Poesie und Anthropologie

Über Ossip Mandelstam

Von Dichtung und der Kunst im Allgemeinen in Verbindung mit Anthropologie zu sprechen, ist zumindest nicht trivial. Dichtung als “Erfahrung über den Menschen”? Was ist hiermit gemeint: Dichtung als Ursprung des Wissens über den Menschen? Wissen über den konkreten Unterschied, über den dichterischen Menschen, den homo poeta? Wissen über diesen homo poeta als bestimmten und universalen Zustand, der in irgendeiner Weise jedem Menschen eigen ist (wie es in den bekannten Worten Hölderlins heißt: “Dichterisch wohnet der Mensch”)? Oder ist hier die Rede von Dichtung als einer besonderen Art anthropologischer Tätigkeit, einem Akt der “Erkenntnis seiner selbst”? Natürlich gilt es, jedes dieser großen Worte sofort genauer zu betrachten, wenn wir sie in Verbindung mit Dichtung gebrauchen. Lehrt – erstens – die Kunst etwa zu erkennen, gar ein anderes Verhältnis zu sich selbst? Schenkt man Puschkin Glauben – geht es genau darum: “Sie lehrt uns als erste Wissenschaft: Achte dich selbst.” Und – zweitens: Wenn der Mensch durch und in der Kunst etwas erfährt, ist es dann gerade er selbst? Aus den Aussagen zahlreicher Künstler können wir auf jeden Fall Folgendes schließen: man erfährt durch die Kunst alles Mögliche – nur nicht sich selbst. Sich selbst soll man gerade vergessen. Auf welche Weise soll das geschehen? Die am weitesten verbreitete Methode ist es, die menschliche Gesellschaft zu fliehen, weg von den Menschen, vom “Menschlichen-allzu-Menschlichen” zu sich selbst; oder in die menschenlose Stille der inneren Emigration, um derart in der menschlichen Realität einen außermenschlichen Standpunkt zu beziehen. Zum Beispiel den des tragischen Chores oder den “eines Betrachters des Ruhigen und Zeugen des Unabdinglichen” (wie es in einer Bemerkung von Alexander Blok zu Das Mädchen aus Spoletto heißt). Der Dichter und, wenn schon nicht der Mensch, so bestimmt die “Leute” bewegen sich meist auf allzu unterschiedlichen Seiten der Wahrheit: “Ach Leute, armes Geschlecht … / Wie oft geht an euch ein Mensch vorbei, / Den das blinde und ungestüme Jahrhundert beschimpft / Und dessen hohes Antlitz in der künftigen Generation / den Dichter zu Begeisterung und Ergriffenheit führt.”

Die Leute, wie Puschkin sie beschreibt, sind ungestüm und unzurechnungsfähig, der Dichter aber auf nicht-menschliche Weise aufmerksam. Möglicherweise hat Dichtung gerade diesen offenkundigen und oft herausfordernden Zug vom Menschlichen weg, was dazu führt, dass sie nur selten zum Gegenstand des anthropologischen Interesses wird. Bei der Verbindung von Mythologie und Anthropologie handelt es sich indes um eine mittlerweile schon traditionelle Verbindung – die Hinwendung zur archaischen Gesellschaft, zum anderen Menschen, zur lebendigen Erfahrung der pensée sauvage stellt die Grundlage der zeitgenössischen wissenschaftlichen Anthropologie dar, wobei es hier nicht um konkrete Inhalte des archaischen Glaubens und Denkens geht, sondern um die Verfassung dieses Bewusstseins, das als “vor-logisches” oder “metaphorisches” (Olga Frejdenberg) bezeichnet wird: ein Bewusstsein, das alles, was es weiß, auf dem Weg der Teilhabe, der Partizipation, und nicht subjektiv-objektiver Distanzierung erfährt.

Sollte man sich zur Poesie nicht wie zu einem Relikt dieses wilden Denkens verhalten? Wie zu einer Art Indianerreservat in der Zivilisation der Wolkenkratzer, einer Insel des Vorverständlichen, die sich in einer Randzone des Kulturmenschen, der ganz anders verfasst ist, aus irgendeinem Grund in einer gefahrlosen “ästhetischen” Zone erhalten hat? Die wichtigste Qualität dieses Bereiches ist auf jeden Fall die Abgetrenntheit vom Praktischen. Im Unterschied zu den ursprünglichen Mythen und Metaphern sind diese späten Mythen persönliche Mythen, sozusagen für den Hausgebrauch; auf ihre Art sind sie durchaus vollständig und sie fügen sich in ein systematisches Ganzes ein, das dann gewöhnlich als die “Welt des Dichters” bezeichnet wird. Solche individuelle Mythologien werden in Monografien mit Titeln wie “Die poetische Welt des So-und-so” untersucht. In diesen Untersuchungen erfahren wir zum Beispiel, was in einem bestimmten dichterischen System mit der Nacht und dem Tag, was mit dem Chaos und so weiter geschieht. Eine eigentlich naive, dennoch höchst bedeutsame Frage wird dabei selten gestellt: in welchem Verhältnis steht jede dieser “Welten” zu der uns allen gemeinsamen, welche dieser beiden Welten ist für den Autor tatsächlich real? Und sollten beide real sein – auf welche Weise sind sie es? Ist eine die “äußere”, die andere die “innere” Welt? Der “mythologische” Mensch verfügte ja gerade über keine zwei Welten! Der Dichter hingegen unterscheidet – abgesehen von Ausnahmen wie Welimir Chlebnikow – in der Regel die “dichterische Wahrheit” von der “prosaischen” oder “physischen”.

“Die Erde ruht – des Himmels Hallen / Hältst, Schöpfer, du in deiner Hand, / Daß sie nicht auf uns niederfallen / Und nicht zermalmen Meer und Land.”
“Schlechte Physik, aber dafür welch kühne Poesie!” bemerkt Puschkin in seinem Selbstkommentar zu diesen Zeilen. Wo ist hier die Poesie? Wie beurteilen wir das ohne jegliche “ästhetische” oder ironische Verfremdung? Handelt es sich um das alte Bild eines festen Himmels, der von zwei Säulen getragen wird? Um dessen unstoffliche Kraft?

Vermutlich ist es nicht besonders fruchtbar, die Poesie als ein Relikt des archaischen Bewusstseins oder als einen Schlüssel dazu zu verstehen: außer einer Reihe von Beispielen für ein vorgegebenes Thema entdecken wir dabei nichts. Ähnlich verhält es sich mit der psychoanalytischen Lesart, die in der Poesie sublimierte Bilder unbewusster Triebregungen entdeckt. Am wichtigsten ist für mich dabei die Feststellung, dass diese Herangehensweise der ganzen Sachlage schon grundsätzlich nicht entspricht, ist doch das Vorhandensein eines “poetischen Mythos” sicher nicht die conditio sine qua non der Poesie. Ich würde vorschlagen, die strukturelle Notwendigkeit eines “individuellen Mythos” mit der von Figuren und Tropen zu vergleichen. Roman Jakobson hat recht eindringlich nachgewiesen, dass die Dichtung zwar auch ohne Figuren und Tropen auskommt, außerhalb der Grammatik aber nichts zu suchen hat. Und so wenig wir in den Figuren und Tropen das Wesen der Poesie als eine Form der Sprache finden, so wenig werden wir in den Residuen der Mythologie oder in Archetypen ihre anthropologische Botschaft entdecken. Viel interessanter scheint mir eine “poetische Anthropologie” zu sein, die auf ganz anderen Grundlagen beruht – deren Grundzüge wurden von Lew Wygotzkij umrissen. Am Ursprung steht hier das Erlebnis der Formen als eine grundlegende menschliche Aktivität. Wie und wodurch wird eine Form erlebt? Ganz offensichtlich nicht durch den Verstand im engen Sinn, offensichtlich auch nicht durch die Emotionen, durch Gefühle, wie sie normalerweise verstanden werden. Eine allzu aktive Beteiligung sowohl von Verstand als auch der Gefühle nehmen wir als einen Defekt der Form wahr, als etwas, das es der Form nicht erlaubt, vollständig zu werden, sich zu verwirklichen – als etwas allzu “Menschliches”, “von Menschenhand Gemachtes”. Dieses fundamentale, einfache und nur in umgekehrter Richtung analysierbare Bedürfnis nach Form, die Fähigkeit zur Form, das Vergnügen an der Form und die Qual der Formlosigkeit werfen die allgemeinsten Fragen über die Verfassung des Menschen auf, die Frage nach einem “Organ”, das die Form genauso unmittelbar wahrnimmt wie wir Ton, Licht, Wärme wahrnehmen. Die Wahrnehmung von Form geschieht genauso schlagartig und umfassend wie alle elementaren Sinneswahrnehmungen, erst später setzt ein vernünftiges Beurteilen von analysierbaren Dingen wie “Komposition” oder “Symmetrie” ein.

Was vermag allerdings ein Phänomen wie die Poesie (von der wir voraussetzten, dass in ihr vor allem das Phänomen der Form erkennbar sei) über den Menschen auszusagen, wenn im Fall ihres Gelingens behauptet wird: “Göttlich!” Oder: “Ein Mensch hätte so etwas nicht zusammengebracht!” Ich glaube, genau dieses Paradox ist der Zugang zur eigentlichen anthropologischen Problematik der Poesie, ihres Entstehens und ihrer Wahrnehmung.

Diese Auffassung vom Nicht-Menschlichen als eigentlichem Wesen des poetischen Werkes gibt es in diversen Spielarten. Ein klassisches Motiv ist zum Beispiel der mediale, vermittelnde Charakter des Werkes: das Werk wurde nicht von einem Menschen gemacht, sondern von der Muse diktiert (von der Sprache); es erscheint im Traum; oder das Werk bringt sich selbst hervor und so weiter. Eine andere Beschreibung lautet: diese Verse (diese Klänge, diese Skulptur) hat gar nicht dieser konkrete Mensch geschaffen, der da mit irgendwelchen Lappalien beschäftigt ist. Und der Autor stimmt auch sogleich zu: nein, es war nicht dieser Mensch! Den dadurch entstehenden Gegensatz von schöpferischer und alltäglicher Person in einem Menschen darf man dabei allerdings für skandalös halten … Bezeichnungen für diese andere Person im Autor lauten: “momentane Person” (“die momentane Person, die diese Gedichte verfasste” – Stéphane Mallarmé), “musikalisches Subjekt” (Alexej Lossev). Und noch eine andere Variante desselben Themas, das man als das “homerische Problem” bezeichnen kann: ich spreche vom alten, längst zum vertrauten Topos gewordenen Zweifel an der Realität bestimmter Autoren. “Es wird ganz entschieden behauptet, dass ein ganz anderer Alter die Illias verfasste – der auch blind war”, hat Anna Achmatowa einmal darüber gescherzt. Borges bezeichnete diesen Sachverhalt als “Vergöttlichung bis zur Vernichtung” – und letztendlich ist es auch nicht wichtig, wer tatsächlich Shakespeares Dramen schrieb. Wichtig ist allein, dass es ihn nicht gab, diesen konkreten Menschen.

All diese Fälle von Begeisterung angesichts des Nicht-Menschlichen in der Kunst weisen uns den Weg zu unserer aktuellen Anthropologie. Zuerst ist festzuhalten, über welches implizite und praktische Menschenbild wir eigentlich verfügen. Vom Standpunkt des Alltags aus gesehen ist der Mensch ein Wesen, das nicht imstande ist, etwas wirklich Bedeutsames hervorzubringen, etwas Unhinterfragbares und Unmögliches. Die Fähigkeit zu etwas Unmöglichem wird dabei nicht einmal als Ausnahme in Betracht gezogen; und noch wichtiger – der Mensch kann nichts hervorbringen, das von ihm selbst wirklich frei ist, was von ihm aber nicht frei ist, ist auch nicht interessant, nicht vollendet, ist offenkundig keine Form.

Was sagt nun die intime Verbindung mit der Form (oder mit der Musik, wie es in der Sprache der Romantik heißt) über den Menschen aus, mit einer sich selbst erschaffenden Form, deren Kraft er in einem gewissen anderen Zustand durchaus zu erleben imstande ist, wenn er ein anderer ist als normalerweise, sich selbst unbekannt? Was sagt diese Form dem Menschen – nicht nur dem Autor, sondern auch dem Leser?

Ich möchte dazu eine Geschichte erzählen, die ich von jemandem gehört habe, der sie selbst erlebt hat. Es handelt sich um einen Dissidenten der siebziger Jahre, der nach seiner Verhaftung monatelang tagtäglich verhört wurde. Man verlangte von ihm eine Unterschrift unter irgendeine Aussage, außerdem ein öffentliches Reuebekenntnis, wie es in der Sowjetunion damals so üblich war. “In irgendeinem Moment – erzählte er – war mir alles egal. Ich wachte eines Morgens mit dem Gefühl auf, dass ich an diesem Tag alles, was man von mir verlangte, unterschreiben würde. Nicht aus Angst, sondern weil alles egal ist. Nichts bedeutet mehr irgendetwas. Und in diesem Moment fiel mir ein Gedicht von Mandelstam ein, vom Anfang bis zum Schluss. Theta und Iota der griechischen Flöte. Ich habe damals vermutlich dasselbe erlebt wie ein Gläubiger beim Abendmahl. Ich dachte – genau das ist es. Hier ist eine ganze Welt, alles, und ich befinde mich in Kommunion mit ihr. Nach diesem Erlebnis war ich absolut überzeugt, dass ich jetzt nichts mehr unterschreiben werde. Es war einfach nicht mehr möglich. Und die Tschekisten haben das auch verstanden – von diesem Tag an wollten sie nichts mehr von mir, sie schickten mich einfach dorthin, wo man damals eben hinverfrachtet wurde.”

Diese Geschichte wäre nicht so erstaunlich, handelte es sich um ein Gedicht mit eindeutig doktrinärem oder moralischem Inhalt. Stattdessen geht es dabei aber um ein sogenanntes schwieriges und dunkles Gedicht, dessen Sinn dem Klang-Körper immanent ist, den herauszulösen aber ohne Verletzungen nicht möglich ist. Ein Vorgang, nicht weniger schmerzhaft als die Folter des Marsias, die Dante mit dem Herausziehen eines Messers aus der Scheide vergleicht. Della vagina della membra sua.

Ich erlaube es mir, dieses Gedicht ganz zu zitieren, um eine kleine Atempause von meinen formlosen Überlegungen zur Form in deren tatsächlicher und reinen Präsenz zu gewinnen: in ihrer fast übermäßigen Spannung. Ich sage Atempause, denn in Wirklichkeit ist alles andere als solche Anspannung ermüdend.

Theta und Iota der griechischen Flöte –
Schale Rede genügte ihr nicht:
Wie sie ungeformt reifte, sich mühte,
Blindlings vorwärts – und weit war ihr Schritt.

Ganz unmöglich, sie jemals zu lassen,
Mit den Zähnen zu zwingen – nicht leicht,
Nie mit Zungen ins Wort hin zu schaffen,
Jenes Lippenpaar bricht sie nicht weich.

Der Flötist will die Ruhe nicht kennen,
Und ihm scheint, daß nur er es noch weiß:
Fliederfarbener Lehm in den Händen –
Wie sein Meer einst er schuf, seinen Kreis.

Dieses flüsternde, hellklingend, streng,
die Erinnerung tritt in die Lippen –
Wie er kargt mit ihr, schmäht das Geschenk,
Hört die Klänge noch strenger geschnitten.

Ihm zu folgen: ein Weg, nicht zu finden,
Ich zermalmte den Lehm ohne Rest –
Als das Meer meinen Mund mir erfüllte,
War mein Maß mir nur Maser und Pest.

Meine eigenen Lippen: sie lasten,
Ein Verbrechen erwächst aus dem Keim –
Ich bin unfrei, kann Klänge nicht fassen:
Werden leiser und leiser nun sein.
(7. April 1937)

Übersetzung: Ralph Dutli,

Es ist nicht schwierig, dieses Gedicht in die früher schon genannte “Welt Mandelstams” einzuschreiben – kurz gesagt, anders als symphonisch sind seine späten Arbeiten nicht zu lesen. Meer-Musik versus Aphrodite-Wort. Die diesbezüglichen Verweiszeichen: Flieder, (“Und der Schaum des bleichen Flieders”); Meer, Griechenland, Flöte; Griechenland, Lehm, Töpfer; ein anderer Dialekt – Musikinstrument; Lippen, Mund, Zähne, Sprache – Mensch (tatsächlich symbolisiert bei Mandelstam der Mund den Menschen, wie auf den archaischen Grabsteinen des Balkans das Auge). Bleibt man bei einer Liste solcher Mandelstamscher Konstanten stehen, die sich sowohl in den einen wie in einen anderen Kontext einfügen lassen, so lesen wir in Wirklichkeit nicht dieses Gedicht, sondern lösen es aus der Realität heraus. Allgemein bekannt ist, dass Mandelstam eine Abneigung gegen Evolutionstheorien hatte: der Sprung, die Katastrophe, Bruch auf Bruch – dieses Bild der Bewegung, sowohl der physischen wie der historischen und der psychischen Bewegung, hielt er für den der Realität besser entsprechenden Lauf der Dinge. Und so ist auch die Syntax seiner Botschaft beschaffen. Vielleicht besteht in seinem Fall eine noch viel größere Kluft zwischen der Zeit und Aussprache vorausexistierenden unsterblichen Sprache (“es kann sein, daß vor den Lippen schon das Flüstern war”), d. h. zwischen den heiligen Namen, die im Reigen der Schatten des Elysiums wohnen, und deren Entfaltung in der Zeit und auf den menschlichen Lippen, der sterblichen Rede. Anders gesagt – zwischen jener semantischen Summe, die wir als die “Welt Mandelstams” bezeichnen und dem Erscheinen jeder neuen Sache. Sie entsteht jedes Mal ursprünglich – nicht aus dem Thesaurus des Vorhandenen, sondern gegen ihn, aus dem Nichts, aus der absoluten Unwahrscheinlichkeit des eigenen Auftauchens. Der Zugriff zur Sprache, zum Namen, der Zugriff zum Vorrat an Symbolen ist über alle Maßen erschwert: er gleicht dem Abstieg in die Unterwelt (siehe Orpheus, siehe Dante), wohin man normalerweise nur einmal gelangt. Die Eingebung, “das Erscheinen des Gewebes” des Gedichts ist katastrophisch, die Bogenspannung ein Blitzschlag. Genau von diesem Moment handelt dieses Gedicht. Und deshalb werde ich in meinem Kommentar die Bilder interpretieren, als würden sie irgendeinen anderen (paradigmatischen) Sinn transportieren, als den ad hoc entstehenden und sogleich wieder verschwindenden.

Also – es handelt sich hier um den Inbegriff, das Musterbild des In-Szene-Setzens im phonetischen und artikulatorischen Körper der Begeisterung, die Geburt der Form. (In-Szene-Setzen ist ein Begriff aus Mandelstams Gespräch über Dante, in dem es heißt: “In einem solchen Verständnis ist Dichtung kein Teil der Natur … und noch weniger ist sie deren Widerspiegelung, was einem Hohn auf das Gesetz der Identität gleichkäme. Hingegen nimmt sie mit überwältigender Eigenständigkeit ein neues, außerräumliches Aktionsfeld ein, wobei sie die Natur nicht so sehr nacherzählt als vielmehr mit Hilfe instrumentaler Mittel, die in der alltäglichen Sprache Bilder genannt werden, in Szene setzt.”) Betonte Artikulation der Lippenlaute (b, m, u) und des Lautes t, der die charakteristische Bewegung der Zunge beim Spiel auf der Flöte wiedergibt (auf folgende Art: in der Metapher Schlagen der Lippen wird auf doppelte Weise die Technik der Klangerzeugung auf einer Flöte inszeniert. Visuell – die Lippen schlagen auf das Mundstück. Artikulatorisch – wenn man das Wort topot, schlagen, stampfen, ausspricht, wiederholen wir gleichsam die Arbeit des Flötenspielers: “Auf seiner Spur wiederholen wir ihn nicht.”) Indem wir dieses Gedicht sprechen und seine Artikulation erleben, stellen wir fest, dass wir eine sonderbare Sache treiben: wir ahmen einen Menschen nach, der auf einer Flöte spielt. Welche Musik bringen wir dabei aber hervor? “Wort, kehr zur Musik zurück”, sagt Mandelstam einmal. Hier macht er den nächsten Schritt nach unten: Musik, kehre zur Mechanik der Tonerzeugung zurück – ohne deren tönende Folgen.

Um welche Flöte handelt es sich hier eigentlich – um eine griechische Flöte, und wer ist dieser Flötenspieler, ein Demiurg des Augenblickes? Handelt es sich um die griechische Sprache selbst? (Theta, Jotta, deren Rede reichte nicht aus, deren akustischer Abdruck für das russische Ohr wie Taubheit wirkt)? Oder geht es überhaupt um Hellas, das kriegerische und bäuerliche, um dessen anti-statuarisches, bildloses und anti-rationalistisches Bild, das aller einfältigen Pietät radikal entgegensteht? Ein Hellas, heiliger Anfang, der durch den kriegerischen Alptraum der Geschichte verläuft? Die erste Zeile ist jener Knopf oder Knoten, der nicht aufgeknüpft werden darf. Er muss so genommen werden, wie er ist: dieser auflösende Knoten, die ursprüngliche Enge, die die Erschwerung vor dem Gang aufs Ganze initiiert. Wer diesen Knoten für das Sein aufknöpfte, verfolgt den weiteren Gang der Rede schon nicht mehr ohne Widerstand, einer Rede, die sich allein in entfaltenden Knoten verwirklicht, in Sinnknöpfen. Im Vergleich mit diesen “dantesken”, nicht-linearen, semantischen Bewegungen ist das einfache, gedichthafte Schwimmen im Fluss der Phonetik – Rede, Meer, Seuche/Masern, Maß – über die Maßen einfach, wie mit einem weißen Faden genäht, allzu deutlich, nicht einmal ganz und gar ernst zu nehmen. Das ist bloß ein Murmeln, das nichts bedeutet ohne die Bogenspannung.
Wie üblich bei Mandelstam, ist auch diese Aussage über die Begeisterung im Grund negativ: die Rede zieht sich zum Wort hin, schlägt, umkreist es (“als würde ihm das Gemurmel nicht reichen”), das Wort selbst aber erscheint nicht. Indem er der eigenen Rede eine letzte wörtliche Realität versagt, wiederholt Mandelstam auf seine Art die artistische Apophantik Dantes. Auch dessen “Komödie” besteht nur aus Bruchstücken, sie ist ein ungenaues Register jenes wirklichen Buches, das er im letzten Gesang des “Paradiso” sieht: dessen “heisere”, “knappe”, “schwache” Sprache verhält sich zum Schöpferischen Wort (im eigentlichen Sinne) wie eine entfernte Folge zu ihrer Ursache. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die Bewegung der Danteschen Sprache dabei zentripedal ist – die Mandelstamsche wiederholend, nachfolgend.

Die Rede strebt nicht zum Wort (Dantes Bewegung), sondern dem Wort nach. Das Wissen erscheint als Wiederkehr, als Wiederholung, als Erinnerung. Die Schwierigkeit dieser Erinnerung wird übermittelt als Unmöglichkeit der Wahl zwischen zweien: es ist unmöglich dieses zu tun, und dieses nicht zu tun (cf. “Von ihnen Zärtlichkeit zu wollen ist Verbrechen, / Von ihnen sich zu trennen – ist nicht unsre Kraft.”): “es ist unmöglich, sie zu verlassen” – bei ihr zu bleiben ist unmöglich.

Doppelte Kulmination dieses Gedichts: die dritte und die fünfte Strophe spielen die befreiende Raserei, Ekstase aus – “den Punkt der Verrücktheit” (“Ihm scheint es, er sei allein”, und “Als ich mich mit dem Meer anfüllte”). Und sie unterbricht auch die Begeisterung, die Ekstase – sie wirkt “auf menschliche Art”, nicht wie der “Punkt der Verrücktheit”, sondern wie das “Gewissen”. Hier taucht zweimal das sich dem anderen, unnennbaren Wort am meisten annähernde Wort auf – dem Hauptwort dieses Gedichts – Meer.

Um aber Meer in jenem Sinn zu verstehen, muss darüber anders gedacht werden, als es die Gewohnheit der Sprache oder die Alltagserfahrung diktiert. Hier handelt es sich um ein Meer aus Lehm, aus Erde! (Aus fliederfarbenem Lehm – wiederum eine Doppeldeutigkeit: eine Farbe oder eine Blüte – wenn eine Blüte, so ist ihre Farbe eher weiß.) Dieses Meer wurde irgendwann einmal modelliert! Modelliert wird es aber aus Ton und Artikulation (eine Handarbeit, schlechte Imitation: “Ich zermalme den Lehm ohne Rest”).

Der Kulminationspunkt des Gedichts ist sogar negativ. Es ist weniger wichtig, was wir über dieses Meer denken sollen, wichtig ist, was es tut: die Vernichtung “meiner selbst”, “meines Maßes”. Das Auftauchen des Meeres löst das Sein auf. In den nicht-katastrophischen Zeiten, nicht im “Knoten des Lebens” – ist der Mensch viel eher zur Versöhnung mit dem eigene Maß geneigt: dem Maß der “Nichtgröße”. In außerordentlichen Situationen bleibt ihm aber nichts anderes als groß zu sein: allein zu sein.
Neben einigen anderen Momenten kann man das als das anthropologische Thema der Poesie ansehen: die Verwirklichung des Menschen im Jenseits seines “Maßes”. Man könnte sagen, dieses Maß sei seine Sterblichkeit; man könnte auch sagen, es sei die Menschlichkeit, in jenem Sinn, in dem wir eingangs davon gesprochen haben (sozusagen bloß menschlich). Aber wie immer man es interpretiert, das Maß wird beim Aufflammen der Form zur “Seuche”. Die Form ist kein Ding – sie ist eine Kraft. Die Form (der normalen Vorstellungen entgegen) fällt nicht nur nicht mit Abgrenzungen zusammen, mit Proportionen, mit dem Maß: sie steht dem Maß entgegen, nicht anders als das Leben dem Tod. Für Mandelstam (genauso wie für Blok, bei allen Unterschieden der beiden) wäre es beleidigend, in der Poesie die Schaffung von erlesenen oder vollendeten Dingen zu sehen; Dichtung ist für ihn ein Bild des Lebens, ein eschatologisches Bild. Die Sache der Kunst ist auf ihre Art undinglich. Dieses “Meer” oder dieser “Durchbruch zur Unendlichkeit” hat etwas von der Art jener reinigenden Flamme, auf die der Dichter der “Komödie” im “Purgatorio” trifft.

Jemand, der in Philosophie und Theologie besser bewandert ist als ich, könnte vermutlich auch ausführen, womit die Dichtung als anthropologische Erfahrung in jenen Disziplinen zu vergleichen wäre. Dichtung als Erfahrung des unmöglichen Menschen, des homo impossibilis, der in sich nicht so sehr “anderes, durch sich selbst unkontrollierbar” findet, eine “momentane Persönlichkeit”, “ein musikalisches Subjekt”, als vielmehr die reine Zustimmung zum Verschwinden (“Ich bin zum Tod bereit”). Zu verschwinden an der Schwelle, am Ursprung, in der Ankündigung von irgendetwas ganz und gar anderem, das er dabei als über alle Maßen Eigenes erfährt. Wäre das mit dem vereinbar, was natürliche Meditation, natürliche Mystik genannt wird?

Ganz wesentlich ist dabei auch, daß diese Erfahrung (im Unterschied zur unvermittelbaren, unausdrückbaren Erfahrung der “natürlichen Mystik”, wie sie gewöhnlich beschrieben wird) sowohl mitteilbar als auch veröffentlichbar ist. Die Dichtung beschreibt diese weder, noch erzählt sie sie nach, sie bringt sie unmittelbar zum Erscheinen, “inszeniert” sie: in der Dinglichkeit des künstlerischen Gegenstandes wird dieses Ereignis der Form selbst durchgeführt. Sie ereignet sich sowohl im Autor wie im Leser – wobei es noch nicht klar ist, wo das vollständiger geschieht. (Denn dieses Gedicht Mandelstams ist nicht “im Namen des Flötisten” gesagt: es gibt die Verwandlung des Zuhörers wieder, der im ursprünglichen “Wir” auftritt. Es handelt viel mehr von der Begeisterung der Lektüre, und nicht von der Begeisterung des Herstellens.) Für den Leser wird das Meer zum Maß. Er ist nunmehr auch einer, der irgendwann einmal eine Welt erschuf, weshalb man ihm schon nichts mehr anhaben kann.

Published 13 November 2000
Original in German
Translated by Erich Klein

Contributed by Wespennest © Wespennest Eurozine

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