Strände und Friedhöfe

Die Gespenster der europäischen Grenzen

Am Fuße des Hügels, über den man zu dem auf den Klippen gelegenen Friedhof von Portbou gelangt, befindet sich ein Hinweisschild mit der Aufschrift “Memorial W. Benjamin”, und ein Pfeil leitet die Besucher zum Grab des Philosophen. Direkt daneben gibt es noch ein weiteres Schild, “Keine Einfahrt”.

Walter Benjamin nahm sich am 26. September 1940 in dieser Küstenstadt das Leben, nachdem die spanische Grenzpolizei befunden hatte, dass seine Papiere ihn nicht zur Ausreise aus Vichy-Frankreich berechtigten. Er wollte über Lissabon nach Amerika gelangen, um dort all die anderen intellektuellen Emigranten, so seinen Freund Theodor W. Adorno, wieder zu finden. Im Hotel de Francia schrieb er auf ein Stückchen Papier seinen Abschiedsbrief: “In dieser ausweglosen Situation habe ich keine andere Wahl, als sie zu beenden. In einem kleinen Pyrenäendorf, in dem mich niemand kennt, wird mein Leben sein Ende finden.
Ich bitte Sie, meinem Freund Adorno meine Gedanken zu übermitteln und ihm die Situation zu erklären, in der ich mich wiedergefunden habe. Es bleibt mir nicht genügend Zeit, all die Briefe zu schreiben, die ich gerne geschrieben hätte.”1

Angesichts der Einreiseverweigerung für Spanien und dem Scheitern seines Ausbruchversuchs aus dem Machtbereich des Europas der Nazis, tat Benjamin das, was Marshall Berman einen “Präventivschlag gegen sich selbst” genannt hat.2 Wie viele andere Exilanten trug er Morphium bei sich, für den Fall, dass es zu einem solchen Moment der Hoffnungslosigkeit käme. Das Einfahrt-verboten-Verkehrszeichen, das hier so unschuldig hängt, ist eine profane Erleuchtung, wie eines von Benjamins “dialektischen Bildern”. Das Schild, das im Abendrot eines katalanischen Sommers leuchtet, erinnert an die lebensgefährlichen Ein- und Ausreisepunkte, die hier, in diesem harmlosen Ferienort, überwacht wurden.

Geführt von Henny Gurland war Benjamin am Tag zuvor von Banyuls-sur-Mer aus ungefähr 15 Kilometer durch das unwegsame Gelände geklettert. Er überquerte den Berg auf der dem Friedhof gegenüberliegenden Seite der Bucht. Es war nicht allein die physische Anstrengung, die ihm zu schaffen machte, sondern mehr noch das Gefühl, von diesen düsteren Zeiten verschluckt zu werden. Viele scheiterten bei dem Versuch über diese Grenze dem Spanien Francos in die andere Richtung zu entkommen. Michael Taussig schreibt dazu in seinem wunderschönen Buch Walter Benjamin’s Grave, dass auch die Opfer des Franco-Regimes noch immer diese Gegend heimsuchen.3 Schreckliche Geheimnisse sind in den bekannten und unbekannten Gräbern eingeschlossen, die in dieser schmerzlich schönen Landschaft verstreut liegen.

Nach meiner Ankunft in Portbou begann ich nach all dem zu suchen, das schon beschrieben worden war, und machte Fotografien, die denen glichen, die ich bereits gesehen hatte. Ich tat das unabsichtlich und folgte dabei nicht zum ersten Mal den Pfaden, die andere Autoren gegangen waren. Ich hatte viel über diesen Ort gelesen und war durch den Essay von Marshall Berman und das Buch von Michael Taussig hindurch hierher gereist. In gewisser Weise war ich auf der Suche nach Dingen, die mir schon bekannt waren, wie dem “Passages” betitelten Benjamin-Gedenkort des israelischen Künstlers Dani Karavan oder dem Epigramm, das dieses Denkmal schmückt – auch wenn ich das bewegende Zitat bis dahin in keiner von Benjamins Veröffentlichungen finden konnte: “Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.”4

Wenn man an einen Ort reist, über den man schon gelesen hat, gibt es immer einen Punkt, ab dem die Erwartungen, die sich im Laufe der Lektüre ansammeln, anfangen aneinander zu zerren, als müssten die Seiten des Buches herausgerissen, neu geschrieben und ersetzt werden. Für Michael Taussig ist dies der Moment, in dem die soziale Realität, die in den Büchern beschrieben wird, sich an ihr literarisches Faksimile wendet, es fragt, was gelernt wurde und Gerechtigkeit einfordert. “Die Wirklichkeit ist ein Nussschalenspiel; unser Schreiben sollte es ebenfalls sein. Für einen Augenblick greifen sie ineinander, dann aber entsteht eine neu geordnete Unordnung, die immer nur die vorletzte ist.”5

Beim Aufstieg bemerkte ich die Adern von Eisenerz, die die schwarzen schroffen Klippen durchziehen. Ein weiteres Schild trägt Benjamins Namen, diesmal aus weißem Marmor, eingelassen 1979 in die Außenmauer des cementiri municipal. Hannah Arendt hatte 1940 in einem Brief an Gershom Scholem beklagt, dass nirgends sein Name stehe.6 Sie war kurz nach Benjamins Selbstmord gekommen um seiner zu gedenken. Wäre sie heute beruhigter? Benjamins Name ist in Portbou zu finden, aber das scheint nur wenige zu interessieren. Der Parkplatz vor dem Friedhof ist voll, aber nicht, weil so viele Menschen den Gedenkort besuchen wollen, sondern weil dies ein praktischer Parkplatz ist, um zu den weiter unten gelegenen Stränden zu gelangen. Der Generäle des Franco-Regimes wird in den Straßennamen der Stadt gedacht. Das Leben in den Straßen verbindet sich mit den Namen, deren einstige Träger in Vergessenheit geraten. Die Namen werden zu Bezeichnungen ohne Referenz, Anrufungen ohne Lebendigkeit, Etiketten auf einem Nichts. Ich frage mich, ob sich Benjamins Schicksal sonderlich von dem der Generäle unterscheidet.

In dieser Gegend liegen die Verstorbenen zunächst fünf Jahre lang in oberirdischen Nischengräbern. Dann werden die Gräber geräumt, und die Toten werden in ein Gemeinschaftsgrab, die fosa común umgebettet. Wie Taussig erklärt, wurde Walter Benjamin bei seiner Beerdigung in Katalonien irrtümlich zu “Benjamin Walter” umbenannt und nicht als Jude, sondern als Katholik beerdigt. Im oberen Teil des Friedhofs gibt es einen kleinen Erinnerungsgarten, in dem ein Pfad zu einem unbehauenen Stein führt, auf dem Benjamins Name gemeinsam mit dem folgenden Zitat zu lesen ist: “Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Geschichtsphilosophische Thesen, VII”. Auf dem Stein liegen kleinere Steinchen, die Besucher dort abgelegt haben um seiner zu gedenken. Auch wir legen unsere Steinchen dazu und mein Sohn hebt einen kleinen Spielzeugvogel vom Boden auf, den er in den Steinhaufen wie in ein Nest legt.

Der unbehauene Stein ist ein Grab, das kein Grab ist. Benjamins Asche liegt zusammen mit den Überresten all der Namenlosen unterhalb des Friedhofs in der fosa común. Als Gershom Scholem Hannah Arendt nach ihrem Besuch antwortete, behauptete er, das Grab sei unecht. Taussig schlägt demgegenüber vor, dass die Geschichte des Grabes als Allegorie für Benjamins Leben gesehen werden könne: eine Existenz, die keinen Platz hatte, ein verkanntes nacktes Leben, das durch die Geopolitik des Nationalsozialismus prekär und schließlich unlebbar geworden war. Wenn man die Stufen hinuntergeht, kommt man an einer rostigen quadratischen Platte vorbei, der Klappe, durch die seine Asche geschüttet worden war.

Der dreieckige Eingang zu Dani Karavans “Passages” liegt außerhalb des Friedhofs. Der Gedenkort wurde 1994 eingeweiht, dem Jahr, in dem auch der unbehauene Stein auf dem Friedhof aufgestellt wurde. Ursprünglich war das Denkmal von der BRD für Benjamins hundertsten Geburtstag (1992) in Auftrag gegeben worden. Die Fertigstellung verzögerte sich jedoch, als sich das Außenministerium ohne überzeugende Erklärung aus der Finanzierung zurückzog. Ohne dass das je bestätigt worden wäre, wird vermutet, die deutschen Behörden hätten sich unwohl dabei gefühlt, ein Denkmal zu finanzieren, das außerhalb der BRD zu Ehren eines säkularisierten Juden und tendenziell marxistischen Philosophen errichtet wurde. Konrad und Ingrid Scheurmann vom “Arbeitskreis selbständiger Kultur-Institute e.V.” gelang es dann, bei den Bundesländern sowie der katalanischen Regierung die fehlenden 657 000 US-Dollar für die Fertigstellung zu sammeln.7 Laut Dani Karavan ist “Passages” nicht nur ein Denkmal für einen großen Philosophen, sondern auch eines für die Opfer des Nationalsozialismus.

Oben, am Anfang der schmalen Treppe aus Corten-Stahl, hört man die Züge in dem riesigen nahe gelegenen Bahnhof. Der Bahnhof, von Gustav Eiffel erbaut, wirkt überproportioniert im Verhältnis zu dieser kleinen Küstenstadt. Im Zeitalter des Schengen-Abkommens und der Eurozone hat ein Grenzübertritt von Frankreich nach Spanien nichts mehr von seiner einstigen Bedeutung. Man muss kein Geld mehr wechseln und auch kein Visum vorweisen. Dennoch, die Geräusche der Umstellung der Zugachsen von der europäischen auf die spanische Spurweite wirken wie ein Echo aus Benjamins Zeiten, eine unheimliche Erinnerung an die Güterzüge, die einst die Juden in die Todesfabriken von Auschwitz brachten. Unter diese Geräusche mischen sich die Stimmen der Touristen vom Strand weiter unten und das Motorenbrummen eines Schnellbootes auf dem Weg zum Yachthafen auf der anderen Seite der Landzunge.

Steigt man die Stufen von “Passages” hinab, wird es plötzlich sehr ruhig in dem dunklen Korridor und die Luft wird kühl, denn hier reicht die Sonne nicht hin. Der Eindruck ist klaustrophobisch und Angst erregend. Eines meiner Kinder dreht um und läuft zurück in das Sonnenlicht. Die eisernen Wände sind zerkratzt und Vandalen haben den Namen ihrer Geliebten in das Metall geritzt. Auf halbem Wege öffnet sich die Decke auf den matten Himmel. Ich sehe meine Umrisse, die sich in der Glasscheibe weiter unten und im Meer spiegeln. Die Aussicht ist atemberaubend und es überrascht nicht, dass Hannah Arendt dies als den mit Abstand traumhaftesten und schönsten Ort bezeichnete, den sie je gesehen hatte.8 Nach ein paar weiteren Stufen versperrt eine Glasscheibe den Weg. Das Nussschalenspiel bekommt einen neuen Dreh.

Die Scheibe ist gesplittert. Die deutsche Version von Benjamins Eloge auf die Namenlosen ist einigermaßen klar zu lesen und wirkt, als sei sie in den Himmel geschrieben. Die Übersetzungen ins Spanische, Katalanische, Französische und Englische darunter sind allerdings nicht zu entziffern, die Risse und Absplitterungen im Glas machen es unmöglich. Aber wer hat die Glasscheibe zerstört? Etwa die Apologeten und Nachahmer der Nazis? Es gibt viele faschistische Graffiti in den Seitenstraßen und Hauseingängen der urbanen Schattenorte Kataloniens. Aber wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass die Scheibe nicht vom Standpunkt des Betrachters aus zerschlagen wurde. Vielmehr häufen sich die Steine auf der anderen Seite der Glasscheibe an, von jener Richtung her wurde sie zerschmettert. Ich stelle mir vor, wie Jugendliche vom Strand aus Steine gegen das ruinierte Denkmal werfen.

Überrascht es, dass diese Hommage an die Namenlosen zur Ruine wird? Ein Gedenkort, der beim Trauern nicht berührt und gepflegt wird, verknöchert und versinkt in der Landschaft wie die Überreste der Toten, die aus den Grabnischen gefegt und in die fosa común geworfen werden. Der Vandalismus am Denkmal erinnert daran, dass Benjamin der geblieben ist, der er schon immer war – ein anonymes Ziel, gebrochen durch menschliche Bösartigkeit oder die Kraft der Winde. Die Steine, die gegen das Denkmal geschleudert wurden, sind gewichtiger als die, die auf sein Grab gelegt werden.

Das in den Himmel geschriebene Epigramm bleibt eine schöne Illusion. Aber es gibt hier ein weiteres Geheimnis und einen weiteren Dreh im Nussschalenspiel. Ich habe die Quelle für das Zitat gefunden. Es steht in einem gelöschten Auszug aus Benjamins berühmtem letzten Essay, den Thesen “Über den Begriff der Geschichte”. Benjamin hatte niemals vor diese Passage zu veröffentlichen, deshalb ist ihr Ursprung so unklar. Während des Krieges war Papier rar. Benjamin sammelte alles, was beschreibbar war. Die Eloge auf die Namenlosen schrieb Benjamin auf den brüchigen Rand einer Zeitung, der Schweizer Zeitung am Sonntag. In der neuesten englischsprachigen Benjamin-Werkausgabe findet sich das Zitat in den Paralipomena. Die neue Übersetzung beinhaltet ein wichtiges Fragment, das im Zitat, das Karavan für seine “Passages” verwendet, nicht vorkommt. “Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten, Gefeierten, das der Dichter und Denker nicht ausgenommen. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.”9 Benjamin hat sich hier nicht zu den Namenlosen gezählt. Eingeätzt in die zerbrochene Scheibe des Denkmals rufen die Worte des Philosophen vielmehr die Erinnerung an die Personen auf, deren Überreste in den unzähligen unbekannten fosas entlang der Grenze liegen. Diese zarten letzten Kommuniqués sind vielleicht der Ersatz für “all die Briefe […], die ich gerne geschrieben hätte.”

Wenn man Portbou verlässt, führt die Küstenstraße nördlich der Stadt in engen Haarnadelkurven die Klippen hinauf. Von diesem Aussichtspunkt auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht ist das Größenverhältnis von Karavans “Passages” atemberaubend. Ein riesiger Kanal, der in die Landschaft eingeschnitten ist, eine unauslöschliche rostige Linie, die in dem Fels zu versinken scheint. Oben auf der Klippe ist der Kontrollpunkt, den Benjamin wohl passiert hat auf seinem Weg in die Stadt. Der nunmehr unbenutzte Dienstposten, wo einst die Grenzpolizei stand und Ausweise kontrollierte, ist zur Leinwand für Graffitikünstler geworden. Hip-Hop-Markierungen, die an die Kalligrafie der New Yorker U-Bahnlinien erinnern, bedecken fast alle Oberflächen. Der verlassene Kontrollpunkt ist ein Relikt der Ordnung, die Benjamins Schicksal bestimmte. Eine fremde inaktive Ruine, nur bewohnt von den Geistern ihrer einstigen Macht. Sie ist eine Erinnerung daran, dass die Grenzen der Festung Europa sich ebenso verschoben haben wie das Wesen ihrer Gewalttätigkeit. Die Namenlosen kommen hier nicht mehr durch, die Grenzpolizei ist ihnen entgegen gekommen. Mehr noch, die Kontrollpunkte finden sich entlang der Umrisse der unerwünschten Personen. Sie bestimmen ihre Identität und ordnen sie in eine Rangliste der Menschheit ein.

Etienne Balibar bemerkt, dass Europas Hauptgrenze durch etwas kenntlich gemacht wird, was er den “südmediterranen Zaun” nennt – ein sowohl physischer wie virtueller Zaun, der die Afrikaner von europäischer Erde fernhalten soll.10 Der Zaun, der die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla auf der marokkanischen Seite der Straße von Gibraltar umgibt, ist ein typischer Fall. Der Zaun ist zu einem Brennpunkt geworden, an dem der Wunsch der Afrikaner aus den Ländern südlich der Sahara nach Europa zu gelangen auf die technischen und materiellen Anstrengungen trifft, sie in ihre Schranken zu weisen. Tausende Immigranten haben im September 2005 versucht hier durchzubrechen. Schätzungen sagen, dass zirka 700 Personen die Zäune überwinden konnten und sechs in Kämpfen mit marokkanischen Sicherheitskräften getötet wurden. Weitere Hunderte haben sich ihre Hände am Stacheldraht zerfetzt. Die spanische Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero reagierte mit der Ankündigung, zur Sicherung der beiden vorhandenen Zäune einen dritten Zaun zu errichten. Der Zaun aus NATO-Stacheldraht hat die spanische Regierung 33 Millionen Euro gekostet. Er wurde im Laufe des Jahres 2005 errichtet, 11 Kilometer lang und sechs Meter hoch. Wachtürme unterbrechen die Stacheldrahtabschnitte in regelmäßigem Abstand und zwischen den Zäunen verläuft eine Straße, auf der Polizeifahrzeuge patrouillieren und Krankenwagen die Personen versorgen können, die sich in der Festungsanlage verfangen haben. Scheinwerfer, Geräuschsensoren, Bewegungssensoren und Überwachungskameras leiten ihre Informationen weiter zu den Kontrolltürmen des zentralen Nervensystems der Grenze.

Es gibt noch ein anderes Paradoxon. Die Migranten, die aus allen Teilen Nordafrikas auf Melilla und Ceuta zuströmen, sehen sich auf dem Weg nach Europa und nicht so sehr auf dem Weg nach Spanien oder Frankreich. Sandro Mezzadra bemerkt, dass afrikanische Migranten oftmals die enthusiastischeren Europäer sind als die Inhaber europäischer Pässe.11 Trotz der Verachtung der Weißen für sie, sind die Migranten möglicherweise die begeistertsten Anhänger der Idee Europa, bereit ihren Eifer mit dem Leben zu bezahlen. Wie zu Benjamins Zeiten sind für die Asylsuchenden Bewegung und Selbstmord ineinander verwoben und die Hoffnung auf Freiheit nähert sich den Grenzen unter der Bedingung tödlicher Risiken.

Die Körper ertrunkener Afrikaner werden immer wieder an die exklusiven Strände der Kanarischen Inseln gespült. Afrikaner sind nicht sehr sichtbar auf Lanzarote und Fuerteventura, aber die Toten an den Stränden werden zu einer Bedrohung für die Geschäfte der Landentwickler, die sich brüsten, eine “bessere Sorte” Touristen anzulocken. Der Journalist Terry Fitzpatrick traf 2006 einen englischen Grundstücksmakler in Puerto Rosario, der ihm erzählte, dass bereits zweimal ein Grundstücksverkauf geplatzt war, weil seine Kunden bei einem Spaziergang am Strand auf leblose, vom Meer angespülte Körper gestoßen waren. “Bettelnde Gruppen von Afrikanern in den Innenstädten sind kein Problem, aber Leichen an den Stränden sind absolut schlecht für das Geschäft”, stellte er fest.12 Das erinnert mich an die Geräusche vom Strand in Portbou, den Gedenkort für Benjamin und das bedrückende Nebeneinander von Strandleben und Tod.

“UNITED for Intercultural Action” ist ein europaweites Netzwerk, das die Not der heutigen Exilierten stärker in das öffentliche Bewusstsein rücken will. Seit 1993 wird dort jeder veröffentlichte Fall registriert, bei dem ein Flüchtling in Folge des europäischen Grenzregimes zu Tode kam.13 Menschen in ganz Europa sind dazu aufgefordert, die immer länger werdende Liste der Namen und Todesumstände auszudrucken und zu veröffentlichen. Heute ist die Liste 8855 Namen lang, wenn Sie diese Zeilen lesen, werden es bereits weit mehr sein. Die Namen aufzuführen ist Teil eines permanenten lebendigen Monuments, das helfen soll, ein Licht der Hoffnung gegen die düstere Gewalt der Grenzen zu setzen. Sie fragen: “Wenn selbst der Tod von mehr als 8800 Menschen nicht ausreicht, um das Gewissen Europas aufzuwecken, was dann?” Das Klima der Selbstzufriedenheit unter Europas Politikern und Intellektuellen verhindert ein solches Erwachen.14 Perry Anderson bezeichnet die neueren Beschreibungen des erfolgreichen und zivilen Europas als durchsetzt von einem “grenzenlosen Narzissmus”, einer Art selbstgefälliger politischen Eitelkeit, die sich beglückwünscht zu den bedeutungslos geworden Grenzposten, dem Erfolg des Euro und der Bewegungsfreiheit der Menschen innerhalb der erweiterten EU.15 Diese Vorstellung dessen, was Europa sei, wendet sich ab von den leblosen schwarzen Körpern, die an die Strände von Puerto Rosario gespült werden und von den Gesichtern hinter dem Zaun um Melilla. Die enthusiastischen Vertreter eines wiederauferstehenden Europas – das der Dichter und Denker nicht ausgenommen – täten gut daran, sich der Worte auf Walter Benjamins Grab zu erinnern: “Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.” Es gibt keinen Strand, der nicht zugleich auch ein Friedhof wäre.

Der Text dieses Briefes befand sich bei Adornos Unterlagen. Er war von Henny Gurland von Hand verfasst worden. Benjamin hatte ihr den Brief (im Original auf Französisch geschrieben) mit der Bitte übergeben, Adorno seine Handlungsweise zu erklären. Henny Gurland sah sich in der Situation genötigt, den Brief zu vernichten und rekonstruierte ihn später aus dem Gedächtnis. Der französische Brieftext ist nachzulesen in: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Bd. VI 1938-1940. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 483.

Marshall Berman: Adventures in Marxism. London: Verso 1999, S. 240.

Michael Taussig: Walter Benjamin's Grave. Chicago und London: University of Chicago Press 2006, S. 19.

Anm. d. Ü.: Vgl. dazu die Anmerkungen zu den Thesen "Über den Begriff der Geschichte" in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 3. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 931), S. 1241. Der Autor wird später nochmals auf die Suche nach diesem Zitat in einer der englischsprachigen Benjamin-Werkausgaben zu sprechen kommen.

Michael Taussig, a.a.O., xi.

Vgl. Gershom Scholem: Walter Benjamin -- die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975.

Vgl. Michèle C. Cone: "Memorial to Walter Benjamin", in: sculpture, 4. Jg., Nr. 2 (1995), S. 16f.

Vgl. Gershom Scholem, a.a.O.

Walter Benjamin: "Paralipomena to ŒOn the Concept of History'", in: Walter Benjamin: Selected Writings. Vol. 4.: 1938-1940, hrsg. v. Howard Eiland und Michael W. Jennings. Cambridge, Massachusetts und London: Belknap Press 2003, S. 406 (Kursivierung durch den Autor).

Vgl. Etienne Balibar: Strangers as Enemies: Further Reflections on the Aporias of Transnational Citizenship (Globalisation Working Papers, McMaster University, California, USA, 2006).

Vgl. Sandro Mezzadra: "Border as Method: A Critical Perspective on the Transformations of Borders in Europe", Thesenpapier für die Konferenz "Making Europe/Making Europeans: The Ethnographic and the Everyday" am Center for European Studies der Universität Texas, abgehalten am 10. April 2008 in Austin.

Terry Fitzpatrick: "The ultimate price for a better life", in: Searchlight Nr. 368 (2006), S. 20.

Siehe http://www.unitedagainstracism.org/pages/campfatalrealities.htm

Vgl. Mark Leonard: Warum Europa die Zukunft gehört. München: dtv 2007.

Vgl. Perry Anderson: "Depicting Europe", London Review of Books, 20. September 2007.

Published 2 September 2008
Original in English
Translated by Michael Sander
First published by Wespennest 152 (2008) (German version)

Contributed by Wespennest © Les Back / Wespennest / Eurozine

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