Der Unsichtbare Dritte

“Die Dissidenten sind empfindsame Gewächse. Die Geschichte rollt über sie hinweg.”

György Konrád

Eine Beziehungsgestalt zweier Welten

Für den Dissidenzbegriff gilt gleiches wie für die Dissidenten: beide sind aus der Mode gekommen. Noch vor wenigen Jahren stieß man in den westlichen Medien, in Nachrichtensendungen und politischen Magazinen, allenthalben auf Dissidenten: mutige, mitunter ein wenig versponnen wirkende Menschen des östlichen Machtbereichs, die meist in Akten persönlicher Selbstgefährdung Widerstand gegen die jeweiligen kommunistischen Regime demonstrierten. Eine einheitliche politische Physiognomie war bei ihnen über den Tatbestand ihres “antitotalitären” Engagements hinaus sowenig festzustellen wie eine Typik ihres Auftretens: Vom klassischen Linksintellektuellen des Typs “Zweite Internationale” bis zum ländlichen Heiligen konnte unter dem Begriff der Dissidenz alles laufen. Diese Ungenauigkeit des Begriffs war, als er noch en vogue war, seine eigentliche Stärke: Dissidenz bezeichnete einen nicht weiter zu erläuternden Geisteszustand des “Anti”, der weder auf “Spirituelles” zu reduzieren war noch unbedingt bereits das Niveau organisierten Widerstands erreicht haben mußte. Der Begriff der Dissidenz, wie er in den 70er und 80er Jahren “umgangssprachlich” benutzt wurde (das heißt so, wie die Medien ihn exponiert hatten), bezeichnete ein “politisches Ungefähr”: einen schwebenden Zwischenzustand, in dem sich eine ganze Reihe von Oppositionsbegriffen verschiedener Epochen zusammenzuziehen schien. Vom anrüchigen der “inneren Emigration” während der Zeit des Nationalsozialismus über die Haltung einer radikalen existentialistischen Kulturkritik der 50er Jahre bis hin zum revolutionären Kämpfer. Dissidenz war auf vielfältige Weise “identifikationsfähig” – gerade nachdem im Westen die Zeiten eines eher anarchisch strukturierten politischen Protests vorbei und die radikalen Oppositionsbewegungen dabei waren, das Attribut “außerparlamentarisch” abzulegen. Die im Westen erfundene Gestalt des Dissidenten begleitete und überbrückte eine für die meisten westlichen Gesellschaften ernsthafte Übergangskrise, die, in Deutschland, als das Ende der Nachkriegszeit bezeichnet worden ist: die Phase von der ersten großen Welle zivilen Protests gegen die “Nachkriegsordnung” bis zum “Zusammenbruch der kommunistischen Welt”. Der Dissident als mediale Gestalt stand in den Jahren zwischen 1968 und 1989 in der Blüte seines Lebens. Er starb kurz nach Erreichen der Volljährigkeit.

Heute sind die in dieser Zeit entdeckten und gefeierten Dissidenten aus dem politischen Nahbereich verschwunden: entweder begegnen sie uns als Staatspräsidenten oder leben so weit hinten in China, daß es schon extremer Akte nietzscheanischer “Fernstenliebe” bedürfte, sie noch identifikationsfähig zu halten. Vor allem aber ist die politische Konstellation zerbrochen, in der die “klassische” Gestalt des Dissidenten geboren wurde.

Grund genug, sich – retrospektiv – über die Bedeutung dieser Gestalt zu verständigen: und wäre es nur, um herauszubekommen, warum sie eine so starke Prominenzphase hatte. Man kann das im Rahmen des alten Bildes von der “Eule der Minerva” tun. Aber man kann auch die weitergehende Frage aufwerfen: Ist die Gestalt des Dissidenten einfach ersatzlos vom Spielplan der Weltgeschichte gestrichen worden – oder hat sie Spuren hinterlassen? Was ist zum Beispiel aus den Menschen geworden, die sich als Dissidenten – etwa in der ehemaligen DDR – begriffen? Haben sie mit der gesellschaftlichen Veränderung aufgehört, Dissidenten zu sein? Und gibt es möglicherweise eine Art “Substanz” dissidenten Verhaltens, die, unabhängig von der medialen Kür bestimmter Personengruppen zu Dissidenten, eine verhaltensleitende Bedeutung haben könnte? Gibt es also so etwas wie das “Syndrom” Dissidenz? Schon die klinische Formulierung weckt Widerstand. Aber sie macht auch auf einen seltsamen Tatbestand aufmerksam: In der Blüte des Redens über Dissidenz hat es kaum Ansätze gegeben, das Phänomen wissenschaftlich zu begreifen. Das hat seinen Grund offenbar darin, daß wir über den Begriff der Dissidenz in folgenreicher Weise vorverständigt sind; daß er – weit vor aller wirklichen Definition – einen Assoziationshof hat, der ihn scheinbar der Notwendigkeit einer genaueren Definition enthebt. Man kann das durchaus begrüßen, weil wissenschaftliche Definitionen selten einen Erklärungswert haben, der der Sache Entscheidendes hinzufügt; aber man muß es als Kuriosum festhalten: Daß ein politischer Kampfbegriff wie der der Dissidenz wissenschaftlich so unbefragt bleibt, darf selber als Symptom verstanden werden.

Auf diesem Hintergrund scheint es angemessen, sich zunächst an eine literarische Quelle zu halten. In einem Roman, der in der Zeit des Zusammenbruchs der alten politischen Blöcke geschrieben wurde, die unser “Systemdenken” zur Zeit des kalten Kriegs so nachhaltig geprägt haben, gibt es einen interessanten Definitionsversuch des “Dissidenten”. Die Hauptfigur des holländischen Autors Leon de Winterist der niederländische Botschafter in Prag, die Zeit der Handlung das Jahr 1989:

“Hoffman (der Botschafter, C.S.) hatte heute einen Bericht über die Menschenrechte in der Tschechoslowakei gelesen, der unter seinem Namen nach Den Haag abgehen würde. Seine Hauptaufgabe in Prag war die Unterstützung von Dissidenten, ein von den Rhetorikern im Außenministerium ausgeklügelter Trick. Niemand in Den Haag scherte sich einen Pfifferling um die Dissidenten hier, er selbst eingeschlossen. Aber der Herr Minister konnte im Parlament Eindruck schinden mit seinen Elogen auf weltverbessernde Humanisten oder enttäuschte Kommunisten. Die westliche Presse war ganz gierig auf Dissidenten, denn Dissidenten waren eine Spielart des Journalismus: am Rande der Politik, alles besser wissend, aber mundtot gemacht von den bösen Politikern. Der Journalist, eine traurige Figur, der seine Verbitterung zum Beruf erhoben hatte, konnte sich daher mühelos mit dem Dissidenten identifizieren. Auch in Holland gab es Dissidenten, aber dort nannte man sie einfach Querulanten. In Osteuropa lag das anders. Ein paar Ausnahmen, die die Regel bestätigten, gab es hier (wie zum Beispiel Sacharow, die verkörperte Unschuld), aber die meisten Dissidenten waren tiefgläubige Helden, denen man den Kirchenbesuch erschwerte und die sich ein Europa unter der Führung des Papstes erträumten. Er dachte hierbei besonders an die Polen, die nicht mehr arbeiteten, ihr Land an den Rand des wirtschaftlichen Ruins gebracht hatten und dafür den ganzen Tag in der Kirche auf den Knien lagen, um mit der Heiligen Jungfrau über bessere Zeiten zu verhandeln. Ein Querulant, der in einem osteuropäischen Land zur Welt gekommen war, wurde im Westen Dissident genannt. Ein Halbanalphabet, der mit Mühe HAUS BAUM BALL schreiben konnte und das Glück hatte, in einem Arbeitslager des Gulag interniert zu werden, wurde in München oder Paris als ‘bedeutender experimenteller Dissidentenautor’ gedruckt.” (Leon de Winter, Hoffmans Hunger, S.306 f.)

Polemischer kann man es kaum auf den Begriff bringen. Leon de Winter gibt uns zwar keine Definition von Dissidenz, aber er zeigt den Dissidenten in seiner spezifischen Funktion im alten Ost-West-Konflikt politisch unterschiedlich verfaßter Systeme. Demnach ist der Dissident eine Gestalt, die in einem System gar nicht vorkommen kann. Der Dissident ist vielmehr eine Beziehungsgestalt zweier Welten. Er erwirbt seinen Status dadurch, daß ihm von den Repräsentanten des einen – des für ihn externen – Systems Eigenschaften, Verhaltensweisen und Werte zugeschrieben werden, die sie als die eigenen oder ihnen ähnliche wiedererkennen. Weil diese Eigenschaften, Verhaltensweisen und Werte aber in einem anderen System – dem internen des Dissidenten nämlich – zur Geltung gebracht werden, das andere, ja konträre Wertvorstellungen favorisiert, erscheint in der Gestalt des Dissidenten das eigene Wertesystem als etwas Kämpferisches, um nicht zu sagen Heroisches.

Der Dissident wäre, so gesehen, eine Gestalt der Projektion und der Idealisierung. In ihm verwirklicht sich jene Utopie, die Adorno in seinem bekannten und oft kolportierten Aphorismus unter Verbot stellte: Es gibt dochein richtiges Leben im falschen; allerdings nur, wenn das falsche Leben das der anderen ist und die eigenen konventionell gewordenen Werte sich auf jene idealisierte Gestalt des Dissidenten projizieren lassen, der vermeintlich für das kämpft, was man selber verwirklicht zu haben glaubt. In dieser Perspektive ist der Dissident eine Gestalt der Wunscherfüllung: Er führt heroisch als aktuelles Drama auf, was im eigenen Lebensbereich längst Konvention geworden ist – und er läßt damit ein Stück weit die heroische Substanz, die heroische Vergangenheit des bürgerlichen Wertekosmos wiederaufleben.

Der Dissident wäre nach diesem Verständnis jemand, der gewissermaßen in zwei Realitäten lebt: in einer materiellen, die Gegenstand seiner Kritik wird; und in der Realität eines Gegenentwurfs, die zunächst nichts anderes als eine Utopie, eine psychische Realität ist. Ob dieser psychischen Realität mehr als nur der subjektive Wunsch zukommt, entscheidet letztlich darüber, ob wir es mit einem “Dissidenten” oder einem “Verrückten” zu tun haben. So war es im kalten Krieg für die Ostdissidenten die Existenz der westlichen Gesellschaften mit ihren Freiheitsrechten, universalistischen Moralprinzipien und demokratischen Garantien, die ihnen eine Realität sicherte, die ihren Entwurf vom Ruch des bloßen Hirngespinsts befreite. Und das gilt bis zu einem gewissen Grad auch, wenn wir die Blickrichtung umkehren.

Nimmt man den Dissidenten aus diesem Projektionsrahmen konträrer Systeme heraus, dann, so Leon de Winter, bleibe eine traurige Gestalt übrig. Wie der Prophet im eigenen Lande nichts gilt, schrumpft der Dissident im eigenen Land zum Querulanten. Dissidenz wäre damit buchstäblich auf eine Krankheit reduziert. Wir kennen den Gedankengang. Für die Gesellschaften, für die im Westen der Begriff des Dissidenten erfunden und reserviert wurde, ist die Behandlung von Dissidenten als “Kranke” Realität gewesen. Es ist nicht nur kein Geheimnis, daß etwa sowjetische Dissidenten als Geisteskranke diagnostiziert und in Psychiatrien gesteckt wurden, sondern eine Tatsache, daß die Behandlung von Dissidenz als Geisteskrankheit mehr als nur eine Verlegenheitslösung war, um unliebsame Kritiker abzuschieben und kaltzustellen. Um es polemisch zuzuspitzen: Es sind weniger die Zyniker der Macht, die Systemkritik mit Krankheit identifizieren, als die Idealisten. Wer von der Richtigkeit und Güte des herrschenden, Wertesystems fest überzeugt ist, hat in gewisser Weise gar keine andere Wahl, als denjenigen, der von ihm abweicht, der dagegen opponiert, der es ersetzen will, entweder als Kriminellen oder als Kranken zu betrachten. Im ersten Fall wird ein böser Wille und bewußte Intention unterstellt, im zweiten ein Defekt.

Die Auffassung von Dissidenz als Krankheit ist natürlich eine besonders dehumanisierende Stigmatisierung, zugleich allerdings auch ein Entschuldungsversuch; übrigens ein Versuch, der auf eine große philosophische Tradition zurückblicken kann. Wer Lust auf und Sinn für einen philosophischen Krimi hat, dem sei die Lektüre der Hegelschen “Encyclopädie” und der “Rechtsphilosophie” empfohlen – und zwar jener Passagen, in denen der Standpunkt der Moralität gegenüber der Sittlichkeit buchstäblich als “Krankheit” diagnostiziert und aus der Dialektik von Wahn und Verrücktheit entfaltet wird. Am systematisch entscheidenden Punkt der Hegelschen Gesellschafts- und Staatskonstruktion, dem Übergang der Moralität zur Sittlichkeit, findet sich das Grundmodell für Dissidenz als Krankheit.

Während die Sittlichkeit für Hegel den konkreten Gehalt des objektiven Geistes ausmacht und damit Synonym des ethisch Guten und, modern gesprochen, des gesellschaftlichen Konsensus wird, bezeichnet die Moralität, als Form der bloßen Subjektivität des Willens, gleichsam ein Manko an Konsensfähigkeit. Vom Standpunkt der Sittlichkeit aus gesehen ist Moralität als Abstraktion zu verstehen. Deshalb, so Hegel, “muß auch das Moralische vor dem Sittlichen betrachtet werden, obwohl jenes gewissermaßen nur als eine Krankheit an diesem sich hervortut”. “Aus dem nämlichen Grunde”, führt Hegel fort,”haben wir aber auch in dem anthropologischen Gebiete die Verrücktheit, da dieselbe, wie wir gesehen, in einer gegen das konkrete, objektive Bewußtsein des Verrückten festgehaltenen Abstraktion besteht, vor diesem Bewußtsein zu erörtern gehabt”. ( Enzyclopädie III, Werke Bd. 10, S.171)

Dies ist keine beliebige Koinzidenz. Vielmehr hält sich die Konstruktion der “Enzyklopädie”, ebenso wie die der “Rechtsphilosophie”, strikt an die Strukturgleichheit von Moralität, Subjektivität, Krankheit und Verrücktheit auf der einen, Sittlichkeit, Objektivität, Substanz und Gesundheit auf der anderen Seite. Was Hegel der Verrücktheit zurechnet, gilt auch für den Standpunkt der Moralität:

“Zur Verrücktheit wird der Irrtum und die Torheit erst in dem Fall, wo der Mensch seine nur subjektive Vorstellung als objektiv sich gegenwärtig zu haben glaubt und gegen die mit derselben in Widerspruch stehende wirkliche Objektivität festhält. Den Verrückten ist ihr bloß Subjektives ganz ebenso gewiß wie das Objektive; an ihrer nur subjektiven Vorstellung (…)haben sie die Gewißheit ihrer selbst, hängt ihr Sein” (167)

Dies bezeichnet eine Grundfigur der Dissidenz. Der moralische Standpunkt, die Krankheit der Sittlichkeit, das ist das Modell der Möglichkeiteiner anderen Ordnung. Eben das erscheint Hegel als das Kennzeichen des Verrückten: Man kann, so sagt er, “die verrückte Vorstellung eine vom Verrückten für etwas Konkretes und Wirkliches angesehene leere Abstraktion und bloße Möglichkeit nennen”. Moralität und Verrücktheit kommen darin überein, daß sie eine eigene Realität behaupten, die in der objektiven nicht aufgeht. Beide bezeichnen die Konfrontation der Wirklichkeit mit einer Möglichkeit: einer Möglichkeit, die kontrafaktisch als Realität behandelt wird. Eben das tut auch der Dissident. Er ist deshalb, von der Realität aus gesehen, gegen die er sich vergeht, ein Verrückter: er ist krank. Und nicht nur harmlos. Denn, das wissen wir aus Hegels Geschichtsphilosophie: “Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen heißt Wirklichkeit zerstören.”

Daß im ehemaligen Ostblock Dissidenten als Kranke behandelt wurden, entbehrt also keineswegs der Logik – wenn auch keiner angenehmen; aber der dort geltenden. So entschieden ein durchschnittlicher Westbürger die Anmutung zurückweisen würde, ein Ostdissident sei ein Kranker, so entschieden würde ein Repräsentant der entsprechenden Gesellschaft Dissidenz als Krankheit bezeichnen können– sofern er nicht auf andere Diskurse, etwa den der Kriminalisierung, zurückgreift.

Und bei uns? Folgen wir de Winter, so sind unsere Projektionshelden im Osten im eigenen Land Querulanten. Was ist ein Querulant? Der Alltagsverstand gibt uns von ihm das Bild des krankhaften Rechthabers, und in diesem Fall ist es nicht weit von der wissenschaftlichen Auskunft entfernt. Die Fachliteratur teilt uns dazu folgendes mit: “Querulant (queri = klagen): Persönlichkeitsvariante, sehr oft von Krankheitswert, bei der die Betroffenen darauf bedacht sind, das eigene – fast immer falsch beurteilte empfundene – Recht in übertriebener Weise bzw. ohne Rücksicht auf das Recht anderer durchzusetzen.” (Pschyrembel, 251. Auflage, 1016)

In dieser Definition immerhin wird vollends deutlich, warum der Dissident nur in der Überschneidung zweier Perspektiven, zweier Systeme leben kann. Solange ein monolithisches Recht angenommen wird, bleibt das Pochen auf ein eigenes, das heißt die Möglichkeit eines Gegenentwurfs, eine leere Abstraktion, eine Verrücktheit, wie wir es bei Hegel gesehen haben. Nur der Gegenentwurf, der nicht nur eine eigene, persönliche Realität reklamiert, sondern sich auf eine solche stützen kann, sichert den Dissidenten vorm Verdacht der Querulanz, der Krankheit, des bloß Subjektiven, sprich: des Nichtigen.

Apropos “des bloß Subjektiven”. An der Definition des Pschyrembel sticht eine Besonderheit ins Auge: Als sei das selbstverständlich, subsumiert er das Krankheitsbild, das ja ex objectivo definiert wird, nicht der nosologischen Krankheitseinheit, sondern deren subjektiver Repräsentanz: Es ist wohlgemerkt nicht die Querulanz, die als Stichwort verhandelt wird, sondern ihr Subjekt, der “Querulant”.

Bemüht man das Lexikon, um etwas über Dissidenz zu erfahren, macht man eine ähnliche Entdeckung. Es ist erstaunlich: Dissidenz gibt es nicht. Jedenfalls weder in der anerkannt besten allgemeinen lexikalischen Quelle, nämlich Meyers Großem Universallexikon, noch im einschlägigen speziellen, das heißt politikwissenschaftlichen Auskunftswerk. Wohl aber – genau wie bei der Querulanz – ihre Personifikation. Allerdings mit einem bezeichnenden Unterschied: Weicht der Pschyrembel im Falle der Querulanz vom Krankheitsbild auf seine Personifikation aus, so erfährt das im Falle der Dissidenz noch eine Steigerung. Der Große Meyer, der mit Dissidenz nichts anfangen kann, erläutert nicht etwa, was ein Dissident sei, sondern kennt die Personifikation von Dissidenz nur im Plural. Das Stichwort ist “Dissidenten”. “Dissidenten sind (zu lat. dissidere =uneins sein), Getrennte, Andersdenkende. Diejenigen, die sich außerhalb einer Religionsgemeinschaft stellen. Religionslose. Allg. diejenigen, die von einer offiziellen Meinung abweichen; heute v. a. Bez. für Menschen, die in sozialistischen Staaten für die Verwirklichung der Bürger- und Menschenrechte eintreten.”

Dissidenten sind offenbar nicht als Exemplar, sondern nur im Plural vorstellbar. Steckt dahinter unklar bereits die Vorstellung der zwei Systeme, die wir für den Status des Dissidenten annehmen mußten? Möglicherweise. Was wir bislang herausgebracht haben, scheint zu sein: Wenn wir die Perspektive der zwei Systeme, der zwei Realitäten einnehmen, die den Dissidenten recht eigentlich erst konstituiert, dann hat er keinen Krankheitsstatus. Wenn überhaupt ist nicht er krank, sondern die Gesellschaft, gegen die er opponiert. Wann immer wir dagegen einen innersystemischen Standpunkt einnehmen, der entweder auf dem Gesichtspunkt der Machterhaltung oder der Verwirklichung einer geschichtsphilosophisch begründeten Wahrheit basiert, sehen wir uns gezwungen, Dissidenz entweder zu kriminalisieren oder zu pathologisieren. Dissidenz als Syndrom scheint eng mit dem Problem der “Spaltung” verschwistert. So sehr, daß das negative Urteil über Dissidenz nicht unbedingt den Machthabern selber überlassen bleibt. Es steckt auch in denen, die mit Gründen zu den Dissidenten zu zählen wären.

Einsamkeit der Differenz

Walter Janka, einer der herausragenden kritischen Köpfe der DDR-Intelligenz der 50er Jahre, beginnt seine Lebenserinnerungen, die als negativen Höhepunkt den Bericht seiner Verhaftung 1956 und nachfolgenden Verurteilung zu fünf Jahren Zuchthaus wegen staatsfeindlicher Opposition enthält, mit folgenden Worten:

“Der Bericht über mein Leben wurde vor 15 Jahren geschrieben. An eine Veröffentlichung war nicht gedacht. Denn zur Destabilisierung der DDR wollte ich nicht beitragen. Meine Absicht war die Veränderung der Verhältnisse: die DDR habe ich trotz meiner Kritik an diesem Staat und der Erfahrungen, die ich mit ihm gemacht hatte, als Alternative zur kapitalistischen Bundesrepublik für unverzichtbar gehalten. Ein DDR-Verlag hätte für ein solches Buch ohnehin keine Druckgenehmigung bekommen. Und wären meine Erinnerungen nur im Westen erschienen, hätte man mich als Dissidenten bezeichnet. Aber genau das wollte ich nicht sein. Zu keiner Zeit.” (Walter Janka, Spuren eines Lebens, S.9)

Janka, Sproß einer kommunistischen Familie, dessen Bruder von den Nazis ermordet worden war und der selber schon als junger Mann im KZ saß, nach gelungener Flucht sich als Spanienkämpfer auszeichnete und schließlich, aus dem mexikanischen Exil zurückgekehrt, Leiter der DEFA und später Chef des Aufbau-Verlags in der DDR wurde, blieb nach seinem Schauprozeß bis zum Ende des SED-Staats ein Stigmatisierter. Trotz alledem ist es ihm offensichtlich ein Greuel, als Dissident betrachtet zu werden. Im Westen zu veröffentlichen gilt ihm letztlich doch, gleichgültig wie wichtig das ist, was er mitzuteilen hat, als Verrat.1 Václav Havel, der sich am intensivsten theoretisch mit der Gestalt des Dissidenten auseinandergesetzt hat, läßt in einer selbstreflexiven Passage eine ähnliche Reserve gegenüber dem Begriff erkennen:

“Ob die Bezeichnung ‘Dissident’ die richtige ist, ist freilich sehr fraglich. Diese Bezeichnung wurde jedoch eingeführt, und wir können daran nichts ändern. Ab und zu übernehmen wir sogar selbst diese Bezeichnung, obwohl ungern, nur der Kürze wegen, eher ironisch, und entschieden immer in Anführungszeichen. Vielleicht wäre es jetzt angebracht, einige Gründe dafür aufzuzählen, warum die Dissidenten meistens nicht gerne hören, wenn sie so genannt werden. Erstens ist diese Bezeichnung schon etymologisch fragwürdig: Dissident bedeutet nämlich wie bekannt ‘Abtrünniger’ – die Dissidenten fühlen sich aber nicht als Abtrünnige, als Treulose, weil sie nämlich niemanden untreu geworden sind, eher umgekehrt: sie sind sich selbst mehr treu geworden. Falls sich manche doch von irgend etwas abgewandt haben, dann nur davor, was in ihrem Leben falsch und entfremdend war, also: von dem ‘Leben in Lüge’.” (22)

Die Vorstellung, daß Dissidenz etwas mit Treulosigkeit oder gar Verrat zu tun haben könnte, macht also in beiden Fällen den Kern der Ablehnung aus. Überzeugte Kommunisten wie Janka bleiben selbstverständlich “der Sache” lebenslänglich treu – auch wenn sie erkennen müssen, daß sie von der Führung nicht mehr oder falsch vertreten wird: Mögen doch die anderen sie verraten – sie selber werden sie niemals aufgeben, weil sie an ihrem Ideal festhalten. Menschen wie Janka, beeindruckend in ihrer Konsequenz, leben in einer gleich zweifach gespaltenen Welt, denn sie stehen in Opposition zu einer politischen Realität, die ihnen dennoch “im Prinzip” die Wahrheit repräsentiert. Diese Doublebind-Situation führt dazu, daß die Spaltung, die sie auf der politischen Ebene wahrnehmen und analysieren, unbemerkt ihre höchst persönliche Psychologie bestimmt. Als Kritiker ihres Regimes, dem sie doch insofern Treue schuldig sind, als es für die prinzipiell richtige Seite der Welt steht, können sie der strukturellen Schizophrenie kaum entgehen. Vor der “welthistorischen Alternative” der politischen Systeme erscheint jede weitere interne Differenzierung als luxurierend. Eine “persönliche” kritische Stellungnahme innerhalb dieser agonalen Spannung verliert für sie nie den Beigeschmack des Ephemeren und damit Illegitimen: Persönliche Differenzen haben zu verschwinden wie weiland Hegels Veilchen vor der Wucht des im Vernunftstaat vergegenwärtigten Weltgeistes.

Wer seine eigene Existenz fest in einer grundlegend gespaltenen Welt verortet, kann auch auf sich selber nur in Kategorien des Entweder-Oder schauen. Das eigene “Anderssein” wird dem weltanschaulich Treuen unterderhand zur “Abweichung”. Die basale Spaltung der Welt in eine prinzipiell richtige und eine prinzipiell falsche Seite richtet die existentielle systemische Alternative in der eigenen Person auf. Die Treueforderung wird zur kaum überwindbaren introjizierten “Gewissensnorm” des Systems. Die Denkfigur der “welthistorischen Alternative” ist zwangsläufig – das heißt unabhängig von jeder möglichen geschichtsphilosophischen oder politologischen Triftigkeit – totalitär: tertium non datur.

Der Satz vom “ausgeschlossenen Dritten” in der klassischen Logik ist die Stammformel der gesellschaftlichen Exklusion alles Nichtzuordenbaren: die auf die Gesetze des Denkens projizierte Grundfigur der Ausschaltung des “Fremden”. Ihm steht mit der Idee der “Triangulierung”, wie sie in der Freudschen Theorie erstmals ausgesprochen ist, eine “Formel der Befreiung” gegenüber, die den Fremden konstitutiv einschließt. Das Revolutionäre der Psychoanalyse, die wie keine zweite Wissenschaft den Begriff des Normalen in Frage stellte, besteht irritierenderweise darin, dem Fremden einen unverzichtbaren Platz bei der Konstitution von “Normalität” einzuräumen, in dem sie “den Dritten” zum Garanten gelingender Objektbeziehungen und der Konstitution der Lebenswelt macht. Die Psychoanalyse bindet alle Entwicklung explizit ans Prinzip des tertium datur.

Auch das Gewissen bildet sich erst dort, wo “der Dritte” inkorporiert wird: Ein “autonomes” Über-Ich entsteht, wo die Dyade als psychisches Regulationsprinzip überschritten wird. Das totalitäre Über-Ich hingegen hat eine prinzipiell “staatsanwaltschaftliche” und regressive Funktion: Es richtet eine an unmittelbare Strafängste anknüpfende dyadische Welt auf – und verhindert letztlich das, was das kommunistische Denken als höchstes preist: etwas “dialektisch” sehen zu können. Dialektik ist – per definitionem – die “Einbeziehung des Dritten” in die Denkbewegung zwischen den Extremen. Die Suspendierung von Dialektik zugunsten einer strikten Antinomik hingegen ist das Kennzeichen zweier Diskurse, die sich immer wieder berühren: dem des Politischen und dem der Paranoia. Wo sie – im Zeichen der Prinzipientreue – ineinander übergehen, steht das Opfer des Ichs auf der Tagesordnung. Der weltanschaulich Treue wird sich – das war das grausame Spiel der Moskauer Prozesse – immer wieder (und nicht nur, weil er Zwang und Folter ausgesetzt ist) fürdas System und gegen sich selber entscheiden. Er betrachtet die Spaltung selber als systemisch und errichtet damit, ob er das innerlich nachvollzieht oder nicht, eine Hierarchie zwischen System und Leben, die ihn im Konfliktfall gegensich Partei ergreifen läßt.

Die Verhaltensfigur “Dissidenz” kann als der Versuch betrachtet werden, das Dilemma der “weltanschaulichen Treue”, der “welthistorischen Alternative” und der doppelten Spaltung aufzulösen. Der Dissident, so wie Havel ihn als Typus, ja, durchaus in der Nachfolge Hegels als “welthistorische Gestalt” unserer Epoche vorführt, ist eine Art Gegenentwurf zur tragischen Gestalt des in nicht transzendierbaren Loyalitäten verstrickten (Links-) Oppositionellen vom Typus Janka. In dem er seine Treueforderung nicht an das “System” und, wie wir sehen werden, nur in eingeschränktem Sinne an das “Ideal” bindet, sondern auf sich selbst richtet, verschiebt er die Gravitationslinien des Konflikts. Die “Treue zum Selbst” schafft einen völlig neuen Bewertungsmaßstab und eine Änderung der Werthierarchie gegenüber der Weltsicht des weltanschaulich Treuen. Der Dissident stellt sich nicht primär der weltanschaulichen Frage nach der Richtigkeit der Systeme, sondern schränkt den Blick zunächst auf das ein, was der persönlichen Autonomie entgegensteht. Havel löst das Problem der doppelten Spaltung durch die harte Konfrontation einer “Welt der Lüge” mit einer möglichen “Welt der Wahrheit” in strikt lebensweltlicher Perspektive. Er verwandelt damit die doppelte Spaltung Jankas in eine einfache. Wenn die Treue zum Selbst höher bewertet wird als die “Systemfrage”, ist die Logik der doppelten Spaltung außer Kraft gesetzt und in den einfachen Antagonismus von System und eigenem Lebensentwurf zurückgenommen: Damit läßt sich leben – es ist die normale Bedingung moderner Gesellschaften. Sie setzt allerdings – was nicht selbstverständlich ist – die Existenz einer konturierten Lebenswelt voraus.

Havel beschreibt als dissidentes Urerlebnis seine “Entdeckung” einer genuinen Lebenswelt jenseits der ihm bekannten Kreise der “offiziell tolerierten Opposition”, der er sich selber zurechnet. Das Treffen mit Ivan Jirous, dem künstlerischen Leiter der Underground Band “Plastic People”, konfrontiert ihn mit dem authentischen “Lebensgefühl von Menschen (…), die von der Armseligkeit dieser Welt zerstört sind”: “Ich spürte auf einmal, daß die Wahrheit auf der Seite dieser Leute steht, wie sehr sie auch vulgäre Worte verwenden und wenn ihnen die Haare bis auf den Boden reichen.” (Fernverhör, 154) Erst in der radikalen Alternative des kulturellen Undergrounds wird ihm die Spannung nonkonformer Lebensformen zum System deutlich – und dessen notwendige Konsequenz, diese mit allen Mitteln zu unterdrücken; Mittel, die zugleich erkennen lassen, wie wenig “das System” die Differenz von “dissidenter Alternative” und “politischer Opposition” verstanden hat. Als die “Plastic People” kriminalisiert und verhaftet werden, notiert Havel:

“Hier wurde (…) nicht mehr mit politischen Gegnern abgerechnet, die in gewisser Weise wissen mußten, was sie riskieren, dies hatte nichts mehr zu tun mit dem Kampf zweier alternativer politischer Garnituren; es war etwas Schlimmeres: der Angriff des totalitären Systems auf das Leben selbst, auf die menschliche Freiheit und Integrität. Objekt des Angriffs waren keine Veteranen alter politischer Schlachten, es waren überhaupt keine Menschen mit politischer Vergangenheit (…), es waren junge Leute, die nur auf ihre Art leben wollten, die Musik spielen, die sie gern haben, singen, was sie wollen, in Übereinstimmung mit sich selbst leben und sich wahrhaftig äußern.” (Fernverhör, 156, Herv. d. A.)

Klar wird hier die Differenz von Dissidenz und politischer Opposition des klassischen Typs formuliert: Dissidenz als Form des lebensweltlichen Widerstands gegen Zumutungen des Systems transzendiert das gängige politische Handlungsmuster von Opposition im Zeichen eines Handlungsmodells, das wir als Identitätspolitik bezeichnen wollen.

In Übereinstimmung mit sich selber leben zu wollen ist ein basaler, jedenfalls vorpolitischer Wunsch. Politisiert wird er zunächst durch die Reaktion des Systems: Es produziert einen nahezu “natürlichen” Widerstand jener, die ihren Identitätswunsch nicht aufgeben wollen. Zur 0 wird dieser Widerstand, wenn er sich vom Einzelfall löst und “sich äußert”: Wenn der Wunsch nach Identität unabhängig von einem konkreten Projekt als das eigentliche Ziel des Handelns erkannt und öffentlich artikuliert wird. Dissidenz als Identitätspolitik ist das Aussprechen der Tatsache, daß der pure Sachverhalt Identität” unter den Bedingungen des Systems nicht möglich, ja eigentlich gar nicht vorgesehen ist.2

Dissidenz in diesem Verstande ist nicht die bloße Abkoppelung des eigenen Lebens aus einem vorgegebenen systemischen Schema, sondern die Veröffentlichung der zwingenden Notwendigkeit dieses Schritts. Der Preis dafür ist eine Moralisierung der Alternative von “Leben” und “System”, die in sich bereits den Kern eines neuen Paranoids trägt. Die Konfrontation beider in Form eines Antagonismus von Lüge und Wahrheit wiederholt in nuce die Entgegensetzung der politischen Großsysteme – und ist doch alternativlos, wenn man aus dem totalitären Zirkel ausbrechen will: Sie ist notwendig, um die aufgezwungene Spaltung überhaupt denkenzu können. Dies jedoch setzt die Veränderung des “Treueverhältnisses” voraus: die Notwendigkeit, sich selber treu werden zu können, ohne das “Selbst” immer schon in den Koordinaten eines vorgegebenen Kollektivs anzusiedeln. Havels Versuch, Dissidenz als “Leben in der Wahrheit” zu begründen, ist, als Abgrenzung vom “Leben in der Lüge”, nichts weniger als der Versuch einer Neubestimmung des Begriffs vom Menschen als Individuum. Dissidenz als Versuch, ein neues Selbst zu entwickeln, führt damit notwendig auf das Problem der Einsamkeit. Denn die “dissidentische Einstellung” hat, so sehr sie auf Gemeinschaften zielt und letztendlich ohne sie ohnmächtig bleibt, ihr Fundament doch im Vermögen, die totale Vergesellschaftung des Individuums für sich selber zu unterbrechen.

Kann man das bewußte Ausbrechen aus konformistischen Haltungen mit der von Winnicott hervorgehobenen Fähigkeit, mit sich selbst allein zu sein, in Verbindung bringen, so ist das damit verbundene Risiko die Einsamkeit. Richard Sennett unterscheidet drei verschiedene “Einsamkeiten in der Gesellschaft”:

“Wir kennen eine Einsamkeit, die von der Macht aufgezwungen ist. Das ist die Einsamkeit der Isolation, der Anomie. Wir kennen eine Einsamkeit, die bei den Mächtigen Furcht auslöst. Das ist die Einsamkeit des Träumers, des homme revolté, die Einsamkeit der Rebellion. Und schließlich gibt es eine Einsamkeit, die mit der Macht nichts zu tun hat. Es ist eine Einsamkeit, die auf der Idee des Epiktet beruht, daß es einen Unterschied gibt zwischen Einsamsein und Alleinsein. Diese dritte Einsamkeit ist das Gespür, unter vielen einer zu sein, ein inneres Leben zu haben, das mehr ist als eine Spiegelung des Lebens der anderen. Es ist die Einsamkeit der Differenz.” (In: Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch, S.27)

Man könnte die dissidentische Einstellung als das Integral dieser drei Einsamkeiten bezeichnen. Repräsentieren die beiden erstgenannten Arten der Einsamkeit die beiden Seiten des Machtverhältnisses, so die dritte, die Einsamkeit der Differenz, das neue Treueversprechen, die Trennung vom totalitären enteigneten Selbst. Die Einsamkeit der Differenz zu erleben bedeutet, sich der Einsicht zu stellen, das eigene Leben im Zweifel auf keine andere “Übereinstimmung” als der mit sich selbst bauen zu müssen – es aber auch zu können.3 Das lebensweltliche Treueversprechen der Dissidenz im Sinne Havels impliziert die entmythologisierende Kritik aller Ideale in dem Moment, wo sie selber Konformismus erzwingen und sich “vom Leben” entfernen.

Diese radikale Position des Selbstseins hat ihren entscheidenden Prüfstein an jenem Ideal, das beide, das “System” gleichermaßen wie die lebensweltlich opponierenden Dissidenten, für sich in Anspruch nehmen, das Ideal des Sozialismus. Es ist für alle Dissidenzpositionen von entscheidender Bedeutung, inwieweit sie in der Lage sind, sich der Magie des vom System verwalteten Sprachspiels zu entziehen. Die Magie des Projekts Sozialismus hat Menschen wie Janka immer wieder dazu genötigt, Realität und Wunsch miteinander zu verwechseln. Der NameSozialismus bezeichnet die wohl stärkste politische Kraftlinie des 20. Jahrhunderts. “Einsamkeit der Differenz” als psychische Position beinhaltet die Kraft zur Entmythologisierung von Namen. Havel, der sich lange Zeit als Sozialist bezeichnete und begriff, beschreibt als dissidenten Schritt sein Hinterfragen der Bedeutung des Worts Sozialismus: “Was ist das eigentlich, Sozialismus? Bei uns, wo wir von der sozialistischen Eisenbahn, vom sozialistischen Geschäft, von der sozialistischen Mutter oder der sozialistischen Poesie lesen können, bedeutet dieses Wort nichts anderes, als Loyalität zur Regierung.” (15)

Man versteht, daß die radikale Entmythologisierung des Worts zur Einsamkeit des Dissidenten gehört, der doch seine politischen Ziele dareinsetzt, die persönliche Übereinstimmung als “kollektives Ideal” zu formulieren. Erst mit dem Fall des Sozialismus als “verbindliches”, das heißt vom System undseinen Kritikern geteiltes Ideal, ist die Verbindung zur gegebenen politischen Welt des Systems endgültig zerstört.4 Im Westen hat man das vorschnell mit der Übernahme einer “antikommunistischen Position” verwechselt, die dem systemischen Antikommunismus des westlichen Bündnisses entsprach – und nicht zuletzt deshalb jedes Dissidententum unterstützt. Für den Dissidenten Havelschen Typs hat der Angriff auf das Wort Sozialismus hingegen die primäre Bedeutung, eine untergründige Identifikation mit dem System zu lösen. Václav Havel, für den Sozialismus “eher eine menschliche, sittliche, eine Gefühlskategorie”(16) ist: Ausdruck einer Haltung, die bedeutet, “auf der Seite der Unterdrückten und Erniedrigten” zu stehen, faßt das in der lapidaren Paradoxie: “Ein solcher ‘Gefühls’ – oder ‘sittlicher’ Sozialist war also auch ich – und ich bin es bis heute, nur mit dem Unterschied, daß ich meine Haltung nicht mehr mit dem Wort bezeichne.”(16)

Im Westen wurde diese Haltung weder bei den Machthabern noch auf seiten der Linken wirklich verstanden. Die Entmythologisierung des Worts, die es erlaubt, sich von ihm zu trennen, ist ein Akt der Autopoiesis, der Trennung von einer falschen Gemeinsamkeit mit dem System. Ein Akt, mit dem fatale Ähnlichkeiten abgeworfen, Vernebelungen durchstoßen werden:5 Es ist der Versuch, das System in seiner ganzen unauffälligen, alltäglichen Kohäsion abzuwerfen: “Das System klebt mir an der Haut”, sagt György Konrád. “Ich trage den Konfektionsanzug der ostmitteleuropäischen Standardpersönlichkeit.” Dissident werden heißt, diesen Anzug zu wechseln: Keine Konfektion, sondern Maßschneiderei ist angesagt. Es geht darum, sich selber als “unverwechselbar” zu setzen.

Die Geburt des Dissidenten

Dieser Versuch konnte nicht zu allen Zeiten gemacht werden. Dissidenz sensu Havel wurde erst möglich, nachdem das “Projekt Kommunismus”6 selber einer Entmythologisierung unterlegen war, die nichts mit seiner Diskreditierung durch “die andere Seite”, die kapitalistische Welt, zu tun hatte. Jankas Zurückweisung des Dissidentischen ist durchaus Ausdruck einer Generationserfahrung: die Erfahrung jener in der Spaltung Eingemauerten, die selbst den Stalinismus noch als Teil des großen Projekts zu rechtfertigen sich gehalten fühlten. Walter Janka beschreibt, wie er sich in der Haft die Frage nach dem Zusammenhang seiner Existenz mit dem Sozialismus vorlegt, wie Loyalität mit Treue gegenüber dem Ideal des Sozialismus zu verbinden sei und wie er sich damit immer wieder in für ihn unlösbare Widersprüche verrannte.

“Die Einsamkeit, die unmenschliche Behandlung, die ewige Kälte zwangen mich, ständig darüber nachzudenken, ob ich der Partei noch einmal folgen konnte, die mich zu einem so unwürdigen Leben verurteilt hatte. Bis ich darauf Antworten fand, war ein langer Streit mit mir selbst auszutragen. Ich begann, Gott und die Welt zu verfluchen. Nie zuvor war ich so verbittert wie in dieser elenden Zelle, in der ich täglich 24 Stunden über meine Vergangenheit und Zukunft nachdenken mußte. Ich wollte und konnte nicht begreifen, warum sie mich so behandelten. Ich hätte es auch dann nicht begriffen, wenn ich schuldig gewesen wäre. Tausend Fragen drängten sich auf. Das ganze Gebäude meiner so festgefügten Gedankenwelt brach zusammen. Ich stand vor einem wüsten Trümmerhaufen wie nach einem verlorenen Krieg. Aufgeben oder neu beginnen. Das war die Frage. Und sie blieb es bis zum letzten Tag.” (S.406)

Das “neu beginnen” ist durchaus nicht so persönlich gemeint, wie es klingt.
“Um neu zu beginnen”, schreibt Janka weiter,

“muß man das Alte überwinden. Was nicht von selbst stürzt, muß abgetragen werden. Aber mit dem Abtragen ist es ja nicht getan. Man muß auch wissen, worin das Neue besteht, wie es zu machen ist. Heute glaube ich, daß dieses Nachdenken um das Was und Wie mir die Kraft gab, diese Jahre durchzustehen. Was mein Selbstbewußtsein betrifft, sogar gefestigt daraus hervorgegangen zu sein. Wäre es anders gewesen, hätte ich fortgehen müssen, als sich die Gefängnistore wieder öffneten. So wie es viele taten, die Ähnliches oder Schlimmeres erlebten.” (ebd.)

Janka blieb. Er beschreibt die Jahre der Erniedrigung und Einsamkeit als Purgatorium von “Illusionen” und Anfechtungen. Am Ende kehrt er “geläutert” zum Ursprung zurück:

“Altes Denken, das noch tief verwurzelt war, mußte erst wie Unkraut ausgemerzt werden. Dabei versuchte ich immer wieder, mein sozialistisches Gedankengut nicht aufzugeben. Und aus Furcht vor dieser Gefahr schob ich die Auseinandersetzung mit mir und meiner Partei immer wieder hinaus.”(415)

Janka beschreibt eine Selbstreflexion ohne Selbst – und die durch diesen Mangel ewig verschobene Auseinandersetzung mit der Instanz, die die Individuation, die zur Kritik notwendig wäre, systematisch hintertreibt. Er gibt sich in diesen Überlegungen als typischer “Linksoppositioneller” innerhalb des sozialistischen Lagers zu erkennen – und ergänzt damit seine Ablehnung, als Dissident eingestuft zu werden, durch das Bekenntnis seiner konstitutionellen Unfähigkeit, einer zu werden.

Tatsächlich war Dissidenz in seiner Generation keine gegebene Option. Dissidenz als mögliche Option taucht historisch erst in dem Augenblick auf, als die tödliche “weltgeschichtliche Alternative” zwischen “Kommunismus” Stalinscher und “Faschismus” Hitlerscher Prägung in die zwischen Kommunismus und Kapitalismus zurückgenommen war. Jankas Generation mag den Stalinismus gehaßt haben: ihn vom “Projekt Kommunismus” zu lösen, hat sie nicht vermocht. Insofern blieb die Bindung an die eine Seite der Alternative zwangsläufig bestehen – die Treue zum Ideal koinzidierte mit der Loyalität gegenüber dem System. Für diese Position war die Einsamkeit der Differenz nicht politisch artikulationsfähig. Wenn am System das “Gebäude der eigenen Gedankenwelt” zusammenbrach, dann war das eine persönliche Niederlage, nicht aber der Gründungsakt einer Existenz, die ihre Identität im Bruch mit dem System hätte behaupten können. Als einzige Alternative blieb, wie es Janka ja auch formuliert, der physische Wechsel der Seiten. Die Angehörigen der Generation, die den Nationalsozialismus als die eine Seite der Welt erlebten (und damit die andere, wie immer sie real aussehen mochte, nahezu automatisch moralisch “sanierten”), hatten keine wirkliche Chance, die Spaltung der Welt noch durch eine innerhalb ihrer eigenen Lebenswelt und politischen Option zu verschärfen. Eine Alternative zur Treue konnte es so lange nicht geben, wie jede Alternative als Verrat bestimmt war. Verrat hieß, mit der Sache auch sich selbst zu verlieren. Dieses Selbst jedoch war politisch nicht individualisiert.

Als sich der Systemgegensatz auf den von Kommunismus und Kapitalismus reduzierte, das heißt, als an die Stelle einer tödlichen Alternative die einer weltanschaulichen, technischen, ökonomischen, moralischen Konkurrenz trat, konnten sich auch die kritischen Geister innerhalb der Lager neu orientieren. Der 20. Parteitag der KPdSU, mit dem erst die Bezeichnung “Stalinismus” auch im Osten zur Metapher für entgrenzte Gewaltherrschaft wurde, bedeutete einen Schlußpunkt hinter der eschatologischen Weltenkonfrontation: er war die entscheidende Bresche für eine Distanzierung von einem System, das nun mit der Lüge identifiziert werden konnte, und damit die manichäische Spaltung von wahr und falsch entschieden zur Kritik stellte. Die Systemkonkurrenz des kalten Kriegs war etwas anderes als die “welthistorische Alternative” der Stalinzeit. Die Geburt des Dissidenten wurde erst in der poststalinistischen Welt möglich. Nicht nur, wie es prima vista scheint, im Osten. Der 20. Parteitag war ein Musterbeispiel von Aufklärung – ungeachtet der Tatsache, daß er unmittelbar mit dem Selbsterhaltungskalkül der neuen Führung verknüpft war. Die Kritik am Stalinismus hat die Opposition gegen ihn nachträglich legitimiert – und damit zum ersten Mal auf die Tagesordnung der kommunistischen Welt die Möglichkeit einer Opposition gesetzt, die nicht “Agent der anderen Seite” ist.

Dieser zeitlichen Situierung entspricht Václav Havels Versuch, das Phänomen der Dissidenz historisch und systematisch zu verorten. Das “Gespenst” des Dissidententums ist ihm zufolge “ein natürlicher Ausdruck und eine unvermeidliche Konsequenz der gegenwärtigen historischen Phase des Systems, in dem es umgeht. Es wurde aus seiner gegenwärtigen Situation geboren, denn dieses System basiert seit langem nicht mehr auf reiner und brutaler Machtwillkür (…); andererseits jedoch ist es schon solchermaßen politisch statisch, daß es fast unmöglich scheint, einen Ausdruck des Nonkonformismus auf die Dauer in seine offiziellen Strukturen einzubringen”. (9) Dissidenz ist demnach ein Phänomen jener “posttotalitären Systeme”,7 die sich nach dem Stalinismus in Osteuropa stabilisiert haben. Es entspringt der Differenz zwischen den Intentionen des Systems und den “Intentionen des Lebens” (16). Dissidenz ist als Verteidigung dieser Intentionen und damit als “Verteidigung des Menschen” an den Akt der “Überschreitung” gebunden, mit dem sich der Mensch als etwas zu erkennen gibt, das in der Logik des Systems nicht aufgeht. Insofern ist Dissidenz als Akt der Überschreitung der präziseste Ausdruck für die eigentliche Krise: “die Krise der Identität selbst”. (26) Gerade deshalb sei das Phänomen Dissidenz auch nicht strikt auf den Bereich der poststalinistischen Gesellschaften zu beschränken. “Sind wir nicht eigentlich – auch wenn wir nach den äußerlichen Wertskalen der Zivilisation so tief im Rückstand sind – in Wirklichkeit eine Art Memento für den Westen, in dem wir ihm seine latenten Richtungstendenzen enthüllen?” (26) Dieser universalistische Ansatz unterscheidet Dissidenz grundlegend von Oppositionsbewegungen innerhalb des sozialistischen Lagers, wie sie von der Generation Jankas repräsentiert wurde, auch wenn dessen Gedanken in eine ähnliche Richtung gehen.

“Identitätspolitik”

Havels Zug, Treue gegen Loyalität zu setzen: das Selbst und seine Lebenswelt gegen das System, um die “Krise der Identität” überhaupt thematisieren zu können, ist, wie gesagt, im Westen kaum verstanden worden. Vielleicht deshalb, weil sich, gerade auf seiten der Linken, das Identitätsproblem dramatisch verschoben hatte. 1980, als Havels Überlegungen zum Dissidententum im Westen erschienen, war das wahrscheinlich ödeste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu Ende gegangen.8 In Westdeutschland war es, für die neu konstituierte “Linke”, die Zeit, in der man gehofft hatte, die Früchte der Revolte der 60er Jahre zu ernten. Statt dessen wurde es das erste “sozialdemokratische” Jahrzehnt: eine Zeit, in der neben überfälligen außenpolitischen Normalisierungsschritten innenpolitische Neuerungen durchgesetzt wurden, mit denen erstmals seit “Blitzkrieg” und “Fräuleinwunder” deutsche Wörter wieder im Original Eingang ins internationale Vokabular fanden: “Le Berufsverbot” stand für die Hilflosigkeit der sozialdemokratischen Regierung, ihr Versprechen nach mehr Demokratie anders als über eine “Parlamentarisierung der Öffentlichkeit” einlösen zu können. Die sozialliberale Koalition war de facto der erste Versuch einer Politik der “neuen Mitte” :eine Mitte links von der abgewirtschafteten “Volkspartei” CDU, die die Basis für ein neues, ein sozialdemokratisches “Modell Deutschland” abgeben sollte. Zu diesem Konzept gehörte, die erstmals auf breiter öffentlicher Basis artikulierte, nicht auf Randorganisationen wie die alte bundesrepublikanische KPD oder ihre Neugründung beschränkte Linke zu integrieren oder radikal abzuspalten. Niemand hätte diese Aufgabe besser, das heißt mit mehr “moralisch-politischer Legitimation” wahrnehmen können als die SPD des ehedem “ultralinken”, von den Nazis in die Emigration getriebenen Willy Brandt.

Mit Beginn des sozialdemokratischen Zeitalters stellte sich der westdeutschen Linken die Frage nach dem Status von “Opposition” neu. Ließ sich die Rebellion der 60er Jahre, die genuin dissidentischen Motiven entsprungen war, bzw. wie ließ sie sich fortsetzen? Die Alternative von Radikalopposition und Teilnahme am Reformmodell sozialdemokratischer Modernisierung, das nun zum Staatsinhalt geworden war, war eine gänzlich andere als jene, die sich den Dissidenten im Osten stellte. Die Westler standen nicht in Opposition zu einem System, das ihnen die Bürgerrechte vorenthielt. Aber sie hatten durchaus das Gefühl, vom “System” erdrückt oder korrumpiert zu werden: von einem System, das keineswegs einfach identisch mit der Regierung oder dem Staat war, sondern sich als ein komplexes, überdeterminiertes Gebilde darstellte, ein System, das man, um es zu verstehen, aus der Perspektive der “Potentialität” zu betrachten hatte. Die Revolte der 68er im Westen hatte sich gegen eine historisch-politische Mischgestalt gerichtet: gegen eine vergangene Diktatur, die sie in Teilen “ungebrochen” fortgesetzt und, was schwerer wog, “in neuer Form” wiederkehren sahen. “Das System”, das auch den 68ern durchaus “an der Haut klebte”, war nicht die Demokratie der jungen Bundesrepublik, sondern die zur Staatsmacht geronnene, parteienübergreifende konservative Herrschaft, die sich – aus ihrer Perspektive – in entscheidenden Dimensionen noch nichtvon der NS-Vergangenheit gelöst hatte, aber schon wiedermit der Errichtung eines autoritären Staates drohte. Die von der ersten “großen Koalition” der Republik verabschiedete Notstandsgesetzgebung wirkte auf die Linke wie die eiserne Klammer zwischen der NS-Vergangenheit und einer Zukunft, die einen “neuen” – technokratisch verfeinerten und demokratisch verbrämten – “Faschismus” bereithielt. “Das System”war ein Zeitmoloch, ein vielgestaltiger Wechselbalg, der sich verschiedenen Formen anpassen konnte. Der Regierungswechsel zur sozialliberalen Koalition schien der sicherste Beweis dafür. Was war dem entgegenzusetzen?

Für diejenigen, die am sozialdemokratischen Reformprozeß nicht mitwirken wollten, gab es in den 70er Jahren im wesentlichen drei Antworten.
Die erste war, “die Partei aufzubauen”. Es gab viele Parteien gleichen Typs, in denen die Größenphantasien der Angst das alte Programm der “welthistorischen Alternative” wiederauflegten – im Miniaturformat, aber mit einer exakten Kopie jener Hoffnungen, Zwänge und Illusionen, die die Generation eines Walter Janka ausgezeichnet hatten: Man stand wieder am Ende einer kurzen demokratischen Episode in Deutschland. Und vor der Tür stand “der Faschismus”.

Die zweite Antwort gab der “bewaffnete Kampf”. Gegen das “Schweinesystem” half nur Terror. Diese – die “konsequenteste” – Antwort war auch die traumatischste: Sie löste das Problem, das System an der Haut zu spüren, damit, die eigene Haut preiszugeben – und, vor allem, die Haut der anderen. Das Ende war zwangsläufig tödlich – so oder so.

Die dritte Antwort war ein vielgestaltiger “revolutionärer Reformismus”, das heißt die Politik meist kleiner und regionaler Gruppen und Organisationen, die für sich gern das Attribut “undogmatisch” in Anspruch nahmen, sich nicht – wie die beiden ersten Entwürfe – als “Gegenmacht” mißverstanden, aber doch mehr zu sein beanspruchten als “Einpunktbewegungen”: Sie unterschieden sich damit von Bürgerinitiativen, nahmen aber wie diese häufig ihren Ausgangspunkt von “lebensweltlichen” Perspektiven.

Am Ende der 70er hatten sich die beiden ersten Versuche de facto verbraucht, der revolutionäre Reformismus dagegen zu einer Form gefunden, die die westliche Gestalt von Dissidenz zur Kenntlichkeit brachte: symbolische Politik, das heißt, ein politisches Handlungsmuster, das die Frage der Macht ausgeklammert hatte, als “Identitätspolitik” zu inszenieren.

Die aus dem Osten strömende Botschaft von Dissidenz als Notwehrreaktion des Lebens gegen das System, als Frage der Treue zu sich selber im Zeichen der Identität, wurde zur Universalie einer systemübergreifenden “Antipolitik”. Mit dieser Inszenierung ging die Substanz westlicherDissidenz verloren. Die 70er Jahre erscheinen heute wie ein Transformationsprozeß, in dem gewaltsam eine kurzfristig aufflackernde legitime Form dissidenten Verhaltens als mögliches Ferment einer “Zivilgesellschaft im Werden” zerrieben wurde. Die 70er Jahre stehen auch für eine seltsame – wenn auch nur sehr partielle – “Angleichung” der Systeme in West und Ost. Der von Havel als conditio sine qua non für Dissidenz bezeichneten Öffnung des stalinistischen Systems stand in Ländern wie der Bundesrepublik eine “innere Aufrüstung” gegenüber, die zumindest geeignet war, Phantasien von einer Entwicklung zum “autoritären Staat” Nahrung zu geben.

Es wäre eine grobe Verzeichnung der Realität, dies “konvergenztheoretisch” zu deuten. Es geht allein darum, auf der Grundlage der Havelschen Überlegungen den Dissidenzbegriff historisch und “politologisch” wenigstens soweit einzugrenzen, daß es möglich wird, die ihm zuzuordnende psychische Position, die er repräsentiert, zu diskutieren, und zwar gerade im Hinblick auf die so offensichtlich vermiedene Ost-West-Konstellation, den möglichen Vergleich “dissidenter Positionen” in Ost und West.

Nach unserem Verständnis entstand die Möglichkeit zu dem, was wir als Dissidenz bezeichnen, zeitlichnach der Entstalinisierung, historischmit dem Ende der “welthistorischen Alternative” und psychologischmit dem Bewußtwerden und der praktischen Infragestellung der ihr korrespondierenden Spaltung. Dissidenz als “Identitätspolitik”, das heißt als Ausdruck eines Treueversprechens zu sich selber, entstand in der Nachfolge der totalitären Erfahrung des 20. Jahrhunderts. Oder anders und zugespitzt gesagt: Dissidenz als politische Position wird dort möglich, wo sich für Andersdenkende gegenüber dem “System” das Problem des Überlebensin die Frage nach einer individuell wie kollektiv sinnvollen Form des Lebenszurückgenommen hat. Dies gilt, mutatis mutandis, für Ost- undWestdeutschland.

Die unaufhebbare Differenz liegt freilich auf der Hand: Wer “im Osten”sich widerständig verhielt, ging ein erheblich größeres Risiko ein als diejenigen, die im Westen die Möglichkeiten der parlamentarischen Demokratie nutzten – auch wenn sie vorhatten oder vorgaben, sie abschaffen zu wollen. Ostdissidenten hatten keinen Schutz, der ihnen aus garantierten Rechten ihrer jeweiligen Regime erwachsen wäre: ihre “Garantien” waren im Westen, das heißt, im Fall einer gewissen Prominenz, die westliche (Medien-)Öffentlichkeit und, intern, der Zusammenhang ihrer Gruppe. Ostdissidenten riskierten etwas – mehr jedenfalls als diejenigen, die als Zeichen ihrer radikalen Opposition zum “System” im Westen nicht nur protestierten, sondern Gesetze brachen. Erst die wirklichen Aussteiger aus dem parlamentarischen Spiel, die Vertreter der terroristischen Linie des bewaffneten Kampfs, setzten sich im Westen ähnlichen Risiken aus wie Systemkritiker im Osten: mit Strafen bedroht zu werden, die “das Leben unterbrachen” und eine autonome Gestaltung der Biographie zerstörten. Der Unterschied von Totalitarismus und Demokratie läßt sich, bezogen auf die Artikulation alternativer Politikvorstellungen und Lebensentwürfe, auf die einfache Formel bringen, daß man damit im einen Fall bereits jenseits der Grenze stand, die durch Akte staatlicher Verfolgung geschützt werden sollte, während man im zweiten damit die Elastizität der Grenze austestete. Die Differenz beider Systeme läßt sich anhand der von Carl Schmitt begründeten genuinen politischen Unterscheidung skizzieren: der Freund-Feind-Setzung, gerade im Fall der “innerstaatlichen Feinderklärung”. Ein Staatswesen wie das der DDR, das im konstitutionellen Zwitterbewußtsein eines “sozialistischen Rechtsstaates” als “Diktatur des Proletariats” lebte, das zudem noch als “vorgeschobener Posten” in unmittelbarem geographischen Kontakt zum feindlichen System stand, pflegte eine völlig andere Vorstellung “des Feindes” in den eigenen Reihen als die alte Bundesrepublik Deutschland. Die dichotomisierte Struktur des Denkens in Klassen und Lagern trug dazu bei, die Grenze der Selbsterhaltung als Staat, der nicht nur von einzelnen nationalen Gegnern, sondern von einem übermächtigen Kontrahenten im Weltmaßstab bedroht schien, auch innenpolitisch eng zu setzen. Deshalb konnte in der DDR mit immanent guten Gründen jemand auch auf der Ebene des innerstaatlichen Handelns als Feind gesetzt werden, der in der BRD noch lange Zeit unter dem Vorbehalt des Opponenten oder Kritikers stand. Die dem System eigene Paranoia ersetzte gewissermaßen den Aufwand an sozialer Stigmatisierung, der im Westen getroffen werden mußte, um Opponenten zu Feinden zu machen.

Der 1972 erschienene Band “Staatsfeinde”, der die “innerstaatliche Feinderklärung in der BRD” mit psychologischen Mitteln analysiert, zeigt (abgesehen davon, daß er sich heute zu Teilen eher wie ein Manifest des Ausstiegswunsches der Linken denn als die Verteidigung verfassungsmäßig garantierter Positionen liest) paradigmatisch die Differenzin der in beiden Fällen gegebenen Asymmetrie zwischen Mehrheitsgesellschaft/Staat und Opposition. Die Analyse der sozialen Stigmatisierung als Vorform einer möglichenFeindsetzung aus der Perspektive ihrer mutmaßlichen Opfer enthält eine virtuelle Umkehrung der Perspektive. Auch wenn es “nur” in Form einer Publikation geschieht: Es gibt die prinzipielle Möglichkeit einer “Gegenerklärung”, das heißt, das klassische Mittel “des Politischen” gilt nicht nur für die eine der konfligierenden Parteien. Auch wenn die realen Machtmittel die Asymmetrie aufrechterhalten: Die Möglichkeit, den Staat “zum Feind zu erklären”, das heißt, ihn öffentlich mit einer Analyse zu konfrontieren, die ihm sein politisches Verhalten spiegelt, bedeutet, ihm das Monopol des Politischen streitig zu machen. Diese Möglichkeit spielt eine entscheidende Rolle für die Frage nach dem Zusammenhang von “Abweichung” und politischem Widerstand. Der Dissidenzbegriff bietet sich dafür an, ihn jenseits politologischer Verkürzungen zu denken, weil er als einziger der “Widerstandsbegriffe” geeignet scheint, das Kontinuum von Realität und Phantasie zu bezeichnen, in dem sich Biographie und Geschichte überschneiden und überlagern: das Kontinuum von Gegenentwürfen, Träumereien, Verletzungen samt dem Versuch ihrer Kompensation und Größenphantasien auf der einen und rationaler Analyse, Denken in Kategorien von Macht und Chance, Vorstellungen von Organisation und Disziplin auf der anderen Seite, das sich den Namen “Alternative” gibt. Dissidenz scheint uns der einzige Terminus, der in der Tat die Stigmata von Krankheit und Ausschluß mit den Qualitäten von Anderssein als politischem Entwurf verknüpft. Versteht man den Terminus “Syndrom” im Wortsinne: als “das, was zusammenläuft”, dann wäre Dissidenz als Syndrom zu bezeichnen. In der Dissidenz verschränken sich psychologische, soziale, politische, historische Tendenzen in einer Form, die bei aller Differenz, etwa zwischen der alten BRD und der DDR, die Einheit des Utopischenals politischen Handlungsgrund kenntlich werden läßt. Dissidenz ist ein Syndrom aus den intimsten und “irrationalsten” wie den rationalsten, auf Öffentlichkeit drängenden Regungen, zu denen Menschen fähig sind: ein Wechselbalg von Pathologie und Interesse, Wunsch und Kalkül. Das mag im Prinzip für alle Politik gelten. Im Fall der Dissidenz ist es jedoch an die Fähigkeit des “Nein-sagen-Könnens” gebunden, in dem Klaus Heinrich die essentielle Bestimmung des Menschen sieht und René Spitz den Beginn jeder Individuation. Es ist diese Mischung, die den Dissidenzbegriff interessant macht: das Zusammengehen von Phänomenen, die üblicherweise in verschiedenen wissenschaftlichen Sparten abgehandelt werden.

Mit gutem Recht wehrt sich jeder politische Mensch dagegen, seine rationalen Optionen psychologisch ausgedeutet zu sehen. Politik und Psychologie sind nicht ineinander überführbar. Aber kein politisches Handeln ist auf das Netz von Zwängen reduzierbar, das sich erst aus der Logik des Politischen ergibt. Will man den Typus “politisches Handeln” nicht a priori auf den Modus der Uneigentlichkeit selbsterzeugter Prozeßlogik einschränken, das heißt, den – je nach politischem System – typischen Modus der Vertretung von Interessen, muß man die Elemente in den Blick nehmen, die vor diesem Feld liegen. Psychoanalytisch gesprochen hieße das, den Wunschzu verstehen und zu analysieren, der hinter dem Handeln steht. Das ist am Normalfall des politischen Handelns als “zweckrationalem” kaum einzuholen. Max Webers “Politik als Beruf” kann man als die konzise Beschreibung der Zwänge des Politischen lesen, die sich jenseitsder Entscheidung, überhaupt dieses Feld zu betreten, entfalten. Der Normalfall politischen Handelns in Demokratien folgt einer Logik, die die Imperative des Feldes retrospektiv auf ihre “Motivation” bezieht. Dissidenz bezeichnet die Ausnahme. Dissidentes Handeln ist nicht zweckrational, sondern im Kern idiosynkratisch, so sehr es auch an rationale Entwürfe anknüpft. Der Typus des Dissidenten ist insofern tatsächlich eine Art Archetyp: der Neinsager, der sich nicht als Idealist mißversteht, sondern einen Antrieb gelten läßt, der jenseits aller Politik sein eigentliches Movens ist: etwas nicht ertragen zu können. Dieses gesinnungsethische Motiv bildet den Urkomplex des Dissidenten.

Literatur

Leon de Winter, Hoffmans Hunger, Zürich 1994.

G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Werke Bd. 10, Frankfurt am Main 1970.

Walter Janka, Spuren eines Lebens, Berlin 1991.

Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Reinbek 1980.

Ders., Fernverhör, Reinbek 1982.

Michel Foucault, Von der Freundschaft. M. Foucault im Gespräch, Berlin o. J.

Max Weber, Politik als Beruf, in: Politische Schriften, Tübingen 1958.

Peter Brücknerund A. Krovoza, “Staatsfeinde”, Berlin 1972.

Vorabdruck aus C. Schneider, A. Simon, H. Steinert, C. Stillke, Identität und Macht. Dissidente Lebensläufe in Ost- und Westdeutschland.

Als man dem bekanntesten Dissidenten der DDR, Robert Havemann, 1973 die beiden Fragen vorlegte, warum er erstens trotz Arbeits- und Publikationsverbot in der DDR bleibe und zweitens als Kommunist in westlichen Publikationsorganen veröffentliche, gab er eine Antwort, die scheinbar Janka widerspricht - und doch nur das von ihm vorgegebene Schema variiert: "Beide Fragen hängen eng zusammen, so eng, daß man sie überhaupt nicht getrennt beantworten kann.(...) Im Westen könnte ich mich weder für die DDR einsetzen, noch Kritik an ihr üben, ohne in einen falschen Geruch zu kommen.(...)Wenn ich die DDR verließe, würde ich alle meine Freunde hier sehr enttäuschen. Und das Schlimmste wäre nicht einmal die Enttäuschung, die sie über mich empfänden; schlimmer wäre, daß ich ihren Zweifeln an unserer guten Sache Vorschub leisten würde. Weil aber von diesen Menschen, die in den sozialistischen Ländern leben und den Glauben an den Sozialismus nicht verloren haben, die Zukunft abhängt, ist es wirklich Verrat, wenn man ohne dringende Not hier einfach wegläuft." (H. Jäckel, Hrsg.: Für Robert Havemann, München 1980,S.194 f.) Die Variation gegenüber Janka besteht darin, daß Havemann den Sachverhalt des "Verrats" ein wenig weiter faßt: Was diesem die Publikation im Westen ist für Havemann erst mit dem leiblichen Wechsel der Seiten gegeben. Ansonsten folgten beide dem Schema der "weltanschaulichen Treue" im Systemvergleich.

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß Havels "Dissidenztheorie" in vielen Punkten Parallelen zur zeitgleich entstandenen von Habermasaufweist, die den Konflikt zwischen Lebenswelt und System als entscheidendes Strukturmerkmal moderner Gesellschaften analysiert: mit Blick, wohlgemerkt, auf die westlichen Gesellschaften.

Havel hat einen Begriff davon, wenn er formuliert: "Das posttotalitäre System führt einen globalen Angriff gegen den Menschen, der ihm gegenübersteht: allein, verlassen und isoliert." (, 59).

Für die Westlinke war es verhängnisvoll, die Rede vom "real existierenden Sozialismus" zu dulden oder zu adoptieren. Die Äquivokation hat eine unbewußte Loyalitätsbindung geschaffen, deren destruktive Wirkung noch heute verleugnet wird.

Havel weist ausdrücklich darauf hin, daß die Aufgabe des Worts "Sozialismus" nicht etwa mit einer radikalen Wandlung seiner Ansichten zu tun habe:"Mir ist nur klargeworden, daß dieses Wort eigentlich gar nichts mehr bedeutet und daß es meine Ansichten eher vernebeln kann als deutlich machen."(15).

Dieses "Projekt Kommunismus" das Ideal "Sozialismus" immer mit ein. Je nach Sprachspiel ist das eine jeweils Etappe oder Ziel des anderen. Da wir keine politologische Darstellung anstreben, soll die Rede vom "Projekt" lediglich die Vermischung von Realität und Wunsch oder Utopie anzeigen.

Mit dem Epitheton "posttotalitär" will Havel anzeigen, daß es sich m eine "grundsätzlich andere Art" des Totalitären handelt als in den klassischen Diktaturen.

Niemand hat das besser kommentiert als eine Kultfigur der 60er Jahre: "Die 70er Jahre", sagte John Lennon, "waren beschissen". 1980 wurde er erschossen.

Published 19 April 2001
Original in German
First published by Mittelweg 36

Contributed by Mittelweg 36 © Christian Schneider / Mittelweg 36 / Eurozine

PDF/PRINT

Published in

Share article

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Discussion