Territorialismus und Globalismus

Die beiden neuen "Parteien" in den heutigen Demokratien

Im Folgenden soll gezeigt werden, daß die wichtigste politische Trennungslinie in Europa und Nordamerika heute zwischen zwei politischen de facto-Koalitionen verläuft: Nennen wir sie die Partei der Globalisierung und die Partei der Territorialität. Die erste sucht die geographischen Grenzen zu überwinden, die zweite, sie zu restaurieren. Diese beiden Gruppierungen fallen jedoch nicht mit den traditionellen politischen Parteien zusammen, wie wir sie geerbt haben. Genau genommen handelt es sich nicht um Parteien, sondern um Mentalitäten und Wähleraffinitäten. Um es mit einer Metapher aus der Computerwelt zu umschreiben: Es handelt sich um virtuelle Parteien. Sie stehen quer zu den heute existierenden organisierten Parteien, so daß sich in jeder der klassischen politischen Formationen Anhänger der neuen “Parteien” finden. Wir wollen insbesondere den Fragen nachgehen, warum und wie sich diese Wähleraffinitäten herausgebildet haben, wie sich die neuen Parteien zu den alten verhalten und was die Folgen für die westlichen Demokratien sein könnten.

Prämisse: Die historischen Ideologien haben sich überlebt

Die Entstehung der beiden Parteien erklärt sich aus zwei miteinander zusammenhängenden Hauptfaktoren. Der erste besteht in einem umfassenden politischen Umbruch, namentlich aus der Erschöpfung eines Politikmodells, in dessen Mittelpunkt die Rolle der arbeitenden Klassen in den Industriegesellschaften und für die Schaffung des modernen Wohlfahrtsstaats stand. Das politische System der Nachkriegsgeneration – die Konfrontation zwischen den sozialdemokratischen Parteien, die für die Ausweitung des Sozialstaats eintraten, und den christdemokratischen oder unternehmensorientierten Parteien, die die Rolle des Privatkapitals betonten – hatte Anfang der achtziger Jahre effektiv ausgespielt. Die politische Nachkriegsprogrammatik der Linken stammte noch aus dem Kampf gegen Faschismus und Arbeitslosigkeit in der Zwischenkriegszeit. Um die Wende zu den achtziger Jahren verlor die historische Linke nach fünfzigjährigem sozialdemokratischen Kampf ihren ideologischen Zweck, und zwar nicht etwa, weil sie scheiterte, sondern weil sie weitgehend Erfolg hatte.

Was man als Erfolg betrachtet, ist natürlich relativ. Hier bedeutet er die institutionelle Verankerung des Wohlfahrtsstaats und wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Aufrechterhaltung eines hohen Beschäftigungsniveaus. Erfolg implizierte auch den Ausbau von öffentlichen Einrichtungen, z.B. einen breiteren Zugang zur universitären Bildung. Erfolg meinte aber nicht die Verwirklichung radikaler Gleichheit. Doch die Akzeptanz keynesianischer Wirtschaftspolitik, die Vollbeschäftigungspolitik, der Ausbau des öffentlichen Bildungswesens und des Rentensystems – all die Errungenschaften der Nachkriegsära, die in den sechziger Jahren ihren Höhepunkt erreichten – wurden mit Beginn der siebziger Jahren in Frage gestellt. Mit dem Ende des Bretton Woods-Systems zwischen 1971 und 1973 schien die weltweite Inflation, die zum Teil auf das amerikanische Haushaltsdefizit, zum Teil auf verstärkte Arbeitskämpfe und steigende Ölpreise zurückging, der Kontrolle der Wirtschaftspolitiker zu entgleiten. Mitte der siebziger Jahre nahm in den westlichen Volkswirtschaften auch die Arbeitslosigkeit besorgniserregend zu und hielt sich trotz Inflation auf hohem Niveau. Anstrengungen, die Gewerkschaften durch neokorporatistische Verhandlungsstrategien zu mehr Lohnzurückhaltung zu bewegen wie in Großbritannien und Schweden, erwiesen sich als vergeblich oder fragil. Aufgrund wachsender Unzufriedenheit stießen die sozialdemokratischen Regierungen Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre zunehmend auf Ablehnung, und die Wähler wandten sich Reagan, Thatcher und Kohl zu.

Aber nicht nur wirtschaftlich wurde die Lage schwieriger. Die Politik der späten sechziger und der siebziger Jahre war auch durch die massive Mobilisierung neuer sozialer Gruppen geprägt, die ihre Anerkennung durch den Staat einforderten, zunächst die Studenten und Frauen, später die Vertreter regionaler Autonomie und die Friedensbewegungen. Mitunter gelang es, die Rebellierenden politisch einzubinden oder in neuen Organisationen zu institutionalisieren, doch viele setzten ihre aufrührerischen Aktivitäten fort und ließen den Staat angesichts des Drucks der Straße schwach erscheinen. In Italien und Westdeutschland demonstrierten terroristische Bewegungen, wie instabil die öffentliche Ordnung war. Die war ein weiterer Grund, warum sich der Wähler in den “unregierbaren” Demokratien Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre gegen die amtierenden Regierungskoalitionen wandte.

Diese Ablehnung der Wähler bedeutete zunächst einmal, daß die Linke in Schweden, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland die Wahlen verlor. Doch auch in Ländern, in denen die Linke an die Macht gelangte, waren die Ergebnisse enttäuschend. In Spanien, Griechenland und Frankreich konnte sie sich nicht wirklich durchsetzen, weil ihre Wortführer nur noch mehr Sozialdemokratie und Staatseingriffe zu bieten hatten. Ihr Wahlerfolg markierte den ersten Machtwechsel in Gesellschaften, die lange Jahre von paternalistischen Führern oder zentristischen Koalitionen durch einen Systemwechsel geführt wurden. Seit de Gaulle hatte die Linke in der Fünften Republik zu keiner Zeit die Oberhand, in Spanien traten die Sozialisten an die Stelle der UCD unter Suarez, und in Griechenland löste die PASOK Caramanlis ab. In diesem postlykurgischen Augenblick hatten die Wähler gemerkt, daß sie nunmehr ohne die patriarchalischen Regierungen auskommen konnten, die den Regimewechsel inauguriert hatten. Außer in Griechenland mußten sich die Sozialisten rasch entscheiden, ob sie zu finanz- und geldpolitischen Austeritätsmaßnahmen greifen oder aber an ihrem verkündeten Anspruch auf mehr Gleichheit festhalten wollen, der zu Kapitalflucht, Steuerwiderstand und Geldentwertung führte. Schon 1983, zwei Jahre nach ihrem Wahlerfolg, beschloß die Mitterand-Regierung, den Franc an die Deutsche Mark zu binden, gab die Verstaatlichungspolitik und die Einführung höherer Kapitalsteuern auf und beendete die Koalition mit den Kommunisten. Felipe Gonzales in Spanien verschrieb sich ebenfalls einer orthodoxen Finanzpolitik. Und auch in Italien hatte sich die Linke abgenutzt: Die italienischen Kommunisten verloren nach ihren höchsten Wahlerfolgen im Jahre 1976 zunehmend Stimmen; ihre informelle große Koalition mit den Christdemokraten mündete nicht in einer Regierungsbeteiligung, und in den achtziger Jahren trat Bettino Craxis Sozialistische Partei (PSI), die eine Schlüsselstellung im italienischen politischen System innehatte, in den Vordergrund. Aber auch der PSI stand in keiner Weise für eine permissive Finanzpolitik. Vielmehr wurde die italienische Staatsbank endlich der Verpflichtung enthoben, das Staatsdefizit in unbegrenzter Höhe zu finanzieren. Und als Gewerkschaftsaktivisten in den achtziger Jahren die Turiner Autowerke lahmlegen wollten, erteilten ihnen die Fiat-Arbeiter eine klare Absage. Das Jahrzehnt der Proteste der Arbeiterklasse neigte sich seinem Ende zu.

Das bedeutet freilich nicht, daß die neoliberalen oder nichtsozialdemokratischen Regierungen der achtziger Jahre die sozialstaatlichen Strukturen dauerhaft abgebaut hätten. Margaret Thatcher nahm die wohl radikalste Umstrukturierung vor. Die christdemokratischen oder gaullistischen Regierungen auf dem Kontinent hingegen waren keine begeisterten Neoliberalen. Das sozialdemokratische Gerüstebauen in Europa ging weiter – um in den neunziger Jahren aufgrund von Budgetzwängen erneut unter Druck zu geraten. Nichtsdestotrotz wandelte sich die Wirtschaftpolitik in einem Maß, wie es Beobachter in den siebziger Jahren nicht für möglich gehalten hätten. Die neokeynesianischen Konzepte, die Vollbeschäftigung zur Richtschnur der Wirtschaftsregulierung erklärten, wurden aufgegeben. Stattdessen machten sich die Regierungen die monetaristische Prämisse zu eigen, daß Preisstabilität der leitende Parameter der Wirtschaftspolitik zu sein habe. Von nun an beanspruchten die Zentralbanken eine Schlüsselstellung im politischen Entscheidungsprozeß.

Die Umorientierung der makroökonomischen Politik war jedoch nur ein Teil des großen gesellschaftlichen Umbruchs, der sich in den siebziger Jahren anbahnte. Und damit kommen wir zum zweiten Faktor für die Herausbildung der neuen “Parteien”. Einen ebenso tiefgreifenden Wandel stellt nämlich der sinkende Einfluß des Marxismus und der nachlassende Glaube an Dritte-Welt-Orientierungen dar, für die sich die Jugendbewegungen der sechziger und siebziger Jahre begeistert hatten. Dabei resultierte der schwindende Glaube an den Marxismus – eine Art Entchristianisierung der Intellektuellen – keineswegs nur aus dem Ende des Kalten Kriegs. Vielmehr war der Zusammenbruch des Kommunismus, wie ich meine, ein Teil der allgemeinen Erschöpfung sozialistischer Politik in beiden Systemen. Wie der sozialdemokratische Glaube nachließ, so mußten auch die kommunistischen Parteien und marxistischen Intellektuellen feststellen, daß ihre Legitimität sich langsam verflüchtigte. Die Marxismuskritik zahlreicher Intellektueller innerhalb und außerhalb des Sowjetblocks – ob durch die Charta 77, die polnische Solidarnosc oder die Neuen Philosophen in Frankreich – begleitete die inneren Schwierigkeiten des Staatssozialismus, der sich auch weltpolitisch als unfähig erwies, militärische oder strategische Siege zu erringen (man denke nur an Angola, Afghanistan und die Aufstellung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa trotz der Proteste der Friedensbewegung). Dieser vielfältige Druck brachte in der Sowjetunion einen reformwilligen Mann an die Macht, der wohl kaum ermaß, daß die von ihm in Gang gesetzte Dynamik zum Fall der Kommunistischen Partei führen sollte.

Anfang der neunziger Jahre dämmerte der tiefgreifende ideologische Wandel des vorangegangenen Jahrzehnts auch dem letzten Beobachter. (Ich erinnere mich an ein glanzvolles Diner, das im Juni 1990 im Wiener Palais Pallavicini stattfand, in dem wir uns zur Eröffnung der Konferenz “Central Europe on Its Way to Democracy” versammelten. Ein Finanzier aus New York und ein Historiker aus Warschau, Mitglied der Solidarnosc, ergingen sich damals in gemeinsamen Lobreden auf die Tugenden des kapitalistischen Markts.) Aber nicht nur das kommunistische Reich war zerfallen, auch der Glaube an Ideologien der Gesellschaftsveränderung und an linksgerichtete Orientierungen war verschwunden. Auch die extreme Rechte bewegte schon lange keine Massenpartei mehr. Die politische Demokratie war praktisch allgemein akzeptiert – ein Zustand, in dem Francis Fukuyama das “Ende der Geschichte” sah. Doch auch an die Wirtschaftsdemokratie oder die Fähigkeit des Staats zur effektiven Wirtschaftslenkung glaubte so gut wie niemand mehr. Fortan wurde die Politik im Westen und letztenendes auch in Osteuropa weder von einer nostalgischen antiliberalen Rechten heimgesucht, noch von einer egalitaristischen Linken in Unruhe versetzt.

Gab es in der Vergangenheit schon einmal eine ähnliche Entwicklung? Und wenn ja, handelte es sich um eine vorübergehende Erscheinung oder führte sie zu einer neuen Situation? Bereits Ende der 50er Jahre wies Daniel Bell auf das “Ende der Ideologie” hin und diagnostizierte eine Erschöpfung politischer Ideen. In den 60er Jahren konstatierten andere Politologen, daß die großen Massenparteien zunehmend an Bedeutung gewannen, und manche vertraten gar die These, die gemischtwirtschaftlichen Systeme des Westens und die reformkommunistischen Systeme des Ostens würden langfristig konvergieren. Doch war dieses “Ende der Geschichte” avant la lettre nicht von Dauer. In den sechziger Jahren kehrte die Ideologie mit Macht zurück. Sollten sich also auch die neunziger Jahre als illusorische Schönwetterperiode, als rasch vorübergehende “Ära der Sorglosigkeit” erweisen? Aber was bedeuten dann die Wahlsiege der Linken in Italien 1996 und in Großbritannien und Frankreich im Frühjahr 1997? Brachten diese Wahlen nur Koalitionen an die Macht, die sich programmatisch nicht mehr substantiell von ihren rechten Vorgängern unterscheiden? Markieren die Wahlergebnisse lediglich einen Austausch der Fernsehpersönlichkeiten oder die Reduktion von Politik auf Unterhaltung, auf einen spielerischen Wettbewerb zwischen zwei Mannschaften, nach dem Vorbild der Guelfen und Ghibellinen in den italienischen Stadtstaaten? Es ist wohl noch zu früh, um sich darüber ein Urteil zu bilden. Ich persönlich glaube, daß die neue Linke, auf die viele von uns ihre Hoffnung zu setzen scheinen, keine Neuauflage der traditionellen Linken sein wird. Die siegreichen Sozialisten werden sich auf einer der beiden Seiten wiederfinden, die sich durch die neue Trennlinie ergeben – oder aber sich spalten und auf die beiden neuen Parteien verteilen.

Doch vielleicht gab es auch einen anderen Punkt, an dem sich die eher traditionelle Linke erneut kristallisieren konnte. Schließlich könnte man als politischer Philosoph oder Beobachter argumentieren, daß die Reformpolitik trotz nachlassenden Umverteilungswillens niemals aufhörte zu florieren. Die traditionelle Wählerbasis der sozialistischen Parteien, die industrielle Arbeiterklasse, ist schrumpfte zwar, doch stand mit den Studenten und den neuen Mittelschichten ein neues Wählerreservoir zur Verfügung, das durchaus ernst zu nehmen war. Was Ron Inglehart “postmaterialistische Politik” nannte und Russell Dalton “Bürgerpolitik”, keimte seit 1968 heran und setzte sich in den achtziger Jahren immer deutlicher durch. Bedeutete dies, daß es immer eine ernstzunehmende linke Option gegeben hat, nur daß sie inzwischen nicht mehr auf Verstaatlichung und Intervention in die Wirtschaft abzielt, sondern im Bereich von Abrüstung, Umwelt, Geschlechterverhältnis und Bürgermitbestimmung agiert? Die Bewahrung der globalen Lebensgrundlagen und die Öffnung des bürgerlichen Gemeinwesens für Frauen, Minderheiten und Exponenten aller möglichen “Differenzen” könnten in den neunziger Jahren durchaus auf der Tagesordnung der Linken stehen. Ich denke, daß diese neue politische Programmatik – ob sie sich nun als Politik der “Differenz” oder der “Identität” artikuliert oder für eine nachhaltige Entwicklung eintritt – als Teil des eingangs erwähnten umfassenderen und historisch entscheidenden Trends zu verstehen ist. Anders gesagt, diese uns allen inzwischen so vertraute vielgestaltige Energie der postsozialistischen Bürgergesellschaft ist in die beiden neuen Parteien eingeflossen. Dabei entmischte sich diese Energie nicht in links und rechts, sondern in die potentielle Wählerschaften der Globalisierungs- und der Territorialitätspartei, die beiden großen Widersacher auf dem Feld, das wir als “Politik der Grenzbestimmung” beschreiben können.

Die Politik der Grenzbestimmung

Es ist kein Zufall, wenn sich die Gesellschafts- und auch die Geisteswissenschaften im letzten Jahrzehnt unseres Jahrtausends fasziniert der Frage der Grenzbestimmung zuwenden. Die Althistoriker streiten sich über das Wesen des römischen Limes. Die Historiker und Anthropologen nehmen Grenzen und Grenzgebiete nicht mehr als gegeben hin, sondern erforschen sie als Zonen der Interaktion. Was wir einst als Grenzüberschreitung – Grenzverletzung, Eindringen oder Übertretung – betrachteten, beschreiben wir nun als charakteristische Tätigkeit, die selbst geographische oder ethische Grenzen zieht. Ich bin der Überzeugung, daß wir an das Ende eines langen Jahrhunderts, an das Ende einer Epoche gelangt sind. In den Jahren nach 1860 verwandten viele Gesellschaften ihre kollektive Energie darauf, ihre Grenzen zu festigen und den darin beschlossenen Raum energetisch aufzuladen durch politische Zentralisierung und den Ausbau von Verkehrstechnologien wie Eisenbahn, Dampfschiff oder Telegraf. Industrieproduktion und Transport waren räumlich orientierte Tätigkeiten, letztendlich dafür gedacht, dem eigenen Staatsgebiet Nutzen zu bringen, auch wenn die Güter exportiert wurden. Standort war Standard. Umgrenzter Raum war der Bezugsort von Loyalität und Entwicklung. Wir könnten die Verallgemeinerung noch weiter treiben und sagen, die bürgerliche Zivilisation – das ruhelose Bauen an der westlichen Welt, das auf den arbeitenden Klassen ebenso lastete wie auf den grundbesitzenden, industriellen und intellektuellen Eliten – war eine Zivilisation der Einzäunung (enclosure). Nichts anderes sagte auch Rousseau in seinem berühmten Discours, nichts anderes Marx mit seinem Begriff der ursprünglichen Akkumulation, nichts anderes Weber mit seiner Staatsdefinition. Wehe den nichtterritorial verfaßten Völkern, die sich diesem Trend zwischen 1500 und 1910 widersetzten. In den beiden Weltkriege erreichten die Kämpfe, die die Zivilisation der Einzäunung prägten, ihren Höhepunkt. Vor einer Generation jedoch begann sich dieses jahrhundertelange Ringen zu wandeln.

Mit den siebziger Jahren wurde das Territorialitäts-Paradigma nach und nach verdrängt. Unsere Technologien sind nicht mehr hierarchisch um ein wirtschaftliches und/oder politisches Zentrum aufgebaut, sondern beruhen auf Netzwerken. Die Produktionstätigkeit ist deterritorialisiert, die Kapitalströme sind ungeheuer angewachsen. Ethnische und religiöse Gemeinschaften haben in weit entfernten Großstädten Ableger hervorgebracht. Das Konzept einer durchgängigen linearen Grenze – zuletzt symbolisiert durch die Berliner Mauer – machte den standardisierten Aufbauten der Paßkontrolle Platz, wie sie auf jedem Flughafen der Welt zu finden sind. Um Gertrude Steins Bemerkung über Santa Monica abzuwandeln: “Hier gibt es kein Hier.”

Ich verweise auf diese Trends – die in meiner Darstellung, wie ich gerne einräume, vielleicht drastischer und einförmiger ausfallen als sie tatsächlich sind –, weil sie die neue Agenda der Politik bestimmen, die zunehmend um Territorialitätsfragen kreist. Welche wirtschaftlichen Fragen beschäftigten uns denn hauptsächlich, nachdem sich auf der Linken ein Vakuum auftat? Größtenteils beziehen sie sich auf die fortschreitende Globalisierung: die angebliche Verlagerung von Industriearbeitsplätzen von Europa und – in geringerem Maß – den Vereinigten Staaten nach Lateinamerika und Asien, die wachsenden Migrationsströme, der Einfluß ausländischer Investoren und die Schließung von Fabriken. Ich behaupte nicht, daß die tatsächlichen Vorgänge mit diesem Migrationskonzept angemessen beschrieben sind; es spricht vieles dafür, daß die Verlagerung der Industrieproduktion ein wesentlich komplexerer Evolutions- und Verschiebungsprozesses ist. Innerhalb der einzelnen Staatsgebiete gibt es eine Tendenz, bisher integrierte Arbeitsaufgaben in einzelne Funktionen zu zerlegen und dafür verschiedene Arbeitskräfte anzustellen. Die Lohnpakete für diese Beschäftigten werden in unterschiedliche Lohnbestandteile aufgesplittet. Dabei arbeiten Staat und Unternehmen verstärkt darauf hin, nur noch die tägliche Arbeitsleistung zu entlohnen, die Lebenszeitkomponente des Lohns aber nicht mehr zu zahlen. So wird es zunehmend unmöglich, über längere Zeit zu planen und ausgedehnte Areale zu kontrollieren. Das Gefühl, das eigene Staatsgebiet und den Zeithorizont des eigenen Lebens im Griff zu haben, hat drastisch nachgelassen. Bis in die achtziger Jahre konnten wirtschaftspolitische Maßnahmen im Rahmen des Nationalstaats effektiv umgesetzt werden. Die Regierungschefs waren in der Lage, die inländische Finanz- und Geldpolitik zu beeinflussen, um Arbeitsplätze zu schaffen oder den Wettbewerb anzukurbeln. Dies scheint nun nicht mehr in ihrem Kompetenzbereich zu liegen. Hilflos, so scheint es, stehen die nationalen Wirtschaftspolitiker der Komplexität der gegenwärtigen Probleme gegenüber. Die Lösungen, die die Europäische Union vorschlägt, erscheinen in den Augen der Bürger vielfach als zu technisch und kompliziert; sie seien, so ist oft zu hören, isoliert von der öffentlichen Meinung und setzten sich arrogant über nationale Bedürfnislagen hinweg.

In der Tat macht die Gruppe der Befürworter einer wirtschaftspolitischen Flankierung der Internationalisierung des Marktes erfolgreich Druck – zu nennen ist hier die NAFTA und die lateinamerikanische Freihandelszone, der asiatische Wirtschaftsraum sowie das Maastricht-Abkommen und die Währungsunion. Nur die wenigsten Anhänger dieser Richtung suchen größere oder umfassendere Wirtschaftsmärkte um ihrer selbst willen zu schaffen; die meisten bringen das Argument vor, daß angesichts der neuen asiatischen Produzenten nur größere Einheiten wettbewerbsfähig bleiben können. Sie glauben, nur durch fortschreitende transnationale Integration könne man verhindern, daß der eigene nationale Standort an Wettbewerbsfähigkeit verliert und auf einen archaischen Stand zurückfällt. Doch selbst in Rechnung gestellt, daß diese transnationale Strategie nur instrumentellen Charakter hat, geht sie anderen politischen Gruppierungen doch zu weit. Sie verweisen auf die Folgen: anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, fortschreitende Deindustrialisierung, die Unfähigkeit, die heimische Industrie zu schützen und – damit zusammenhängend –, den Zustrom von Auslandskapital und Fremdarbeitern zu kontrollieren. Außer den wirtschaftlichen werden auch kulturelle Gefahren beschworen: Sprachenwirrwarr, das Eindringen unvertrauter religiöser Bräuche, anderer Haltungen zum Geschlechterverhältnis und von Menschen mit dunklerer Hautfarbe – all dies scheint die vertraute Identität zu untergraben, die Europäer wie Amerikaner mit ihren territorialen Hoheitsrechten verbinden. Diese Sorgen treiben die gesamte westliche Welt um, wenn sie in den einzelnen Gesellschaften auch unterschiedliche Formen annehmen. Dieser Konstellation entspringen die beiden Parteien: Die eine erblickt die wirtschaftliche Zukunft der westlichen Welt in den großen transnationalen Veränderungen des globalen Kapitalismus, die andere sucht verzweifelt, an Grenzen festzuhalten und sie zu befestigen, um den imaginierten Identitätsraum wieder mit dem realen Entscheidungsraum zur Deckung zu bringen.

Es liegt mir jedoch fern, zu sehr zu vereinfachen. Die Partei, der die fortschreitende Globalisierung Sorgen macht, ist selbst in sich gespalten. Ein Teil sucht den Nationalstaat oder bestimmte Regionen gegen Einmischung von außen oder Ansprüche von innen zu schützen. Zu dieser Gruppe gehören u.a. der Front National, die Freedom Party und die Lega Nord. Andere Verfechter lokaler Interessen verfolgen jedoch keine fremdenfeindlichen Ziele, sondern suchen ihre jeweilige Region mit den transnationalen Behörden in Brüssel zu verkoppeln. Sie haben keine Schwierigkeiten, mit der Globalisierungs-Partei zusammenzuarbeiten, solange sie Subventionen und Maßnahmen zur sozialen Sicherung erwirken können. Diese Binnendifferenzierung der Territorialisten korrespondiert wiederum mit ererbten ideologischen Positionen: In den Vereinigten Staaten teilen Gebhart und Buchanan die Furcht vor der Globalisierung ebenso wie in Frankreich Chevènement und Séguin. Auch die Globalisierungs-Partei ist gespalten in unternehmensorientierte Konservative und Anhänger einer traditionellen Linken, die das Demokratiedefizit der neuen supranationalen Gruppierungen zu überwinden trachtet.

An welchem Punkt werden diese virtuellen oder latenten Parteien zu realen Parteien? Es gibt natürlich erklärt territorialistische Gruppen. Sollen wir uns damit beruhigen, daß ihr Stimmanteil bei wichtigen – und nicht nur symbolisch relevanten – Wahlen noch relativ gering ist? Eine ernsthafte Gefahr scheint mir in der Möglichkeit zu bestehen, daß sich vormals linke Parteien zu Plattformen für territorialistische Zielsetzungen entwickeln. Es war kein Zufall, daß der Front National seinen Wählern bei den letzten Parlamentswahlen in Frankreich im zweiten Wahldurchgang empfahl, für die Sozialisten zu stimmen (Alfred Grosser bezeichnete das als Weimar-Situation). Wenn die Parteien der Linken weiter ihrer traditionellen Ideologie verlustig gehen, könnten sie für territorialistische Sehnsüchte empfänglich werden.

Ich weine der alten Linken nicht nach, doch will mir scheinen, daß mit deren Verschwinden die neue politische Konfrontation besonders gefährliche Züge annimmt. Auf der einen Seite erscheint die Globalisierungs-Partei schlicht als neoliberale Partei, die – in Bezug auf das klassische parteipolitische Spektrum – das alte Zentrum bedient und zunehmend darauf vertraut, daß der Markt Fortschritt und Reichtum bringt und abgebaute Arbeitsplätze durch neue ersetzt. Sie steht für Produktivitätszuwächse, wo nötig für Schrumpfungsprozesse sowie für die Entkoppelung von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und Arbeitslohn. Wie den meisten westlichen Intellektuellen ist ihr die Fremdenfeindlichkeit der Territorialitäts-Partei zuwider. Diese, auf der anderen Seite, verweist auf reale Mißstände und zieht Menschen an, die wirkliche Probleme haben, sei es aufgrund der Zerstörung von Traditionen oder weil ihr Lebensunterhalt bedroht ist. Es ist ein Fehler, sie einfach als Neofaschisten abzuschreiben. Unter den Globalisierern gibt es keine wirkmächtige Linke, die eine Kompensationsstrategie entwerfen könnte, um diesen Mißständen abzuhelfen. Und bei aller neuen Begeisterung für republikanische Tugenden gibt es auch keine Linke, die in der Lage wäre, eine Strategie für die Territorialisten zu entwerfen. Die kommunitaristischen Politikansätze werden wie selbstverständlich in einer territorialistischen Koalition aufgehen. Und ich glaube auch nicht, daß die reformerischen Gruppen der achtziger Jahre mit ihrer “Differenz”- oder Umweltpolitik aus eigener Kraft in der Lage sind, ein erfolgversprechendes Gegengewicht zu bilden. Auch sie werden den Lockrufen der Territorialitätsverfechter wohl kaum widerstehen können. Da eine geschichtsmächtige und innovative Linke also nirgends in Aussicht ist, erfüllen die beiden neuen Parteien die schlimmsten Erwartungen der jeweils anderen. Ich habe keine magische ideologische Vision in Petto, mit der sich die Brüche der Globalisierung etwas erträglicher gestalten ließen. Aber ich bin überzeugt, daß wir die Kosten des gegenwärtigen Umbruchs nicht einfach unbeachtet lassen dürfen. Andernfalls werden wir für unsere fehlende politische Phantasie einen hohen Preis bezahlen müssen.

Published 3 July 1999
Original in English
Translated by Bodo Schulze
First published by Transit

Contributed by Transit © Charles S. Maier / Bodo Schulze / Transit / Eurozine

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