Pjöngjang liegt nicht am Tigris

Nordkorea und USA im atomaren Gleichgewicht

Die Krise auf der koreanischen Halbinsel kann nur auf dem
Verhandlungswege beigelegt werden. Zwar hat Nordkorea die Spannungen
durch seinen Rückzug vom Atomwaffensperrvertrag angeheizt, aber das
Regime Kim Jong Il dürfte damit vor allem die Absicht verfolgen,
sich gegen einen militärischen Erstschlag zu schützen. Dieser
Schutz wurde Pjöngjang in einer Geheimklausel des Abkommens von
1994 mit der Clinton-Regierung zugesichert, durch die neue
Militärdoktrin der Bush-Regierung aber praktisch widerrufen. Doch
eine militärische Aktion der USA gegen Nordkorea würde die ganze
Region in einen Krieg stürzen. Deshalb hält die Regierung Roh Moo
Hyun in Südkorea an der Politik der Aussöhnung mit dem Norden
fest. Und auch Japan hält nichts von einer zu harten Haltung der
USA gegenüber Nordkorea.

Wie bereits die Regierung Clinton droht jetzt auch die
Bush-Administration in eine große Koreakrise hineinzuschlittern,
und erneut laviert Washington konfus und verwirrend herum. Dabei ist
die heutige internationale Krise um Nordkoreas Atomprogramm weitaus
gefährlicher als die Ereignisse vor zehn Jahren.

Die Vorgänge um den veralteten Grafitreaktor von Yongbyon hatten im
Jahre 1991 bereits die US-Regierung unter George Bush senior
beunruhigt. Doch da der Atomwaffensperrvertrag (NPT) “nichtnuklearen
Staaten” bei einer atomaren Bedrohung das Recht auf
Selbstverteidigung gewährt, waren die USA zunächst genötigt,
die eigenen atomaren Raketen und Geschütze aus Korea abzuziehen. Im
Gegenzug fand sich Pjöngjang zur Teilnahme an hochrangig besetzten
Gesprächsrunden bereit.

Diese Diplomatie wurde von der Clinton-Regierung unterbrochen. Das
Hauptaugenmerk des neuen US-Präsidenten galt der US-Wirtschaft;
Nordkorea interessierte ihn nicht. Um Clintons Aufmerksamkeit zu
erregen, erklärte Nordkorea sechs Wochen nach dessen
Amtsübernahme, man halte die Inspektoren der Internationalen
Atomenergiebehörde (IAEA) für Handlanger der US-Geheimdienste.
Pjöngjang erklärte seinen Austritt aus dem
Atomwaffensperrvertrag, mobilisierte sein ganzes Propagandaarsenal
und warnte, man werde Sanktionen des UN-Sicherheitsrates als eine
Kriegserklärung betrachten.

Im Mai 1994 entnahmen die Nordkoreaner dem Reaktor 8 000
Brennstäbe, die genügend Plutonium enthielten, um fünf oder
sechs Atombomben herzustellen. Ende Juni war Clinton fast schon zum
Krieg entschlossen. Glücklicherweise griff dann Jimmy Carter ein.
Er flog nach Pjöngjang und handelte direkt mit dem damaligen
Staatschef Kim Il Sung einen Vertrag aus, demzufolge der
Yongbyon-Komplex stillgelegt wurde.

Seit Oktober 1994 überwachte die IAEO die Anlage wieder. Fachleute
versiegelten den Reaktor, die Brennstäbe wurden in Beton gegossen.
Das dauerte acht Jahre. In dieser Zeit versuchte die
Clinton-Administration weiter, mit Pjöngjang ein umfassendes
Abkommen auszuhandeln. Als Gegenleistung für Wirtschafts- und
humanitäre Hilfe verlangten die USA, Nordkorea müsse seine
Verpflichtungen einhalten und die Nuklear- und Raketenprogramme
einstellen. Zwischen 1998 und 2000 war Clintons Sonderbeauftragter
William Perry rastlos bemüht, die Aufnahme diplomatischer
Beziehungen anzubahnen und den Nordkoreanern ihr gesamtes
Raketenarsenal “abzukaufen”.1 Und dies, obwohl sie nach Erkenntnissen
der Geheimdienste bereits seit 1998 Teile für Aluminiumzentrifugen
und andere Komponenten zur Produktion von waffenfähigem Uran
importierten.

Die aktuelle Krise brach aus, nachdem James E. Kelly vom
US-Außenministerium im Oktober 2002 nach Pjöngjang gefahren war
und Beweise für erneute nukleare Aktivitäten vorgelegt hatte.
Nach Kellys Aussagen stritten die Nordkoreaner zunächst alles ab,
um kurz darauf – mit durchaus kämpferischen Untertönen – alles
zuzugeben. Wie Washington durchsickern ließ, hatte Nordkorea 1998
ein Abkommen mit Pakistan abgeschlossen, um dessen neue Technologien
zur Herstellung waffenfähigen Urans mit nordkoreanischen Raketen zu
bezahlen. Dieselben Quellen besagen, im Sommer 2002 seien Beweise ans
Licht gekommen, dass Nordkorea waffentaugliches Uran produzierte.2

Die dazu nötige Urananreicherung ist zwar ein langwieriger Prozess,
aber mit maximalem Aufwand könnten die Nordkoreaner unter Nutzung
des pakistanischen Programms pro Jahr ein bis zwei nukleare
Sprengköpfe produzieren. Fraglich ist aber, ob sie im Besitz der
dazu notwendigen 1 000 Zentrifugen sind. Kaum war Kelly nach
Washington zurückgekehrt, erklärte ein höherer Beamter, damit
sei das Abkommen über die Stilllegung des Yongbyon-Reaktors null
und nichtig.

Doch ohnehin hatten George W. Bushs Berater schon kurz nach dessen
Amtsübernahme den Vertrag für irrelevant erklärt.3 Zudem
ersetzte die Bush-Administration die alte US-Strategie der
Abschreckung durch eine “Erzwingungsstrategie”, wie der Politologe
Thomas C. Schelling sie genannt hat: Man benutzt die
überwältigende US-Militärmacht real oder als Drohgröße, um
den Handlungsspielraum des Gegners einzuschränken. Und nachdem Bush
im Januar 2002 die “Achse des Bösen” erfunden hatte, ersetzte er im
September 2002 die traditionelle Politik der Eindämmung durch eine
neue Strategie präventiver Militärschläge, das heißt des
Präventivkriegs.

Diese neue Politik praktizierte der US-Präsident gegenüber
Nordkorea in besonders krasser Form. Er attackierte Kim Jong Il
persönlich und nahm keinerlei Rücksicht auf die südkoreanische
Versöhnungspolitik. Im Oktober 2001 beschimpfte Bush bei einem
Treffen in Schanghai den nordkoreanischen Staatschef als Pygmäen.
Gegenüber dem Journalisten Bob Woodward ließ sich Bush zu dem
Ausbruch hinreißen: “Ich hasse Kim Jong!” Und er fügte hinzu, am
liebsten würde er das nordkoreanische Regime stürzen.4

Dieses reagierte prompt, verwies die Inspektoren wieder des Landes,
ließ den Reaktor mit neuen Brennstäben beladen und erklärte
erneut den Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag. Washington
wiederum teilte mit, man werde nicht mehr verhandeln, denn “nukleare
Erpressung” dürfe nicht unterstützt werden.

1994 verkündete Clintons Verteidigungsminister William Perry: “Wir
wollen keinen Krieg, und wir werden wegen der diversen offenen Fragen
keinen Krieg mit Nordkorea provozieren.” Sollten die UN-Sanktionen
allerdings “Nordkorea zu einem Angriff provozieren, werden wir dieses
Risiko eingehen.”5 Doch als der US-Oberbefehlshaber in Korea, General
Gary Luck, Clinton darüber informierte, dass ein neuer koreanischer
Krieg mindestens sechs Monate dauern und bis zu 100 000 US-Soldaten
das Leben kosten könnte, lenkte der Präsident ein. George W. Bush
sagt heute, ein Einmarsch nach Nordkorea komme nicht in Frage. Doch
die Hardliner im Pentagon haben bereits Pläne für einen
chirurgischen Schlag gegen Yongbyon in der Schublade.

Die USA stecken jetzt in einem selbst verschuldeten Dilemma. Ihre
Entscheidung vom September 2002, die Zerstörung der irakischen
Massenvernichtungswaffen vor den UN-Sicherheitsrat und die IAEA zu
bringen, bot Nordkorea die Chance, die aktuelle Krise auszulösen.
Bush hatte eigentlich den Plan, sich die Regime der “Achse des
Bösen” der Reihe nach vorzuknöpfen: erst den Irak, dann Nordkorea
und zum Schluss den Iran. Doch Kim Jong Il hatte es aus
verständlichen Gründen eilig, womit er die geplante Reihenfolge
durcheinander brachte.

Nach fast zwei Jahren einer Außenpolitik, die bitteren Realismus
mit messianischem Idealismus verbindet, war es unvermeidlich, dass
ein von einem Präventivschlag bedrohter “Achsen”-Staat Bush
zuvorkommen würde. Genau das hat Kim Jong Il getan. Mit den
jüngsten Provokationen hat sich Pjöngjang in die Vorhand
gebracht, während Bush ganz auf den Irak konzentriert ist.
Nordkorea weiß genau, dass die USA für mehr als einen großen
Krieg nicht gerüstet sind. Außerdem wäre er kaum zu
rechtfertigen, nachdem Bush den fast erfolgreichen Versuch Clintons
vereitelt hatte, den Nordkoreanern ihre Mittel- und
Langstreckenraketen abzukaufen und die Nuklearanlagen einzufrieren.

Noch schwerwiegender ist, was Insider berichten: Gegen Ende ihrer
Amtszeit hat die Clinton-Regierung das Bush-Team genauestens über
die Technologieimporte aus Pakistan informiert. Und doch hat die
Administration erst im Juli 2002 etwas unternommen, als nämlich
Informationen über den Bau einer Anlage zur Urananreicherung in
Nordkorea durchdrangen.6 Viele Experten meinen, dass Nordkorea durch
den Import der neuen Technologien die Auflagen des Abkommens
eindeutig verletzt hat. Doch was immer Nordkorea damit vorhatte, eine
einsatzfähige Atomwaffe braucht ein Trägersystem, und das wäre
ihnen durch ein Raketenabkommen abgehandelt worden. So hat die
Taktik, die im Juli 2002 gewonnenen Informationen erst im Oktober auf
den Tisch zu legen, ein lösbares Problem in eine ernste Krise
verwandelt. Denn damit war beiden Seiten der Rückzug abgeschnitten.

So trafen die vorhersehbaren Provokationen und Täuschungsversuche
Nordkoreas auf die seit langem vorliegenden Pläne der USA, die
schon in der Anfangsphase eines neuen koreanischen Krieges den
Einsatz von Atomwaffen vorsehen. Zudem erlaubte nun die
Präventivkriegsdoktrin, “ein Land anzugreifen, von dem wir glauben,
es könnte zuerst angreifen”.7 Auf der koreanischen Halbinsel
könnte diese Logik in einen Teufelskreis von Präventivschlägen
gegen Präventivschläge münden und einen großen Krieg in der
gesamten nordostasiatischen Region auslösen.

Es gibt einen weiteren Grund, der den Mechanismus der Abschreckung in
Korea außer Funktion setzen könnte. Nach Auskunft von General
James Grant, der 1989 bis 1992 für den Nachrichtendienst der
US-Armee in Korea verantwortlich war, machen es die neu entwickelten
Präzisionslenkwaffen für die USA möglich, die 10 000
nordkoreanischen Artilleriestellungen zu zerstören, die in den
Bergen nördlich von Seoul verbunkert sind. Diese Geschütze galten
bislang als unangreifbar und stellten die Sicherheitsgarantie des
Nordens gegen einen Angriff des Südens dar. Sollte die
Einschätzung von General Grant zutreffen, wird das nordkoreanische
Militär mit Sicherheit auf überzeugendere Abschreckungsmethoden
sinnen.

Das Prinzip des Atomwaffensperrvertrags lautet, dass Staaten ohne
Nuklearwaffen nicht von denen bedroht werden dürfen, die Atomwaffen
besitzen. Um die Stimmen der “nichtnuklearen Staaten” zu erhalten,
die für eine Verabschiedung des Vertragswerks 1968 in der UN
erforderlich waren, verpflichteten sich die USA, Großbritannien und
die UdSSR dazu, “allen Opfern eines nuklearen Angriffs oder Ländern
eines geplanten nuklearen Angriffs Hilfe und Unterstützung zu
leisten”. 1996 erklärte der Internationale Gerichtshof in Den Haag,
dass jeglicher Einsatz von oder die Bedrohung durch Atomwaffen als
das mal ultime zu verurteilen sei. Dennoch könnte der Einsatz von
Atomwaffen gerechtfertigt sein: “Der Gerichtshof kann nicht eindeutig
darüber entscheiden, ob der Einsatz von Atomwaffen in
Extremsituationen, in denen das Überleben eines ganzen Staates auf
dem Spiel stünde, als gesetzlich oder ungesetzlich eingestuft
werden muss.”8 Danach jedenfalls ist es eher gerechtfertigt, dass
Nordkorea Atomwaffen produziert, als dass die USA dem “nichtnuklearen
Staat” Nordkorea die Vernichtung androhen.

Nordkorea glaubt derzeit, es gehe um das nackte Überleben. Das ist
zwar wahrscheinlich nicht richtig, doch angesichts der unsicheren
Weltlage kann man verstehen, dass sie es nicht drauf ankommen lassen
wollen. Der einzige Weg, um einen Krieg zu verhindern, wäre eine
schnelle Rückkehr zur noch immer realisierbaren Lösung, die Bill
Clinton und Kim Jong Il schon gefunden hatten. Die Einzigen, die von
der Krise profitieren, sind die Hardliner in beiden Hauptstädten,
die immer noch daran glauben, dass Sicherheit letztlich nur durch die
Stationierung von Massenvernichtungswaffen zu erreichen sei.

Siehe Bruce Cumings, "Washingtons Spannungspolitik in Ostasien", Le Monde diplomatique, Mai 2001.

New York Times und Wall Street Journal in den Ausgaben vom 18. bis 22. Oktober 2002.

Entgegen den Behauptungen der Bush-Regierung verbietet das Abkommen die Urananreicherung nicht explizit, aber zweifellos verstößt das Verhalten der Nordkoreaner gegen seinen Geist.

Bob Woodward, Bush at War, New York (Simon & Schuster) 2002.

Zitiert nach Chicago Tribune, 4. April 1994. In einem Memorandum an die UN vom 10. April 1996 hat Nordkorea bekräftigt, dass "ein zweiter Koreakrieg ausgebrochen wäre, wenn die Vereinten Nationen [] einseitige 'Sanktionen' gegen die DVRK verhängt hätten."

Mitteilung von Joel Wit und Robert Gallucci (Gallucci hat 1994 das Abkommen mit Pjöngjang ausgehandelt, Wit war sein Stellvertreter).

Zitiert nach New York Times, 20. September 2002, wo dieser Satz zunächst einem "hohen Regierungsvertreter" zugeschrieben wurde. In der Ausgabe vom 28. September 2002 wurde das Zitat dann direkt Condoleezza Rice zugeordnet.

Zitiert nach New York Times, 9. Juli 1996.

Published 3 March 2003
Original in English
Translated by Elisabeth Wellershaus

Contributed by Le monde diplomatique © Le monde diplomatique Eurozine

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