Shoppen und Beten

Nach dem 11. September ist in den USA durchaus nicht alles anders

Sei dem Attentat auf das World Trade Center sei alles anders,
behaupten Politiker und Publizisten in aller Welt. Für die USA ist
damit die Frage aufgeworfen, wie die beste aller Welten ganz anders
werden kann, ohne dass alles schlechter wird. Die Bush-Regierung
predigt deshalb die noch intensivere Pflege patriotischer Werte. Die
Krise erfüllt die konservative Sehnsucht nach dem “heilsamen
Schock”, der die Angst vor dem sozialen Zerfall widerspiegelt. Aber
die Wirkung des Schocks wird nicht ewig anhalten. Die Widersprüche
der Politik, mit der die Regierung Bush die neue Realität
bändigen will, zeigen sich als Erstes im Nahen Osten. Und sie
werden sich auch auf das Verhältnis USA/Europa auswirken

Am 13. März 2002, fast genau sechs Monate nach dem Terroranschlag
auf New York und Washington, schrieb der Kolumnist George Will in der
Washington Post eine Betrachtung über die “positiven Seiten im
Leben nach dem 11. September”.
Kolumnisten zählen in den USA zu den Brahmanen
der journalistischenZunft, und die meisten sind nicht nur in der Presse, sondern auch im
Fernsehen präsent. Diese so genannten sind eine Kaste, die
politisches Handeln oder die Inszenierung desselben fürs gemeine
Publikum rezensiert. Und manchmal, wenn die Zeiten es verlangen,
schauen sie dem Volk – nein, nicht aufs Maul, das tun die Demoskopen
-, sondern direkt in die Seele.
Das tat George Willam 13. März 2002. Dabei entdeckte er die
Wiedergeburt der Eindeutigkeit und der “Schönheit” nach dem 11.
September. George W. Bush habe mit seinem Kriegsruf “gegen das
Böse” nicht nur die Außenpolitik, sondern auch sein Volk
“remoralisiert”. Und das schlage sich auch im Konsumverhalten der
Amerikaner nieder: “Chippendalemöbel und Kristallleuchter” seien
wieder in Mode. In New Yorker Fast-Food-Restaurants plärre keine
Rap- und Rockmusik mehr aus den Lautsprechern, sondern Samt-Jazz von
Diana Krall. In den Buchläden verkauften sich Biografien der
ehrwürdigen Präsidenten John Adams und Theodore (“Teddy”)
Roosevelt als Bestseller – obwohl solche Literatur jahrelang als
Huldigung an “tote weiße Männer” verschrien gewesen sei. Und bei
Wal-Mart gebe es jetzt Windeln mit kleinen blauen Sternen für
“kleine Patrioten”. Amerikaner seien erstens geschäftstüchtig und
zweitens “sagenhaft patriotisch und nationalistisch”, schreibt Will.
“Patriotismus ist die Liebe zum eigenen Land. Nationalismus ist die
Feststellung der nationalen Überlegenheit. Nationalismus ist die
Ablehnung des kulturellen Relativismus, der Grundlage allen
‘Multikulturalismus’.”
Bevor der geneigten Leserschaft nun der antiamerikanische Kamm
schwillt, sei dieses klargestellt: Rap und Rock sind keineswegs tot,
und in meinem Bekanntenkreis gibt es niemanden, der nach dem 11.
September Chippendalemöbel oder patriotische Windeln gekauft
hätte. Wills erratische Anekdotensammlung ist folglich nicht
interessant, weil sie ein akkurates Bild der US-Gesellschaft
beschreiben würde, denn das tut sie nicht. Aber sie ist
symptomatisch für die amerikanische Sehnsucht nach einem “heilsamen
Schock”, nach einer Katharsis, damit das “United” in den “United
States of America” wieder ganz groß geschrieben wird. Und Will
wünscht sich stellvertretend für das erzkonservative Spektrum
seiner Leser eine Rückkehr in die Fünfzigerjahre.
Der Soziologe Richard Sennett hatte kurz nach dem 11. September diese amerikanische Wahrnehmung von Kriegen dem europäischen Publikum zu
erklären versucht (Süddeutsche Zeitung, 4. 10. 2001). Gerade weil
der Zusammenhalt der US-Gesellschaft so fragil und das Land einem
“ständigen Wirbelwind” durch Einwanderung, Mobilität und soziale
Konflikte ausgesetzt ist, argumentiert Sennett, bieten Kriege eine
der seltenen Gelegenheiten zur Zementierung dieser Gesellschaft.
Für kurze Zeit hat ein extrem heterogenes Land einen gemeinsamen
Feind, ein gemeinsames Ziel – und diese Phasen des manichäischen
Nationalismus brachten immer auch einen integrierenden Schub: Der
Erste Weltkrieg zwang Soldaten verschiedener Einwanderergruppen
erstmals zur gemeinsamen Verständigung auf Englisch. Der Zweite
Weltkrieg schuf das Bild des schwarzen Amerikaners in Uniform und
damit einen Ausgangspunkt für die Bürgerrechtsbewegung; der
Golfkrieg zeigte erstmals kämpfende Frauen. Der Vietnamkrieg ist
die Ausnahme von der Regel, und hinter George Wills Arie an den
ästhetischen Patriotismus verbirgt sich auch die Angst, es
könnten ähnlich wie vor 35 Jahren zersetzende Zweifel an der
“moralischen Klarheit” des Kriegs gegen den Terrorismus aufkommen.

Der Koran findet reißenden Absatz

Für alle Kriege aber gilt, dass die Rhetorik vom Kampf des Guten
gegen das Böse weniger an den Feind adressiert ist als an die
eigene Öffentlichkeit. Es ist eine quasireligiöse Antwort auf die
ewige Frage, was dieses Land eigentlich zusammenhält. Sennett
spricht von einer “Dialektik der Solidarität” – einer Art
Selbstbeschwörung, die “die Fähigkeit der Amerikaner schwächt,
zu verstehen, was in der Welt außerhalb der Vereinigten Staaten vor
sich geht”.
Auch die Terroranschläge vom 11. September und der anfangs eher
leise Patriotismus haben mehr zur Integration neuer
Einwanderergruppen beigetragen, als es zuvor zehn Jahre
Immigrationspolitik vermocht hätten. So paradox es klingen mag:
Unmittelbar nach dem Angriff galt dies besonders für die arabischen
und muslimischen Communities. Diese mussten einerseits zwar mit
Racheakten und polizeilichen Fahndungsaktionen rechnen, andererseits
aber wurden sie in der Öffentlichkeit zum ersten Mal neben Juden
und Christen als “dritte religiöse Kraft” und als politische Lobby
ernst genommen. Nicht Chippendalemöbel, sondern der Koran fand
plötzlich reißenden Absatz, und Imame der zweiten und dritten
Generation fanden sich auf einmal ins Weiße Haus eingeladen. All
das erfolgte, wie immer, unter dem Postulat der moralischen Klarheit
im “Krieg des Guten gegen das Böse”.
Fährt man dieser Tage durch das Land, so scheint diese “Dialektik
der Solidarität” auf den ersten Blick im Sinne George Wills zu
funktionieren: In den Palästen wie in den Hütten zeigt man
Flagge. Je ärmer die Gegend, desto größer die Plakate in den
Fenstern, die verkünden: “United We Stand”. Im Neonlichterwald
jeder Shopping-Mall blinkt alle fünzig Meter “God Bless America”,
und niemand scheint sich zu fragen, ob Gott eigentlich nichts anderes
zu tun hat.
Doch dieses Postulat der “moralischen Klarheit” verliert
innenpolitisch allmählich an Wirkung. Zum einen ist Afghanistan
nach der Euphorie über den schnellen Erfolg aus den Medien fast
verschwunden; der Krieg ist zwar nicht zu Ende, hat derzeit aber
keinen geografischen Ort. Zum anderen hinterlässt er an der
Heimatfront kaum Spuren.
Nach den Terroranschlägen auf New York und Washington kündigten
Politiker und Medien der Bevölkerung eine Schicksalsprüfung an,
einen großen Charaktertest. Amerika sei durch den 11. September aus
einer glitzernden Nabelschau gerissen worden, schrieb die Kolumnistin
Maureen Dowd: Nun habe man die Chance, sich selbst zu beweisen, dass
“wir mehr sind als die Summe unserer Konsumgüter” (New York Times
vom 3. Oktober 2001).
Genau das geschah unmittelbar nach den Angriffen in eindrucksvoller
Weise, doch als sich die Amerikaner dann fragten, wie ihr weiterer
Beitrag zum Kampf des Terrorismus aussehen soll, anwortete ihr
Präsident sinngemäß: “Kauft ein, bis die Tüten platzen, und
betet sonntags für die Truppen. Um den Rest kümmert sich das
Weiße Haus!” Shoppen ist seitdem erste Bürgerpflicht an der
Heimatfront, und selbst die Trauer um die Toten des 11. September ist
bis ins Letzte kommerzialisiert.
Die Symbiose aus Konsum und Patriotismus garantiert George W. Bushimmer noch hohe Zustimmungsquoten. Denn nach all den bedrohlichen
Ankündigungen, es werde nach dem 11. September nichts mehr so sein
wie vorher, finden es die Menschen sehr beruhigend, dass sie an ihrem
Alltag und Lebensstil nichts ändern müssen.
Andererseits dominiert der Krieg nicht mehr die politische Agenda.
Anfang des Jahres hatte Karl Rove, Bushs Berater im Weißen Haus,
noch triumphierend verkündet, man werde mit dem beliebig langen und
beliebig ausweitbaren Antiterrorkrieg die innenpolitische Bühne
besetzen und die Kongresswahlen im kommenden November haushoch
gewinnen. Heute muss Rove feststellen, dass sich die Wähler weniger
um Ussama Bin Laden denn um Themen wie Arbeitslosigkeit,
Krankenversicherung und Bildung sorgen. Das Weiße Haus droht, um in
seinem Jargon zu bleiben, die Kontrolle über das Drehbuch zu
verlieren.
Politik als Performance ist ein bestimmendes Merkmal der
Mediendemokratie -das gilt ganz besonders in Kriegszeiten. Vor diesem
Hintergrund sorgt sich das Beraterteam im Weißen Haus nicht nur um
die Wiederkehr der vermaledeiten Innenpolitik, sondern auch um einen
außenpolitischen Nebenschauplatz, der ausgesprochen störend ist:
den Nahostkonflikt. Denn erstens lässt sich der Kampf zwischen
Israelis und Palästinensern nicht ins Schema von “Gut gegen Böse”
pressen, weil es unter den Hauptakteuren keine Helden, sondern nur
Schurken gibt. Darüber kann auch die rituelle Schelte des
Präsidenten für Jassir Arafat nicht hinwegtäuschen, denn Bushs
Text wirkt wie das falsche Tonband zu den Bildern aus Ramallah,
Dschenin oder Bethlehem. Zweitens hat er damit die arabische und
muslimische Community in den USA zutiefst verbittert.

Bush hatte als erster Präsidentschaftskandidat in der
Wahlkampfgeschichte offensiv um deren Stimmen geworben – mit Erfolg.
Nach dem 11. September war diese Allianz eher noch stärker
geworden. Dann kamen die Solidaritätsbekundungen des Weißen
Hauses für Ariel Scharon. Die propalästinensischen Lobbygruppen
in Washington sahen sich wieder zu Schmuddelkindern degradiert, doch
an den Universitäten wächst der Unmut gegen die israelische
Siedlungs- und Besatzungspolitik und das Verhalten der US-Regierung.

Das Thema gehört mittlerweile zum Sammelkatalog der
Globalisierungskritiker – frei nach dem Motto “Gegen die Weltbank,
für die Westbank”. An manchen Hochschulen wird sogar eine
“Divestment”-Kampagne diskutiert, wie sie einst gegen das
Apartheid-Regime in Südafrika geführt wurde. Über die
Zulässigkeit dieser Analogie kann man streiten. Jedenfalls könnte
hier eine Protestbewegung entstehen, die ihrerseits eine
“Remoralisierung” der Außenpolitik fordert – allerdings nicht im
Sinne eines Kreuzzugs von Gut gegen Böse, sondern im Sinne einer
glaubwürdigen US-amerikanischen Vermittlungspolitik, mit der man in
den Nahostkonflikt eingreift, um zu einer Lösung zu kommen, und
nicht weil er die Vorbereitungen für einen neuerlichen Irak-Feldzug
stört.
Das Weiße Haus hat unterdessen eine hochkarätige Werbeagentin als
“Staatssekretärin für öffentliche Diplomatie und öffentliche
Angelegenheiten” angeheuert, um den “Krieg gegen den Terrorismus” und
das “Produkt USA” außerhalb des Landes besser zu “verkaufen”. Wenn
die Strategie der Vermarktung von Politik in amerikanischen
Wahlkämpfen funktioniert, so dachte man in Washington, müsste sie
doch auch in Kairo, Amman oder Islamabad verfangen. Demokratie,
Menschenrechte und Marktwirtschaft ergeben zweifellos ein attraktives
Paket, und manche pundits sehen die Arbeit der PR-Managerin als
Bestandteil einer neuen außenpolitischen Doktrin: die Vereinigten
Staaten als Weltpolizist, der das nationale Interesse mit globalem
Freihandel, Demokratie und Marktwirschaft verbindet. Und der sich
präventive Militärschläge gegen “Schurkenstaaten” vorbehält,
die Terroristen unterstützen, Massenvernichtungswaffen herstellen
oder sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig machen. In
diesem Bild fällt die UNO als Gremium zur Konfliktlösung aus und
beschränkt sich auf humanitäre Leistungen und Wiederaufbau. Und
Europa? Nun, Europa zahlt. Auf außenpolitischen Konferenzen in den
USA fasst man das Modell mittlerweile unter dem Satz zusammen:
“America fights, Europe funds and the UN feeds.”

Diese Doktrin birgt an sich schon Zündstoff genug in sich. Der
entscheidende Punkt jedoch ist, dass sie nicht nur internationale
Institutionen zur Konfliktregelung für obsolet erklärt, sondern
in der Praxis auch die universelle Gültigkeit von Menschen- und
Bürgerrechten. Das wiederum macht der “Staatssekretärin für
öffentliche Diplomatie und öffentliche Angelegenheiten” die
Arbeit so schwer. Wie soll sie zum Beispiel durchaus
demokratiehungrigen und “verwestlichten” Ägyptern und Pakistanis
beibringen, dass mit dem Produkt USA auch die Anwendung der Folter
vereinbar ist? Die Debatte über “physischen Druck” auf
Terrorverdächtige wird in den amerikanischen Polit-Talkshows seit
Monaten mit sportlichem Ehrgeiz geführt. In der Regel erinnert
keiner der Gäste daran, dass die Vereinigten Staaten 1994 die
Anti-Folter-Konvention ratifiziert haben. In den Debatten geht es
vielmehr darum, welchen der Verbündeten man die Drecksarbeit machen
lassen soll. Ägypten wird am häufigsten genannt, gefolgt von der
Türkei, den Philippinen und Jordanien.

Der wahre Kern einer neuen außenpolitischen Doktrin findet sich
dann eher in einem Vortrag von Robert Cooper formuliert (The
Observer
, April 7, 2002). Cooper ist außenpolitischer Berater der
britischen Premierministers Tony Blair, und seinen Essay “The
Postmodern State”
über den Umgang mit “Schurkenstaaten” darf man
ohne weiteres als Produkt der besonderen britisch-amerikanischen
Beziehungen verstehen. “Die Herausforderung für die postmoderne
Welt besteht darin, dass wir uns an das Konzept des double standard
gewöhnen müssen. Unter uns”, schreibt Cooper und meint damit die
westlichen Industriestaaten, “handeln wir auf rechtsstaatlicher Basis
und in offener Sicherheitspartnerschaft.” Aber jenseits der Insel der
Seligen müsse man wieder zu den “raueren Methoden früherer Zeiten
greifen: Gewalt, Präventivattacken, Täuschung. Unter uns halten
wir uns an die Gesetze, aber wenn wir im Dschungel operieren,
müssen wir die Gesetze des Dschungels anwenden.”

Oder anwenden lassen, muss man ergänzen, denn die Mitglieder der
westlichen Welt sollen sich die Hände nicht selbst an den
Folterwerkzeugen schmutzig machen. Laut Presseberichten (etwa The
Guardian
vom 12. 3. 2002) sind bereits mehrere mutmaßliche
Al-Qaida-Mitglieder auf amerikanischen Wunsch an “Länder
übergeben worden, zu deren Geheimdiensten die CIA gute Verbindungen
hat und in denen Folter erlaubt ist.”

Wohlgemerkt: Nichts von solchen Überlegungen zu den Methoden des
Dschungels ist bislang Gegenstand einer Debatte im amerikanischen
Kongress. Nur ganz wenige Parlamentarier haben es in den vergangenen
Monaten gewagt, sich der “Dynamik der Solidarität” zu entziehen.
Der demokratische Abgeordnete Dennis Kucinich ist einer von ihnen,
und weil er ein guter Amerikaner ist, hat er seinen Protest in ein
“Gebet für Amerika” gefasst (The Nation, 1. 3. 2002):

“Lasst uns
beten, dass unser Land diesen Krieg beendet. Wir haben nie einem
endlosen Krieg zugestimmt, nie einen Angriff gegen den Irak, Iran
oder Nordkorea autorisiert oder die Bombardierung afghanischer
Zivilisten beschlossen. Wir haben nie für eine permanente
Kriegswirtschaft, für Militärtribunale, für die Einschränkung
unserer Verfassung gestimmt. Lasst uns beten für ein Amerika ohne
Massenvernichtungswaffen, das keine ‘Achse des Bösen’ jagt, keine
internationalen Verträge bricht, sondern eine Achse der Hoffnung
bildet.”

Für europäische Ohren klingt so ein Gebet etwas pathetisch, für
amerikanische ist es genau die richtige Tonlage. Nur ist die Gemeinde
noch sehr klein.

Published 5 June 2002
Original in German

Contributed by Le Monde diplomatique (Berlin) © Contrapress media GmbH / Le Monde diplomatique (Berlin) / Eurozine

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