester hofft, daß andere Ordensmitglieder zu ihr stoßen. Doch hat sich wegen der weiterhin gespannten politischen Situation in Israel bisher niemand dazu bereit erklärt.

Direkt südlich des Ordensgebäudes und nur durch einen schmalen Steinweg von ihm getrennt schließt sich das Grundstück einer arabischen Kleinbauernfamilie an. Auf dem etwa ein halbes Fußballfeld messenden, von einer niedrigen Mauer umgebenen Hof sieht man tagsüber eine Handvoll Ziegen und Hühner, die nachts in einem Holzverschlag untergebracht werden. An einer quer über den Hof gespannten Eisenkette läuft ein Hund, der anschlägt, sobald sich jemand der Grundstücksmauer nähert. Die Familie selbst lebt direkt neben dem Holzverschlag in einer schmalen, aus Stein und Holz gefügten und mit Plastikplanen abgedeckten Hütte. Die beiden jüngsten Söhne der Familie sind mit den vier Straßenjungen befreundet, die Derech Hevron passierende Touristen um Geld angehen oder ihnen Kaugummi und andere Süßigkeiten aufzudrängen versuchen. An heißen Nachmittagen im Sommer halten sich die Straßenjungen oft bei der Hütte der Familie auf und sitzen im Schatten des von ihr abstehenden, mit einer Plastikplane bespannten Vordachs.

Die Familie, die das hintere Grundstück auf dem östlichen Hügel bewohnt, betreibt eine Autowerkstatt. Ein breites Stahltor sichert den Hof, in dem die zur Reparatur gebrachten Wagen und mehrere ausgeschlachtete Autokarosserien stehen. Auf der Rückseite des Hauses, an dem sich in das Tal vor Beit Sahur senkenden Hang, liegt ein großer Garten mit Obstbäumen. Neben dem Besitzer und seinen zwei Söhnen arbeitet in der Werkstatt auch noch der Neffe des Besitzers. Die den Hügel hinaufführende Straße nutzen die Männer, um die Motorenabstimmung der von ihnen reparierten Fahrzeuge zu überprüfen. In verschiedenen Geschwindigkeiten fahren sie die Straße auf und ab. Das Schild am unteren Ende der Straße, das das Linksabbiegen untersagt, beachten die Männer genau.

Das neben der Autowerkstatt gelegene Haus spiegelt den Reichtum wider, den sein Erbauer während langer Jahre als Gastarbeiter in den USA erworben hat. Aus hellem Sandstein errichtet, erstreckt sich das Gebäude über zwei Stockwerke. Der Rasen um das Haus leuchtet in tiefem Grün. Er wird während der Sommermonate täglich stundenlang mit Wasser besprengt. Den Eingangsbereich des Hauses schmückt ein in eine gewundene Säule zulaufender Brunnen, der nur während der regenreichen Wintermonate außer Betrieb ist. Die beiden Töchter des Hausbesitzers besuchen das Schmidt¹s Girls College, eine Mädchenschule in Jerusalem, die in arabischen Kreisen sehr angesehen ist.

Auf dem von der Hügelstraße und Derech Hevron eingefaßten Grundstück lebt eine ältere, alleinstehende Frau. Das von ihr bewohnte Haus gehörte während der britischen Kolonialzeit einem höheren Regierungsbeamten. Später ging es in den Besitz der Familie ihres seit bald 30 Jahren verstorbenen Mannes über. Ursprünglich stammt die Frau aus einer aramäischen Familie. Angesichts der politischen Unruhen im Syrien der frühen 60er Jahre schätzten sich die Eltern glücklich, ihre kaum volljährige Tochter an den um zwei Jahrzehnte älteren Mann aus Bethlehem verheiraten zu können. Die beiden erwachsenen Kinder der Frau, ein Sohn und eine Tochter, leben in den USA. Das Eisenkreuz, das auf dem Eingangstor des von einer hüfthohen Steinmauer umgebenen Grundstücks angebracht ist, weist die Frau als Christin aus. Tatsächlich verkehrt sie viel in den christlichen Gemeinden Jerusalems, aus denen auch der Großteil ihrer Bekannten stammt. Die Frau beklagt sich über den Checkpoint, weil er viele ihrer amerikanischen oder europäischen Freunde von einem Besuch abhält. Zudem findet sie wegen des Checkpoints nur schwer Abnehmer für die Zimmer, die sie im von ihr selbst nur teilweise bewohnten Haupthaus und in einem kleineren Nebengebäude anbietet. Im Sommer, während der kühleren Abendstunden, arbeitet die Frau in dem direkt an Derech Hevron gelegenen Garten. Auf der Straße vorbeikommenden Touristen ruft sie manchmal etwas zu, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen und eventuell Mieter für die freistehenden Zimmer zu finden. Auch an die patrouillierenden Grenzpolizisten wendet sie sich gelegentlich mit Bemerkungen oder Fragen, obwohl sie weiß, daß die Polizisten nur distanziert reagieren oder sie mit falschen Auskünften zum besten halten. Mit einer amerikanischen Freundin fährt die Frau zuweilen nach Jerusalem, wo sie die in ihrem Haus lagernden Taschenausgaben des Neuen Testaments an Juden und muslimische Araber verteilt.

Der Besitzer des direkt nördlich anschließenden, dem Checkpoint am nächsten gelegenen Grundstücks führt ein Installationsgeschäft. Den Geschäftserfolg dokumentieren die zwei Autos, ein roter BMW und ein metallfarbener Range Rover, die abends vor dem Haus parken. Zur Familie des Großinstallateurs zählen neben seiner Frau noch zwei Söhne sowie die Frau des ältesten Sohnes und eine dreijährige Enkeltochter. Der Gepflogenheit vieler arabischer Christen der Region entsprechend, ist über dem Hauseingang eine Darstellung des heiligen Georg angebracht. Neben den Geschäftsbeziehungen zu seinen Kunden in Bethlehem versucht der Großinstallateur, ein möglichst gutes Verhältnis zu den Polizisten des Checkpoints zu unterhalten. Bisweilen, im Rahmen kleinerer Treffen mit Freunden oder Verwandten, lädt er höherrangige Polizisten zu sich ein, die allerdings nicht erscheinen. Allenfalls schicken sie einen Jeep mit drei oder vier jüngeren Polizisten, die sich eine Portion von dem im hinteren Garten zubereiteten Grillfleisch abholen oder gemeinsam mit dem halbwüchsigen jüngeren Sohn des Hauses ein paar Würfe auf den an einem seitlichen Nebengebäude angebrachten Basketballkorb tun. Die Freundlichkeit des Großinstallateurs hat ihre Gründe. Seit einiger Zeit plant er, sein bisher einstöckiges Haus um ein zweites Stockwerk zu erweitern, was jedoch gegen die offiziellen Bauvorschriften verstieße. So liegt dem Großinstallateur daran, die Grenzpolizei als das für Jeron al-Homos verantwortliche Exekutivorgan dazu zu bringen, die zur Hauserweiterung nötigen Arbeiten unbesehen durchgehen zu lassen. Einmal glaubte er bereits, die Zustimmung der Grenzkommandantur zu haben, und ließ eine Kranvorrichtung auf dem Haus anbringen. Die ersten Ziegel waren aber kaum hinaufgezogen, als zwei Polizeijeeps vorfuhren und die Erweiterungsarbeiten abbrachen. Die aus Bethlehem stammenden Maurer, die sich nicht ausreichend ausweisen konnten, wurden festgenommen.

Das Dunkel im Schatten

Der Schattenwurf der Macht, unter dem Jeron al-Homos liegt, ist dem Ort nicht äußerlich. Die Essenz der Macht, die Gewalt, ist auf in ihn übergegangen. Er hat sich mit ihr infiziert und sich darüber in sich verdunkelt. Die innere Verdunklung ist der stete Unterton von Jeron al- Homos, der sich phasenweise kristallisieren und heraustreten kann, um in eins damit die Wirklichkeit an sich heranzuziehen. Ohrenbetäubend, einem in kreischende Höhen geschraubten Kinderweinen gleich, schreien die Katzen, die in dem von Unrat verschmutzten Gesträuch am Checkpoint leben und in den Abendstunden hervorkommen, wenn sie sich über die von den Passanten weggeworfenen Essensreste hermachen. Nachts schallen die von den Grenzpolizisten abgegebenen Schüsse aus der Talsenke vor Beit Sahur. Schüsse sind von Beit Jalla zu hören, von dem alten Friedhof direkt hinter der Sicherheitsmauer, in dessen Nähe Kalaschnikows und Parolen des Islamic Jihadan die Häuserwände gesprüht sind. Das plötzliche sehr helle Licht am Himmel ist kein Stern, sondern eine Leuchtrakete, mit der die Polizisten das westliche Olivenland ausscheinen. Bei Tage liegt das Olivenland in seiner ganzen Verwüstung, aufgeworfen von Verlassenheit und den Relikten des letzten Krieges. An einer Stelle verrostet ein Autowrack. An einer anderen Stelle starrt die finstere Öffnung einer in einen niedrigen Hügel gegrabenen und mit Steinen befestigten Erdmulde, die früher Olivenarbeitern als Wetterunterstand gedient hat. Etwa in der Mitte des Gebiets ist die Erde von Panzerspuren zerfurcht, die quer zwischen der Mauer und dem Highway 60 verlaufen. Weitere Spuren führen zu einer ehemaligen, in Trümmern liegenden Häuseransammlung. Vergangene Feuergefechte stecken in der schweren Erde, in der Vegetation, in den Steinen.

Es gibt eine zeitlose Schönheit in Jeron al-Homos, eine Schönheit, die im Geräusch des gesprungenen Grundes unter den Füßen, im stillen Wachsen der Vegetation in den Gärten, in den lauen Abendwinden nach heißen Tagen ist. Aber die zeitlose Schönheit kommt gegen die reale Situierung des Ortes nicht an. Die Sonne ist das an den Himmel gesetzte Zeichen, das die Ohnmacht der Schönheit wiederholt und zugleich verhöhnt. Das Licht der Sonne ist oft über alle Maßen schön. Es kennt Farben von ungeahnter, verdichteter Tiefe. Noch die den Zug der Landschaft zerbrechende Sicherheitsmauer kann es in zarteste Kontraste legen. – In Wahrheit ist die Sonne die Mördersonne, die Sonne der Verblendung, das Gestirn, das mit der Gewalt paktiert, sie illuminiert und geschehen läßt: Eine alte Frau machte sich eines Sommermorgens zu spät von Bethlehem auf den Weg zur Jerusalemer Al-Aqsa-Moschee, wo sie am Freitagsgebet teilnehmen wollte. Da sie nicht die gültigen Papiere hatte, um den Checkpoint zu passieren, entschied sie sich, durch die Talsenke vor Beit Sahur zu gehen. Bald stieg die Sonne auf, deren glühende, durch alle Materie dringende Lichtstrahlen den ihr Ausgesetzten schutzlos lassen und in den Anblick des gleißenden Staubs werfen, in den sich die gesamte Natur umher verwandelt hat. Die Frau ging unter dieser Sonne, langsam, aber stetig. Sie passierte die Sicherheitszäune. In einem weiten Bogen stieg sie aus der Talsenke hinauf Richtung Derech Hevron. Vielleicht bemerkte sie die Anstrengung des Gehens. Vielleicht hatte die Hitze sie auch bereits in jenen fühllosen Zustand gebracht, in dem sich in der Sonnenglut die Unterschiede zwischen dem eigenen Leib und der Umgebung verlieren. Jedenfalls setzte der Frau das Herz aus, als sie knapp hinter dem Checkpoint, am Abzweig nach Gilo, Derech Hevron erreichte. Die Grenzpolizisten fanden sie bereits tot. Sie unterrichteten ein nahes Krankenhaus. Wahrscheinlich scheute man dort den Aufwand für die ohnehin Verstorbene, so daß bis zum Eintreffen des medizinischen Teams mehr als eine Stunde verstrich.

Während dieser Stunde standen die beiden Söhne der Frau, die durch einen zufällig an der Gilobiegung auf den Bus wartenden Verwandten verständigt worden waren, auf der anderen Seite des Checkpoints. Sie sahen den Jeep der Grenzpolizei am Straßenrand, auf dem das Blaulicht drehte. Sie gewahrten die Schaulustigen, die sich nach und nach um den toten Körper versammelt hatten. Sie wollten hinüberlaufen zu dem Körper, der gänzlich in der umstehenden Menge verschwunden war. Sie kamen aber trotz aller Bitten an den Grenzpolizisten nicht vorbei, die ihnen aufgrund fehlender Passierscheine den Übergang verwehrten. Es dauerte mehrere Tage, bis der Leichnam der Frau von Jerusalem nach Bethlehem zurückgebracht war und die Söhne die sterbliche Hülle ihrer Mutter ein letztes Mal sehen konnten.

Published 4 May 2006
Original in German
First published by Mittelweg 36 2/2006

Contributed by Mittelweg 36 © Sandra Lehman / Mittelweg 36 / Eurozine

PDF/PRINT

Published in

Share article

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Discussion