Das Phantom einer homogenen Gesellschaft in der ostdeutschen Grenzregion

Ein Einblick durch Interviews

Einleitung

“Ausländer? Haben wir hier eigentlich nicht.” Dieser Satz ist stereotyp oder leicht abgewandelt in der Grenzregion zu Polen immer wieder zu hören. Dabei gibt es eine geringe, aber doch unübersehbare Präsenz von Migranten und Flüchtlingen gerade in der Grenzregion, auch wenn ihr Anteil an der sogenannten Wohnbevölkerung lediglich bei zwei bis drei Prozent liegt.

Da sind die großen Einkaufszentren längs der Grenze, im Stil des CentrO, die Anzeigen in den polnischen Zeitungen bis nach Szczecin oder Zielona Góra schalten, mit Angeboten beispielsweise aus dem High-Tech-Bereich. In Schwedt hat eine solche Mall die Funktion der Fußgängerzone abgelöst, sie ist zum urbanen Treffpunkt geworden, und sie wird sichtbar auch von polnischen Einkaufstouristen frequentiert. Dann gibt es die vietnamesischen ambulanten Händler und Händlerinnen in praktisch jeder Kleinstadt und die Restaurants und Imbisse von Türken, Italienern und Griechen. Auf dem Bau und in den dazugehörigen Containersiedlungen finden sich, jeder weiß es, Portugiesen, Süditaliener und Polen. Und schließlich sind da Flüchtlinge in Heimen, von denen man viele aufgrund der Stacheldrahtumzäunung und der Bewachung durch Privatscheriffs eher Lager nennen sollte.

Wie kann die Präsenz von “Ausländern” gerade in der Grenzregion abgestritten werden? Welche sozialen Mechanismen verbergen sich hinter dieser Redewendung? Welche Funktion hat sie? Die Befragten erklären ihre Behauptung mit einem schlichten, kaum variierten Muster: “Ausländer” werden in Lagern und Containersiedlungen weggesperrt oder abgeschoben. Deswegen sind sie “eigentlich” nicht da. Und der Verkäufer am Kebab-Imbiß, oder die Einkäufer? Die werden erstaunlicherweise häufig nicht als “Ausländer” wahrgenommen. Wer ordentlich konsumiert oder gar eine Wohnung hat und Steuern zahlt, fällt aus der Definition derjenigen heraus, die eben weggesperrt werden.

Die alltäglichen Übergriffe, die gewalttätigen Attacken auf dort wohnende Vietnamesen und Mo-sambikaner, auf italienische Bauarbeiter, ghanaische Asylbewerber und polnische Studenten verschwinden in dieser Sicht. Dort, wo es angeblich keine “Ausländer” gibt, kann es nach dieser eigenwilligen Definition keinen Rassismus geben.

Eine weitere Floskel fällt in diesem Zusammenhang erstaunlich häufig: Bestimmte politische und soziale Gruppen, so auch die “Ausländer“, würden dort “nicht in Erscheinung treten“. Mir war dieser Ausdruck bisher vor allem aus Prozeßakten, das heißt aus dem Jargon der strafverfolgenden Behörden, aber nicht in der Umgangssprache geläufig. Die Formulierung läßt offen, ob es bestimmte Gruppen und Personen vor Ort nun gibt oder nicht gibt. Wenn es sie gibt, dann verhalten sie sich so, daß sie nicht auffallen.

Für uns selbst, die wir zu Recherchen in die Grenzregionen fahren, ist das “Auffallen” oder vielmehr die Vermeidung des Auffallens immer wieder Thema: In Kleidung und Gehabe präsentieren sich auf den Straßen und in den Einkaufszentren Gruppen männlicher deutscher Jugendlicher als Rechte. In der Regel haben sie sehr kurzen Haarschnitt, häufig tragen sie Bomberjacken, manche von ihnen Springerstiefel. Punks, langhaarige männliche Jugendliche oder Alternativ-Freaks sind in den Städten und Dörfern längs der deutschen Ostgrenze kaum zu sehen. Kritische junge Leute und Unpolitische passen sich in der Regel dem als normal geltenden oder dem rechten Outfit an. Gehen wir an den Rechten vorbei, sprechen wir leiser und verkneifen uns politische Bemerkungen. Wie verändert sich unser Blick und unsere Körperhaltung unter der für möglich gehaltenen physischen Bedrohung? Wie ist die Gefahrensituation realistisch einzuschätzen, in die unser Verhalten – Sprache, Sprüche, Ausdruck von Angst, Selbstbewußtsein oder Gleichgültigkeit – eingeht? Verallgemeinernd gefragt: Wie hängt der Anpassungsdruck mit den Übergriffen und der Ausblendung der Übergriffe aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung zusammen?

Diese Fragen erhalten in den Grenzregionen eine besondere Bedeutung: Welche Funktion hat die homogenisierende Wahrnehmungsstruktur und für die Abschottung der Schengener Außengrenze gegen Flüchtlinge? Das ist eine der Fragen, die zu einer Interviewreihe im Rahmen des Projekts Neues Grenzregimeam Hamburger Institut für Sozialforschung geführt hat.1 Die praktische Durchführung des Interviewprojekts lag bei der Berliner Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM) und – auf polnische Seite – bei zwei Mitarbeitern des Berliner Polnischen Sozialrats.

Bevor im folgenden ein ausgewähltes Interview vorgestellt und interpretiert wird, sei zunächst der Begründungszusammenhang für die Frage der sozialen Dimension der Grenzüberwachung skizziert.

Mit dem Begriff Grenzregime werden im allgemeinen die formalen oder infomellen Mechanismen zusammenfassend bezeichnet, die Staaten – und nicht die Bevölkerung – insbesondere zur Abschot-tung der Grenzen gegenüber Migranten und Flüchtlingen entwickelt haben; bei genaueren Untersuchungen zur Schengener Außengrenze fällt allerdings auf, daß sich die grenzpolizeilichen und strafverfolgenden Behörden seit wenigen Jahren der aktiven Fahndungshilfe durch die Bevölkerung im Grenzraum versichern.

– Sogenannte Bürgertelefone und Kontaktbeamte des Bundesgrenzschutzes (BGS),- kommunale runde Tische von BGS und Landespolizei mit der örtlichen Industrie- und Handel-skammer, dem Ordnungs- und Verkehrsamt und- die folgende Einbindung von Taxifahrern und Leihwagenfirmen in die Grenzfahndung
lenken die Aufmerksamkeit auf gesellschaftliche Formierungsprozesse im Grenzraum. Einerseits ist eine wachsende Stigmatisierung von Flüchtlingen als Illegale und Kriminelle, andererseits ein wachsender korporativer Zusammenschluß von Behörden und Teilen der Bevölkerung zu beobachten.2

Quellen für diese gesellschaftlichen Prozesse finden sich in Meldungen der Lokalpresse und in behördlichen Verlautbarungen, in Berichten von Flüchtlingen über ihre Festnahme, in Anklageschriften und Prozeßverläufen gegen Fluchthelfer und in der politischen Diskussion über die Organisations- und Kompetenzveränderungen von BGS und Landespolizeien. Trotz der Faktenfülle und zahlreicher Belege zu dieser Entwicklung bleibt aber erklärungsbedürftig, in welchem gesellschaftlichen Klima Stigmatisierung, Ausgrenzung und Denunziation von Flüchtlingen und Migranten gedeihen. Die Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen auf deutscher und polnischer Seite, die mit dieser Frage angesprochen werden, sind manifest:

– Woran liegt es, daß der Denunziationsverbund von Grenzpolizei und Teilen der Bevölkerung auf deutscher Seite funktioniert, auf der polnischen Seite aber nicht?3

– Wie kommt es, daß sich diese Fahndungsmobilisierung auf deutscher Seite auch gegen pol-nische Staatsbürger richtet – vor allem im Rahmen der aufgeheizten Kriminalitätsdiskussion – , obwohl sich die politische und ökonomische Klasse beiderseits der Grenze mental auf die Beitrittsperspektive Polens zur Europäischen Union (EU) einstellt?

– Welche Rolle spielt, daß viele ostdeutschen Grenzregionen zu den sogennannten national befre-iten Zonen zählen, in denen rassistische Übergriffe nicht oder kaum geächtet sind, Nazis mit großer Akzeptanz auftreten und rechte Gruppen bei bestimmten gesellschaftlichen Themen – genannt seien neben der Flüchtlingspolitik das Geschlechterverhältnis und die Normierung des Verhaltens in der Öffentlichkeit – die Hegemonie ausüben?

Als Interviewpartner sollten Personen gewonnen werden, die sich gut in ihrer gesellschaftlichen Umgebung auskennen, aber keine Ämter bekleiden. Allmählich zeichnete sich ab, daß wir Kontakte vor allem zu Sozialarbeitern, Kneipiers und subkulturell engagierten Personen in zwei Grenzre-gionen beiderseits von Oder und Neiße bekamen. Die Fragetechnik war minimalisiert, die Inter-viewer gingen nicht nach einem standardisierten Fragekatalog vor, sondern mit einem Gespür für biographische Brüche und Sprünge, die möglicherweise mit dem Grenzgeschehen in Zusammen-hang stehen.

Obwohl sich die Befragten auf deutscher Seite mit ihrem sozialen, kritischen Engagement eher mi-noritären Positionen zurechnen, fiel im Lauf der Interviews auf, wie tief rassistische Muster auch diese Ränder der Gesellschaft prägen und wie schwierig es für die Interviewten war und ist, sich in ihren Handlungen, Wahrnehmungen und Diskussionen davon zu lösen. Unser Interesse galt mehr und mehr den Strategien und Erfahrungen, mit denen sich Personen von Gesellschaftsmodellen autoritärer Anpassung und phänotypischer Normierung verabschieden.

Die Eröffnung des Interviews

Gabi (Namen und Ortsangaben sind geändert) beteiligt sich am Betrieb eines selbstorganisierten Jugendcafés, das die örtliche Antifa und diverse subkulturelle Gruppen frequentieren. Die Jugend-szene der Stadt an der Neiße wird uns von Personen unterschiedlicher politischer Couleur als rechtsdominiert geschildert, und der Jugendklub von Gabi ist der einzige halböffentliche Raum der Stadt für kulturellen und politischen Minderheiten, die sich nur zum Teil als politisch linksstehend sehen und seit Jahren gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt sind.

Es gibt längs der deutsch-polnischen Grenze auf deutscher Seite nur ungefähr ein halbes Dutzend solcher kleinen städtischenTreffpunkte. Neben Gabi haben wir noch einen Heranwachsenden eines anderen Jugendklubs in Schwedt interviewt.

Gabi wohnt bei ihren Eltern in S.-dorf, das etwa 1.500 Einwohner zählt, am Rande der Siedlungen in einem ruhigen Einfamilienhaus. Das Interview findet dort in angenehmer Gartenatmosphäre statt. Die Mutter und später auch der heimkommende Vater begrüßen die beiden Interviewer und sind während des Interviews nicht anwesend. Ihre Schwester ist zeitweilig während des Interviews im Garten. Gabi hat aufgrund früherer Begegnungen mit der FFM eine vage Vorstellung von der grenzbezogenen Flüchtlingsarbeit der Interviewer. Die beiden männlichen Interviewer der FFM – Fritz Burschel und Dominique John – sind wesentlich älter als Gabi.

Das Interview kommt nur mühsam in Gang: Die Eingangsfrage nach der sozialen Lage vereinfacht der Interviewer nach kurzem Zögern in eine Bitte zur Angabe, ob Gabi denn zur Zeit arbeite. Dieses Angebot zur Gesprächseröffnung bremst er aber wieder ab – da wieder eine Pause entsteht – und schlägt zusätzlich eine zweite Frage-Richtung an: Er bittet um eine Beschreibung der lokalen Verhältnisse.

Gabi läßt die Frage nach der Arbeit unbeantwortet. Scheut sie sich, sich gleich als Arbeitslose vorzustellen – falls sie keine Arbeit hat? Wenn sie trotz der immensen Jugendarbeitslosigkeit in der Region in Arbeit steht, müßte die Anwort eine Prestigemöglichkeit sein: dann wäre ihr Ausweichen wirklich irritierend. Auch ihre spärlichen Wohnangaben münden nicht in einer Charakterisierung des Ortes.

Statt einer entsprechenden Antwort stellt sich Gabi zunächst vor, und zwar durch ihre Altersangabe – “ich bin 19 Jahre” – , und durch die Betonung, daß sie seit ihrer Geburt “aufm Dorf“, in verschiedenen Dörfern längs der Grenze, gewohnt habe, zuerst in T., dann in S.-dorf. Beide Grenzdörfer liegen im Einzugsbereich der Stadt X.

19 Jahre, Geburt, Dörfer an der Grenze: Das ist der Horizont, den Gabi mit der Gesprächseröffnung von ihrer Seite aus anbietet. Dieser Dreiklang verweist bewußt nicht auf Erwachsensein und urbane Weltläufigkeit, in der die Kindheit und das Dorfleben eine zurückliegende Etappe ausmachen, sondern auf ihre Lebenserfahrung, die vom Dorf und der Grenze geprägt ist: Möglicherweise ist damit die Peripherie, die Marginalisierung der Dorfgesellschaft in der Grenzregion angesprochen. 19 Jahre: Das ist aber zugleich das übliche Alter des Wegzugs aus dem Elternhaus und des lebens-geschichtlichen Bruchs mit der geschlossenen, von Abhängigkeiten gekennzeichneten Gesellschaft von Kindern und Jugendlichen.

Mit der Vorstellung paßt Gabi die Erwartungen der Interviewer an ihre Welt an. Und sie legitimiert sich, sie akzeptiert die Interviewsituation und steckt den Gesprächshorizont ab.

T. liegt auch direkt an der Grenze?

Ja. Also S.-dorf. Das sind die ganzen Dörfer bis nach Y. So ja. S.-dorf… Ja wie gesagt, die Autobahngrenze führt hier, die Autobahn führt in S.-dorf drüber. Die Bevölkerung an sich, würd´ ich sagen, ist eher, hat mehr oder weniger ein Desinteresse dran, an der Grenze. Es gibt zwar ´ne Bürgerwehr. Also ob´s die noch gibt, weiß ich nicht, ich hab sie nur einmal gesehen, und offiziell gibts die auch nicht. Die sieht so aus, daß zum Beispiel maskierte Männer durch die Gegend stiefeln. Und, naja … , es ist … tjaaa Ausländer. Also ich direkt sehe aus meinem Fenster auf die Elfenbeinstrecke von X. nach Berlin, dort sieht man ab und zu, also es ist auch ein Stück weg von der Hauptstraße, und man kann gut von dieser Straße, X.-Y., auf die 165, das ist die Grenzverkehrsstraße, oder die Bundesstraße, kommen, wo man ja schnell weg ist im Auto. Also da seh ich öfters Autos in der Nacht stehen, und Menschen wechseln die Autos. Und ich meine, wenn man also mit Augen auf durch den Wald geht, sieht man auch Sachen in Säcken … mit neuen Sachen und Sachen in Säcken mit alten Sachen, die einfach rumliegen, wo man auch weeß, da war grad jemand. Ja… Also als ich noch in T. gewohnt hab, wars so, daß öfters unser Auto geklaut wurde, aber damals wurden ja noch viel so DDR-PKWs geborgen, wo die Menschen nicht wußten, wo die Schrottkiste hinpacken, und dann standen sie hundert Meter weiter. Also das ist hier noch nie passiert. Hier wurde uns das Auto noch nie geklaut.

In dieser Passage verselbständigt sich die Rede von Gabi, ihre Beschreibungen werden assoziativ, ungeordnet und widersprüchlich.

Obwohl sich die genannten Dörfer wie auf einer Perlenkette entlang der Grenze reihen, habe die Bevölkerung ein “Desinteresse” an der Grenze oder am Nachbarland Polen, das Gabi nicht mit Namen nennt. Es klingt belanglos, ist aber doch seltsam: Würden Bewohner an der deutschen Süd- oder Westgrenze ihr Verhältnis zur Grenze oder zum Nachbarland derart charakterisieren? Verbirgt sich hinter dem Wort “Desinteresse” eine Haltung, eine Abwendung, eine Verdrängung? Zumindest fällt auf, daß die folgenden Assoziationen Gabis zur Grenze etwas Unheimliches, Dunkles, Nichtgreifbares, Bedrohliches und Gefährliches haben. Es folgt ja nicht eine Beschreibung im Sinne von: Hier endet jetzt Deutschland, der reiche Westen, und für viele Anwohner ist hier die Welt zuende, ich selber fahre aber ab und zu auf die andere Seite usw., sondern:

– Da ist die Bürgerwehr, die es offiziell nicht gibt, die Gabi nur einmal gesehen haben will: Maskierte Männer mit Stiefeln.

– Die “Ausländer”: Das Abbrechen des Redeflusses vor diesem Wort weißt auf die Unsicherheit der Bezeichnung hin, und die stockende Ausführung des Gedankens, was denn “Ausländer” an der Grenze machen, gibt dem Text etwas Stichwortartiges zur Konnotation: Flüchtlinge und (ausländische?) Schmuggler wechseln nachts die Autos, in der Landschaft herumliegende Kleidung weist auf heimliche Grenzüberschreiter hin, und: Autos wurden gestohlen.

– Die in der Grenzregion stark kontrollierten Verkehrswege – die Eisenbahnstrecke und die Bun-desstraße nach Berlin – skizziert sie als Schmuggler- und Flüchtlingsrouten
Zwar weist Gabi mehrmals darauf hin, daß sie dies und jenes, was sie schildert, bereits gesehen habe. Aus Plausibilitätsgründen steht der Realitätsgehalt mancher Äußerungen in Frage: Warum maskieren sich Bürgerwehr-Mitglieder? Wie erkennt man an Kleidung, daß sie gerade noch benutzt war? Nicht in Frage steht, daß von diesem Szenario ein Gefühl der Bedrohung ausgeht. Es ist dasselbe Szenario, dem wir in den Massenmedien in der Berichterstattung über die ostdeutsche Grenze begegnen. Aber dann, im folgenden, beginnt Gabi mit einer Relativierung der Grenzgefahren. Zunächst weist sie darauf hin, daß vor allem zur Wendezeit Autos gestohlen wurden, später aber viel weniger. Und die Kriminalität sei nicht höher als anderswo. Sie nennt es eine “lustige Begebenheit”, “wenn aus Gärten Bäumchen und Blumen und sowas gestohlen werden. Und für ´ne Dorfgemeinde ist das ja schlimm, weil das können se ja nun wirklich auf keen Ausländer schieben, was will ‘n Ausländer mit’m kleen Apfelbäumchen, ne?” So müßten sie dann “in ihrer Dorfgemeinschaft” nach den Schuldigen suchen. Ihr fällt auf, “daß ziemlich viel schnell alles auf die Ausländer geschoben wird.”

Die Bedrohung, die vorher aufschien, ist gebannt, durch genaue Betrachtung und rationale Überlegung. Wer oder was hat Gabi veranlaßt, diesen Weg eigener Erklärung und Bannung einzuschlagen? Sie wechselt im folgenden das Thema, aber nicht den Tenor: Das Haus steht nah an der Grenze, und Flüchtlinge versuchen, über die Straße am Haus fortzukommen. Monatelang lag direkt neben dem Haus der BGS mit einem Streifenwagen auf Lauer. Die Familie fühlte sich nicht nur durch die Funksprüche und den nächtlichen Lärm der BGS-Beamte in der Ruhe gestört, sondern durch die ständige Präsenz regelrecht bewacht. Gabi beschreibt: Man hatte das Gefühl, das Haus steht ständig unter Kontrolle. (…) also mir gibt¹s jedenfalls keene Sicherheit, daß da BGS-Beamte stehen vor unserem Haus. (…) Bis mein Vater es geschafft hat, den (BGS) zu verjagen, indem er dem mitteilen lassen hat, daß es eben nicht erwünscht ist. Wir haben zum Beispiel zur Karnevalszeit … , kam grad so ne Karnevalssendung, so ne, ja mit viel lauter Musik, und da hat mein Vater denn die Box nach draußen gestellt, richtig laut, so daß die kein Geräusch mehr wahrnehmen konnten, außer dieser Musik. Seitdem kommense auch nicht mehr. Also das ist so, weil man hat die Straße nach unten gut im Blickfeld, und man steht abseits, und es sieht kaum jemand, wenn die dort stehen.

Es ist ein Hinweis, den wir später bestätigt finden: Die 19-Jährige findet in ihren Eltern Verbündete gegen sonst vielleicht übermächtige, als Bedrohung empfundene Phänomene, die mit der der Grenze in Verbindung stehen, und seien es Behörden, die sich der Bevölkerung gerne als Schutzmacht an der Grenze präsentieren. Erst viel später lenkt Gabi vorsichtig und stockend das Interview auf einen Erlebniszusammenhang, der im gesamten Interview eine Schlüsselstellung einnimmt.

Der biographische Bruch

Wir erfahren, daß die gutsituierte Familie – Vater: Geschäftsführer einer Krankenkasse, Gabi bezeichnet ihn als “meinen Sponsor”; Mutter: Geschichtslehrerin – eher am Rand der festgefügten Dorfgemeinschaft lebt. Nur die Großeltern erführen über den Dorftratsch, wie die Dorfbewohner das Bürgertelefon des BGS zur Denunziation von durchreisenden Flüchtlingen nutzten. Viele soziale Kontakte scheinen für Gabi und ihre Eltern abgebrochen. Der Interviewverlauf geht auf die Anpassung des Modezwangs der Jugendlichen an das rechte Outfit der “Dorffaschos” – so nennt Gabi die Rechten – zu:

Also jetzt haste keine Chance, wennde kein Lonsdale-T-Shirt trägst. So mein ich das. Also jetzt isses Zwang. Von … von … also wirkt der Zwang auf die Kinder nieder. Das fängt ja schon mit zwölf, ölf, zwölf Jahren an. Aber erst wars einfach nur Coolness. Das sieht gut aus und…

Und warum hast Du keine Lust, da irgendwie mitzumachen?

(lacht) … ja, frag ich mich bis jetzt noch … (lacht) …jaja, das ist so ne Frage. Ich weiß es nicht!

Wegen Deiner Eltern auch?

Nee, ich denk mal, n Schnitt in meine Biographie hat mir meine …, hat mir meine behinderte Schwester irgendwo auch gegeben. Also weil… das war was anderes, da mußt ich mich schon das erste Mal behaupten. Weil in som Dorf geht das ja wie son … Fegefeuer rum. Da is n behindertes Kind auf die Welt, und sie durften nicht in den Kinderwagen gucken, da kriegen se ja gleich n Koller, und so weiter. Und das hab ich mit, mit ölf Jahren erfahren so, oder mit zwölf Jahren und… da mußt ich auf eenmal so weit über mich hinauswachsen und sagen: Ich schieb den Kinderwagen durch das Dorf, und die Leute sollen alle sehn, daß es n behindertes Kind ist und…Deswegen bin ich noch ich! Und muß mich nicht irgendwelchen Leuten unterwerfen.

Den Beginn des Gemeinschaftszwangs datiert Gabi auf das Alter von “ölf, zwölf Jahren”. Während man zunächst eine Außenbeschreibung erwartet, also Gabis Blick auf die heute Elf-Zwölfjährigen, springt sie auf ihre eigene Erlebnisperspektive. Sie selbst ist, wie sie anfangs betont hat, in diesen Dörfern aufgewachsen und hat den rechten Modezwang in dem genannten Alter 1990/1991 selbst erlebt. Es erwartet uns nun eine Schilderung der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart reicht: “erst wars nur Coolness. Das sieht gut aus …”. Die Faszination der Mode – oder des Mitmachens? – ist bis heute nicht völlig abgebrochen. Wie wir im weiteren Verlauf erfahren, hat Gabi 1990/1991 eine Schwester bekommen, die behindert ist.

In dem gesamten Interview bezieht sich Gabi kein einziges Mal auf die Wende oder auf die großen Umbrüche im Gefolge der Einheit, obwohl ihre Mutter zu DDR-Zeiten Schuldirektorin war, anschließend für die PDS kandidiert hat und daher Interpretationsmuster der Vergangenheit gewis-sermaßen auf dem Tisch liegen müßten. Aber trotz dieser Nichtthematisierung sind die Schlüsseljahre 1990 – 1992 auch für sie von entscheidender Bedeutung: an die Stelle der große Erzählung des historisch markierten Bruchs, den diese Jahre bis in die tiefsten gesellschaftlichen und individuellen Sphären der untergegangenen DDR bedeutet haben, tritt bei ihr die persönliche Erzählung eines frühdatierten Erwachsenwerdens, bei der die herrschenden Deutungsmuster nicht übernommen, sondern durch eine eigene Erfahrung überlagert und parallelisiert werden.

Beeindruckend ist der radikale persönliche Bezug des Lebens mit einer behinderten Schwester in einer Dorfgemeinschaft, die die Existenz von Behinderten zunächst nicht akzeptiert: Die Interviewte objektiviert die Situation nicht, etwa durch einen Verweis auf die allgemeinen Schwierigkeiten, auf die Behinderte in dieser Gesellschaft stoßen, sonden wird im “Fegefeuer” zum “ich”. Dieses Grenzerlebnis wird in ihrer heutigen Deutung zum Ausgangspunkt ihrer Selbständigkeit, ihres Selbstbewußtseins, ihres Erwachsenwerdens. Bei dem Entwurf ihrer Persönlichkeit ist sie auf sich selbst zurückgeworfen; ihre Eltern, die in diesem Geschehen engstens dabeigewesen sein müssen, tauchen in dieser Erzählung nicht auf. – Die gesellschaftliche Isolation führt aber nicht zum abso-luten Bruch mit der Gemeinschaft, im Gegenteil. Die Mitbewohner hätten erkannt – nachdem Gabi ihre Schwester offensiv in die lokale Öffentlichkeit gebracht habe – , daß die Schwester noch niedlicher als andere Babies aussehe, und es habe ein Integrationsprozeß in der Kinderkrippe wie im Dorfleben begonnen. Erst danach setzt im Interview die tatsächliche Objektivierung und Verallgemeinerung der Erlebnisse ein.

Gabis Versuch, ihr Erleben der Ausgrenzung politisch zu verarbeiten, läßt ein Gefühl der Zerrissenheit zurück: Auf der einen Seite berichtet sie, daß sie in der Auseinandersetzung mit den “Dorffaschos” des öfteren auf die nazistische Vergangenheit der Euthanasie und der Konzentrationslager Bezug genommen habe und damit, da alle ihre behinderte Schwester persönlich kennen würden, einen “Stopp”, ein Innehalten der “Dorffaschos”, einen Punkt der Reflexion erreicht habe. Gabi schlußfolgert, daß es sich bei ihnen deswegen nicht um richtige Faschisten handeln könne. Doch dann setzt die Angst, die Ohnmacht ein: Kritische Leute “klinken sich vollkommen aus den sozialen Strukturen ihres Dorfes aus,” sie müßten “Spießruten” laufen, und Lehrer griffen nicht mehr ein, wenn ein Schüler “was von Auschwitzlüge erzählt.” Die Lehrer würden “den darauf nie ansprechen, dann lassen sie ihn halt reden. Da ham sie viel zu viel Angst.”

Die tiefste Verlegenheit kommt auf, als Gabi nochmals nach ihrer Arbeit gefragt wird. Sie ist seit ihrem Schulabschluß Praktikantin in Behinderteneinrichtungen. Details ihrer Arbeit schildert sie nicht, es folgt eine Pause und ein Themensprung. Am Interview-Ende ist zu erfahren, daß sie vorhat, Integrationspädagogik in Berlin oder Leipzig zu studieren.

Der biographische Bruch, wie Gabi sich ihn ausdeutet und zur Bestimmung ihrer Studienperspektive macht, erhält einerseits die Tiefe eine persönlichen Entschiedenheit. Andererseits haftet an diesem Bruch eine Unsicherheit oder gar eine Unklarheit: Wir erinnern uns, das Interview begann mit der Frage nach ihrer sozialen Situation, ihrer Arbeit, und endete – wie auch der Gesprächsversuch über ihr derzeitiges Praktikum in Behinderteneinrichtungen – in einer Gesprächsblockade.

Dorffaschos

Gabi betont langsam und ausdrücklich, daß in den schon vorgestellten Jahren 1991/1992 schlagartig eine Bewegung entstanden sei, die sie “die Dorffaschos” nennt. Im Grenzdorf T., in dem sie damals gewohnt habe, habe sie damals den örtlichen Jugendklub frequentiert, und vor 1991/1992 habe man dort Musik gehört, die nichts mit “Faschomucke” zu tun gehabt hätte. “Auf eenmal” sei alles anders in dem Klub gewesen: Man habe rechte Musik gehört, sich die Haare ganz kurz geschnitten – “einfach cool!”, an anderer Stelle nennt sie das neue Outfit “schnittig” und “fesch”. Auch ihre Schule nennt sie als Ort dieses neuen Milieus. 1991 wechselte Gabi – so können wir aus späteren Interviewangaben rekonstruieren – , auf die Polytechnische Oberschule (POS), die sich im selben Dorf T. befand.

So sind es neben der Geburt ihrer Schwester noch mehr Ereignisse, die bei Gabi einen biographischen Einschnitt in jener Zeit hinterlassen: Das Entstehen der “Dorffascho”-Bewegung, ausgehend vom lokalen Jugendklub, und ihr Eintritt in die POS. Während sie nachmittags und am Wochenende mit ihrer Schwester auf der Straße Spießruten laufen mußte, betrat sie am Vormittag bzw. am Abend geschlossene “Dorffascho”-Gesellschaften, denen sie sich zugehörig fühlte oder fühlen mußte: Schule und Klub.

Es war angesagt, “sich straff zu organisieren”, so erklärt sie die Gemeinschaft der Dorffaschos, die auf die Jugendlichen große Anziehungskraft ausgeübt habe. Eine straffe Organisation von Jugendlichen auf dem Dorf? Verbindlichkeiten, Funktionsbestimmungen, Arbeitsteilungen sind damit sicherlich nicht gemeint. Die Interviewte fährt erklärend fort, daß “bei vielen (…) da auch wohl n bißl was aus der Pionierorganisation einfach hängengeblieben (ist), weil… da halt… funktionierte es ja größtenteils auch so …” Sie meint offensichtlich den Charakter von Zwangsgemeinschaften, denen alle angehören. In der Schule sei es “in” gewesen, “in so ne Szene einzutreten”, und “auf den Dörfern ist es auch irgendwo Zwang halt.” Durch die Gemeinschaften erhalte man zudem einen großen Freundeskreis.

Wenn heute Gabi, die jetzt im Nachbardorf wohnt, öfter in der Großstadt X. fährt und sich zu den Linken zählt, in das ihr vertraute Dorf T. kommt, – dorthin, wo sie auf die POS gegangen ist und sich ein rechter Jugendklub etabliert hat – , dann würden die Rechten sie “anerkennen”.

Und ich werd dort nie eens auf die Mütze kriegen. Um Gottes Willen! Also da ham se viel zu viel Achtung vor mir. Weil sie mich als Mensch kennen, und denen das vollkomen egal ist, ob ich nun links oder weeß ich was bin.

Das heißt, Du kannst auch in diesen (rechten) Jugendklub gehen…

… ich kann auch in den Jugendklub gehn, ohne daß mir was passiert. (…)

Und gehst Du da auch hin, in diesen Jugendklub?

(entschlossen) Nein.

Hast Du keinen Bock drauf.

Das sind alles nicht Freunde von mir, ja?

Den Austritt aus der Gemeinschaft der “Dorffaschos” beschreibt sie als mutigen Akt. Aus dem Dorf T. hätten das nur zwei Personen geschafft, sie selbst und ein älterer Mitschüler der POS. Der Bruch sei einfacher, wenn man ihn mit einem Schulwechsel verbinde. Ab 1995 fuhr Gabi täglich in die Großstadt X. zur Erweiterten Oberschule (EOS), die in dem von ihr besuchten Zweig der west-deutschen gymnasialen Oberstufe entspricht, und damit sei sie in die linke Szene gewechselt. Obwohl sich Gabi heute eher der Antifa zurechnet, beschreibt sie die “Dorffaschos” politisch als weder links- noch rechtsstehend, sondern als etwas tumbe Lokalpatrioten, die sich aus Tradition mit den Jugendlichen des Nachbardorfs prügelten. Sie seien höchstens Mitläufer der Nazis. Erst wenn sie die Diskotheken der Großstadt X. frequentierten und mit den dortigen Nazis Kontakt aufnähmen, mutierten sie für Gabi zu gefährlichen Rechten.

Dieser Differenzierung zwischen angeblich unpolitischer Dorfgemeinschaft und politischen Verhältnissen der Großstadt entspricht es, daß Gabi von NPD-Aktivitäten in ihrer Oberstufenklasse berichten kann, von überregionalen rechten Demonstrationen, zu denen an den Schulen dieser Stadt mobilisiert wurde, und von Vorfällen wie der Provokation einer polnischen Lehrerin durch die Propagierung deutscher Gebietsansprüche im Klassenunterricht: Schüler hätten das polnische Staatsterritorium auf der Wandkarte mit dem Buchstaben D übermalt.

Ihre Schilderung der Kritikunfähigkeit und der Männerbündelei der jugendlichen Dorfgemeinschaften geben im Grunde aber doch Aufschluß über deren politischen Charakter. Man diskutiere einfach nicht auf dem Land, sagt Gabi. Sowohl die Rechten wie auch die minoritären Linken setzten sich mehrheitlich aus Jungen zusammen. Die Mädchen zögen halt mit. Denen sei es egal, ob der Freund politisch rechts oder links stehe. Gabi zitiert – als Frau, die sich bewußt dem linken Jugendklub in der Großstadt X. zuordnet und dort aktiv ist – einen Spruch der Rechten, den sie zu hören bekommt: “Wie oft mußtest Du gebumst werden, damit de dann in diesem Verein sein darfst?” Der übergreifende patriarchale Zuschnitt der lokalen Gemeinschaften, die homogen als deutsch definierte Gesellschaftlichkeit und die aus der eigenen Welt verbannte Existenz von “Ausländern” oder Bewohnern jenseits der Grenze machen den wahren, aber versteckten politischen Kern dieser Gemeinschaften aus.

Mit ihrem eigenen sozialen Aufstieg, den der Wechsel an die gymnasiale Oberstufe und die Aussicht auf ein Universitätsstudium bedeutet, und ihrer damit verbundenen geographischen Mobilität gibt Gabi die gemeinsame Gruppenperspektive der Dorfjugend auf. Sie wendet diesen Abschied in eine Vernachlässigung, wenn nicht Verachtung der sozialen Frage. Das Eingangsthema des Interviews – die Frage nach ihrer sozialen Situation und ihrer Arbeit – hatte Gabi nicht aufgenommen. Als an späterer Stelle des Interviews die Sprache auf die Arbeitslosigkeit und Schwarzarbeit in der Region kommt, sucht Gabi nach Auswegen, um ihre Unkenntnis zu verbergen. Sie interessiere sich nicht dafür, sagt sie zunächst, und dann benennt sie belanglose Details. Erst als sie sich die schwierige Situation ihrer Gleichaltrigen bei der Suche nach einer Lehrstelle vor Augen hält, streift sie die gesellschaftlichen Dimensionen der sozialen Marginalisierung. Einen Ausweg gebe es nur, wenn der Vater einen guten Posten und Connections habe.

Noch deutlicher wird ihre mittelständische Beobachtungswarte, als sie die Rechten als “Prols” und ihre Subkultur als “Proltum” abschätzig kennzeichnet. Erläuternd fügt sie hinzu, daß es sich dabei in Wirklichkeit um Hooligans, Freizeitsäufer und Randalierer handele, die sich nach außen als “Faschos” gäben, aber sicherlich keine richtigen Nazis seien. Sie führen gerne die großen Autos von Papa, Mercedes Benz oder BMW, durch die Gegend – eine Bemerkung, die seltsam klingt: Die armen “Prols” sollen in Wirklichkeit reich sein, ganz so wie der in sozialrassistischer Absicht bemühte Bettler, der abends mit dem dicken Auto nach Hause fahren soll?

Ausländer

Gegen Ende des Interviews wird Gabi nach Kontakten zur polnischen Nachbarstadt und zu polnischen Grenzbewohnern, des weiteren zu Migranten und Flüchtlingen befragt.

Erst seit dem Besuch der großstädtischen Oberschule, also ab 1995, habe sie von der Existenz von grenzübergreifenden Schulpartnerschaften, einem binationalen Kindergartenprojekt und der lebendigen Kulturszene auf polnischer Seite erfahren. Mehrmals sei sie zu Jugendkonzerten drüben gewesen, aber angeblich machten polnische Nazis die Kneipenbesuche für deutsche Jugendliche zu einem Problem. Bei genauerem Nachfragen stellt sich heraus, daß sie mit einer Jugendgruppe einmal nicht in ein Lokal gelassen wurde. Und aus den anfangs zahlreichen Bekanntschaften mit polnischen Jugendlichen bleibt schließlich ein Kontakt zu einem Polen übrig, “das ist auch n polnischer Linker, (…) und wir tauschen uns aus über Rechtsradikalismus Polen-Deutschland.”

Sie sehe “den Unterschied, also auf der Straße, das ist jetzt ein polnischer Jugendlicher und das ein deutscher Jugendlicher”. In der Tat sind Bomberjacken, Glatzen und Springerstiefel auf polnischer Seite nicht derart verbreitet – falls sie sich darauf bezieht.

Im Vergleich mit anderen Interviews, die wir auf deutscher Seite führten, fällt auf, daß sie zu kulturellen und gesellschaftlichen Zwecken die Grenze überschritten hat. Andere – wohlgemerkt sozial engagierte, kritische Leute der Grenzregion – fahren gar nicht auf die polnische Seite oder höchstens zum Tanken und Einkaufen.

Ansonsten unterteilt Gabi “die Ausländer” in zwei Kategorien: Die einen bekämen Deutschland gar nicht richtig zu sehen, “die kommen sofort wieder über die Grenze nach Polen.” Sie weiß über den Pfarrer, daß es hundert bis hundertfünfzig Asylbewerber im städtischen Gefängnis gebe, 25 Prozent davon seien Asylberechtigte: “Also das ist eher gering. Also die meisten werden sofort abgeschoben.” Oder sie hätten das “Glück”, daß sie in ein Asylbewerberheim kämen. Ein großes Heim gebe es in dem Ort F. Eine Familie aus dem Libanon, die dort untergebracht ist – “auf einem Zimmer glaub ich mit drei, vier, fünf Kindern,” habe auch ein behindertes Kind. Gabis Familie wollte deswegen Kontakt zu ihnen aufnehmen, aber die hätten nur eine Duldung, und da wüßte man nicht, ob sie nicht bald abgeschoben würden.

Die andere Kategorie: “Naja, es gibt einen relativ hohen Anteil von Vietnamesen. Die gibt¹s, ja. Aber die sind ja halt Staatsbüger größtenteils geworden.” Die Antwort erstaunt um so mehr, als wir diese Antwort in ähnlicher Form in fast allen Interviews längs der Grenze erhalten haben. Wer nicht eingesperrt und abgeschoben wird oder in Heimen lebt, ist irgendwie kein richtiger “Ausländer”. Zunächst die Nachfrage:

Aha. Also verheiratet, oder wie meinst du?

Nee, die sind, die sind ja zu DDR-Zeiten, ham die ja diese Ausbildung hier bekommen als … also Maschinenbau und weiß ich was.

Es bleibt ein Rätsel, warum die Vertragsarbeiter – und in anderen Interviews die fest dort Lebenden – in der Vorstellungwelt der Befragten einen eingebürgerten Status besitzen. Diese Kategorisierung stimmt ganz und gar nicht mit der juristischen und auch nicht mit der sozialen Realität überein. Die Ausbildung von Vertragsarbeitern im Maschinenbau in der DDR-Zeit – viele haben damals keine Ausbildung bekommen – ist angesichts ihrer Marginalisierung auf dem Arbeitsmarkt bedeutungslos geworden. Und manche der Vietnamesen, die sich heute in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, sind erst in den letzten Jahren gekommen und haben bis heute keinen legalen Aufenthaltsstatus erlangt.

Eine Erklärung für Gabis Fehldeutung mag sein, daß es generell schwierig ist, Realitäten wahrzunehmen, die nicht in das eigene Gesellschaftsbild passen, und Grauzonen zuzulassen, die möglicherweise zu grundlegenden Veränderungen von Legitimität und zu neuen politischen Handlungsmöglichkeiten führen könnten.

Gabi bemüht eine Verdrängungsmetapher, als sie am Interviewschluß gefragt wird, ob heimlichen Grenzüberschreitern auch mal geholfen werde:

Also Hilfestellung gabs nie. Es gibt nur zwei Varianten: also entweder ich ruf das Bürgertelefon an und all son Käse, oder (…) ich seh halt nur Rehe. Das ist vorbeigelaufen, das ist mir egal, ich sehe die Leute nicht. Die zwei Varianten gibt es nur. Aber daß jemand sagt: Ich mach denen, ich helfe denen noch, über die Grenze zu kommen, das würde hier (betont jedes Wort) nie jemand tun. Weil dann würd er sich ja strafbar machen, und also. Um Gottes willen.

Zur Erläutererung: Grenzbewohner bemerken durchaus Flüchtlinge bei oder nach der heimlichen Grenzüberschreitung, die sofort in das sichere Drittland Polen, in den sicheren Herkunftsstaat Rumänien oder Bulgarien abgeschoben werden, falls sie in eine Kontrolle des BGS oder der Polizei geraten. Wer die Augen vor der dramatischen Situation verschließt und nichts weiter als “Rehe” sehen will, braucht nicht zu handeln und rettet sich ein phantomartiges Gesellschaftsbild. Aber Gabi spricht die Worte über die Legalität derart langsam und distanziert aus, weil vielleicht andere, von ihr überlegte Handlungsmöglichkeiten in einem Interview nicht verbalisierbar sind.

Kurzbeispiele aus der Interviewserie

Der Vikar S. aus einem Dorf bei Görlitz schildert zurückblickend, daß er in seiner Kindheit und Jugend – zu DDR-Zeiten – jährlich in den Ferien nach Polen und in die Tschechische Republik gefahren ist. Seit der Wende seien diese Länder aber zu unsicher und gefährlich geworden, so daß er trotz unmittelbarer Nähe der Grenze kaum noch einen Fuß auf die andere Seite setze, man habe jetzt “son komisches Gefühl”. Nachdem längere Passagen über polnische Schrotthändler, Saison- und Werkvertragsarbeiter im Ort folgen, kommt das Statement zu den “Ausländern”:

Es gibt hier keine Ausländer, die hier irgendwie auftauchen oder so, es wohnen hier keine Ausländer. Die werden ja hier in der Gegend in Asylantenheime, oder wie man das nennen will, zusammengefaßt, da ist in Görlitz, da sind in Weißwasser, es ist in Sproitz am Quitzdorfer Stausee in der Nähe von Nisky, da ist ein Ausländerlager, da werden die erstmal konzentriert und dann werden sie ja verteilt. Aber Ausländer hier sind mir nicht aufgefallen, auch nicht jetzt als Kinder irgendwie in der Schule und selbst auch in Görlitz nicht. Da ist also, gut, da ist das Gymnasium – das ist noch mal ne andere Stufe, aber da sind mir eigentlich Ausländer auch nicht aufgefallen.

Der Zivildienstleistende D., Leiter eines Hiphop-Klubs in Schwedt, Sohn eines ungarischen Vertragsarbeiters:

Ausländer treten in dieser Staft eigentlich nicht so in Erscheinung. (…) Man hat zwar jetzt hier drüben so einen Türken, der einem Döner verkauft,… hinten, in dem Zentrum is n Ungar, der … der Döner verkauft, von dem der Sohn übrigens rechts is, also..mit den…Nazis rumrennt,… man hat, jaa, man hat sein Chinarestaurant und seinen Griechen,…aber…Ausländer selbst…kennt hier keiner. (…) Die Ausländer (…) , die mit der, mit, mitm Vater herjekommen sind, det sind anerkannte Deutsche sozusagen, mehr oder weniger, also, die…sind von der normalen Bevölkerung nich als…als…böse Asylbetrüger, oder wer weeß wat, wie man se alle nennt, irgendwie wahrjenommen…, und…andere…gibt¹s irgendwie kaum noch! Dann gibt¹s, na, gibt¹s so n paar Vietnamesen, die…damals…die ham hier in der…Schuhfabrik gearbeitet….ham immer den Durchschnitt nach oben gedrückt…”

Die rassistische Propaganda der Rechten hält er für realitätsfremd, da es in Schwedt ja keine türkischen Jugendgangs wie in Berlin gebe. Die Übergriffe in Schwedt und Umgebung auf Polen, Asylbewerber und Durchreisende aus anderen Ländern gibt es für ihn nicht.

Der Lehrer H., der sich aktiv an einem Brandenburger Programm gegen “Ausländerfeindlichkeit” an den Schulen beteiligt, sagt zum Thema:
(Es ist) ganz komisch, es gibt in Schwedt kein Flüchtlingswohnheim mehr. Die Hauptgruppe die es mal bei Flüchtlingen gab, waren bosnische Kriegsflüchtlinge, die wohnen aber erstens in Wohnungen, gehen da kaum raus außer mal zum Einkaufen, sind immer weniger jetzt ge-worden, jetzt sind¹s vielleicht noch 70, 80, die hier in Schwedt sind, und viele derjenigen, die als Ausländer in Schwedt leben, sind sozusagen in binationalen Ehen, damals PCK4 -Vertragsarbeiter und (…) ich sag mal relativ integriert; also nicht in der Hinsicht, daß sie so-zusagen Selbstorganisation betreiben. (…) Sie leben ganz normal mitten in der deutschen Bevölkerung, ohne als Ausländer auffallen zu wollen, (…) deswegen gibt¹s im Straßenbild kaum Flüchtlinge.

Einer der in der Ausländerarbeit der Stadt Schwedt Engagierten, der sich Anfang der 90er an den Aktivitäten des Neuen Forums, des Runden Tischs und der evangelischen Kirche beteiligt hat – , datiert den Beginn des offenen Rassismus in die Wendezeit, als es in Schwedt noch gar keine Flüchtlinge, wohl aber Vertragsarbeiter aus verschiedenen Ländern gab. Der Rassismus sei damals mit der bevorstehenden Ankunft von Flüchtlingen begründet worden. Als im Frühjahr 1991 die ersten Flüchtlinge auf Schwedt verteilt wurden, habe es bereits eine Pogromstimmung gegeben. Die Flüchtlinge waren zunächst in den Hochhausquartieren der weggezogenen Vertragsarbeiter unterge-bracht. Die Stadtverwaltung und eine Gruppe engagierter Bürger und Bürgerinnen, deren politisches Spektrum von der Antifa bis zur FDP gereicht habe, hätten 1992 aus Furcht vor einem Pogrom die Flüchtlinge in einem ehemaligen Armeegefängnis am Chemiewerk untergebracht. Zeitweise seien es bis zu 400 Flüchtlinge gewesen, die durch die “sichere” Unterbringung aus dem Stadtbild verschwunden seien. 1994 sei dieses einzige Flüchtlingslager mit der Kreisreform aufgelöst worden, die Flüchtlinge seien in andere Heime des Landkreises Uckermark verteilt worden. Daß es 60 bis 80 bosnische Kriegsflüchtlinge in Wohnungen über die Stadt verstreut gebe, wisse kaum jemand in Schwedt. So verdeutlicht diese Strategie von Lagerbildung und Umverteilung am deutlichsten den Zusammenhang des Phantoms einer homogenen Gesellschaft mit Stigmatisierungsprozessen und realer Ausgrenzung.

Die Interviewserie umfaßt 25 Interviews, die von Mai bis August 1998 auf beiden Seiten der Grenze geführt wur-den. Weitere Themenschwerpunkte waren: Erleben der Öffnung der polnisch-deutschen Grenze zu DDR-Zeiten (1972-1980) und nach 1991, Erfahrungen im Umgang mit den Bewohnern des Nachbarlandes, individuelle und familiäre Ökonomien an der Grenze, Rolle von Behörden, insbesondere von Grenzpolizeien im Mikrokosmos an der Grenze.

Dietrich, Helmut, , in: , 7. Jg., H. 3, Juni / Juli 1998.

Die polnischen Polizeien haben nach Abschluß des deutsch-polnischen Rückübernahmeabkommens und der Etablierung einer engen lokalen deutsch-polnischen Zusammenarbeit an der Grenze ebenfalls sogenannte Bürgertele-fone eingerichtet und starten Appelle zur Mithilfe, siehe: Dietrich, Helmut: , in: / CILIP 59, 1998, H. 1, S. 32-41.

Petrochemisches Kombinat

Published 9 March 2001
Original in German
First published by Mittelweg 36

Contributed by Mittelweg 36 © Helmut Dietrich / Mittelweg 36 / Eurozine

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