Nach dem Triumph: Globale Dilemmata der Demokratie

Heute, mehr als 150 Jahre nach dem “Völkerfrühling”, jenem ekstatischem Aufbruch zur Freiheit, der den Beginn des Siegeszugs der Demokratie markiert, sind die meisten Ideen, die mit jenem historischen Moment assoziiert werden aber auch mit der früheren, jedoch geographisch entfernteren amerikanischen Revolution weltweit akzeptiert. Nachdem in diesem Jahrhundert zuerst der Nationalsozialismus und dann auch der Kommunismus eine Niederlage erlitten haben, scheint das Modell der Demokratie zu triumphieren und politisch auf dem Vormarsch zu sein.

Das Ergebnis ist, daß heute ein erstaunlich hoher Konsens herrscht in Bezug auf die Normen, welchen die globalen Angelegenheiten unterworfen werden sollen. Im Gegensatz zu der durch ideologische Konflikte geteilten Welt, wie sie den Großteil des 20. Jahrhunderts prägte, ist man sich heute (mit einigen wenigen Ausnahmen) zumindest rhetorisch darin einig, daß die folgenden vier sehr allgemein gehaltenen Prinzipien für alle Geltung besitzen:

– Die Völker sollen in selbstregierten und rechtsstaatlich verfaßten Gesellschaften leben.

– Der Weltfriede soll auf dem Respekt für nationale Souveränität und nicht auf Hegemonie gründen.

– Die freie Marktwirtschaft ist die produktivste wirtschaftliche Organisationsform.

– Aus den wissenschaftlichen Errungenschaften soll die ganze Menschheit Nutzen ziehen.

Zugegebenermaßen sind das recht vage Richtlinien, die verschiedene Interpretationen und Anwendungen zulassen. Dennoch umschreiben sie einen weitverbreiteten Konsens, der sich von den Grundideen der Demokratie ableitet. Doch man sollte hier kurz einhalten und sich fragen, ob diese Normen unsere heutige Realität tatsächlich zutreffend beschreiben. Es ist zwar richtig, daß die Mehrzahl der Staaten Demokratien mit Wahlrecht sind (117 von 191) und daß 1,3 Milliarden Menschen (22% der Menschheit) in freien Gesellschaften und weitere 2,3 Milliarden (39%) in Gesellschaften mit zumindest einigen Freiheitsrechten leben; doch werden weitere 2,3 Milliarden (wieder 39%) von undemokratischen Systemen regiert. Darüber hinaus ist die globale Hierarchie der Macht vertikal angeordnet, wobei die USA sichtbar obenan sitzen, gefolgt von einem halben Dutzend Mächten, die ebenfalls im Besitz von Nuklearwaffen sind. Die Finanzkrise in Ostasien und die anhaltende Armut geben Anlaß zu ernsthafter Besorgnis, und die globalen demographischen Daten belegen das Fortbestehen eklatanter Ungleichheiten in Bezug auf Lebenserwartung und Gesundheit.

Dennoch kann die Tatsache, daß ein demokratischer Konsens existiert, nicht als irrelevant abgetan werden. Er könnte für unsere Zukunft wichtig sein; er könnte eine Orientierung geben und einen Standard setzen für das politische Handeln der Menschheit. Mehr noch, dieser Konsens ist mit der beispiellosen Rolle verbunden, die Amerika in der Welt nach dem Kalten Krieg spielte. Amerika ist tatsächlich eine sich selbst regierende Gesellschaft, basierend auf einem Rechtsstaat und freier Marktwirtschaft. Auf wissenschaftlichem Gebiet leistet es Bahnbrechendes (von der Medizin über die Landwirtschaft bis hin zur Raumfahrttechnik), und es ist die einzige globale Supermacht. Das bedeutet, daß die internationale Politik heute von drei zentralen Faktoren bestimmt ist: von dem Primat der amerikanischen Macht, der Attraktivität der demokratischen Idee und dem Erfolg der freien Marktwirtschaft. Diese Faktoren stehen untereinander in einem Verhältnis der gegenseitigen Beeinflussung und Interdependenz.

Sie stellen darüber hinaus einen dramatischen Gegensatz zu den zentralen politischen Phänomenen des 20. Jahrhunderts dar. Man kann es wohl mit Recht das verbrecherischste und destruktivste Jahrhundert in der Geschichte der Menschheit nennen, beherrscht von utopischer Hybris, von Fanatismus und rücksichtslosem Dogmatismus. Pseudorationale Argumente, wie die Menschheit neu zu organisieren wäre, wurden als universale – in Wahrheit totalitäre – Vorstellungen propagiert. Um sie in die Wirklichkeit umzusetzen, machten sich die selbsternannten Herren der Geschichte an die Auslöschung derjenigen, die sie für a priori gesellschaftlich unwürdig hielten, sei es nach dem Kriterium der Rasse, sei es nach dem der Klasse.

Dies ist heute Geschichte, und wir dürfen uns des weltweiten Siegs der demokratischen Idee erfreuen. Doch wie sicher und von welcher Dauer ist diese neue Wirklichkeit? Leitet sie ein neues Zeitalter ein, oder ist sie höchst kontingent und verwundbar? Diese Frage bezieht sich unmittelbar auf den Zusammenhang zwischen der globalen Führungsrolle der USA einerseits und dem Verhältnis von Demokratie und freier Marktwirtschaft andererseits. Sie bezieht sich darüber hinaus auf eine gänzlich neue Problematik von zunehmender Bedeutung: auf das Wechselspiel zwischen gesellschaftlicher Kontrolle und einer dynamisch sich beschleunigenden Wissenschaft, insbesondere, was die wachsenden Möglichkeiten zur Veränderung bzw. “Verbesserung” des Menschen betrifft, bis hin zu der Möglichkeit, ihn klonen zu können. Kurz: Ob die Demokratie wirklich gesiegt hat, wird davon abhängen, wie sie mit den Problemen der politischen Macht, der Armut, d.h. der sozialen Gerechtigkeit, und mit der ethisch komplexen Frage zurechtkommt, wie das menschliche Leben verbessert werden kann, ohne seine Voraussetzungen zu zerstören.

Vorherrschaft vs. Demokratie

Häufig wird die Rolle Amerikas in der Welt als “hegemonial” beschrieben, und in einem gewissen Sinne trifft das auch zu. Es ist wahr, daß die amerikanische Überlegenheit heute ein zentrales Faktum der internationalen Politik ist. Die militärisch-politische Dimension dieser Aussage kann leicht überprüft werden: Kann man von irgendeinem anderen Staat behaupten, daß ein jäher Truppenabzug aus Fernost, vom Persischen Golf oder aus Europa unmittelbar massive negative Folgen für den Weltfrieden hätte? Dies träfe indes genau auf die amerikanische Militärmacht zu, die derzeit in Süd Korea, im Persischen Golf und in Zentraleuropa stationiert ist. Würden diese Truppen plötzlich abgezogen, so führte dies beinahe unausweichlich zu einem Krieg in Korea, einem neuen Konflikt im Persischen Golf und einer massiven Destabilisierung in Europa.

Amerika ist also gleichzeitig die Lokomotive der Weltwirtschaft, das Land, das die vorderste Front in der technologischen Innovation darstellt, und dabei eine enorme und weltweite kulturelle Anziehungskraft ausstrahlt (ob zum Guten oder zum Schlechten, ist eine Frage des Geschmacks). Darüber hinaus ist es auf politischer Ebene als einziges Land in die Sicherheits- und Stabilitätsfragen aller Kontinente verwickelt.

Gleichwohl bedeutet dies nicht, daß Amerika allmächtig wäre. Die Welt ist derzeit in einem politischen Erwachen begriffen, das viele unrealistische – individuelle und kollektive – Bestrebungen transportiert. Amerikas Möglichkeiten, diesen dynamischen Prozeß zu kontrollieren und zu steuern, sind begrenzt. Unnötig zu unterstreichen, daß die amerikanische Vorherrschaft nicht gleichzusetzen ist mit den Möglichkeiten und Ambitionen einer Diktatur.

Mehr noch, dem amerikanischen politischen System würde von seiner eigenen Natur her eine weltweite diktatorische Herrschaft widerstreben. Es ist gar nicht so einfach, amerikanische Ressourcen für ein längeres internationales Engagement zu mobilisieren, ganz zu schweigen von der öffentlichen Meinung und ihrem Widerwillen gegen den Einsatz von Gewalt, zumal in anderen Ländern. Das amerikanische demokratische System ist von seinem Wesen her abgeneigt gegenüber der Ausübung einer weltweiten imperialen Verantwortung. Es ist sogar wahrscheinlich, daß mit der Zeit der innenpolitische Widerstand gegen die weltweite Führungsrolle Amerikas steigen wird insbesondere angesichts den angeblichen Belastungen, die damit verbunden scheinen.

Es gibt wachsende Anzeichen dafür, daß die Amerikaner zunehmend Unbehagen, ja Groll gegenüber dem weltweiten amerikanischen Engagement empfinden. Nicht nur die Massenmedien, sondern auch die Öffentlichkeit widmet den innenpolitischen Angelegenheiten immer größere Aufmerksamkeit. Dieses Phänomen hat auch mit dem Aufstieg des Multikulturalismus in den USA zu tun, der es zunehmend schwierig macht, ein gemeinsames nationales Interesse zu definieren, welches einen ähnlich starken strategischen Zusammenhalt schafft, wie ihn Amerika während des Zweiten Weltkriegs oder auch zu Zeiten des darauffolgenden Kalten Kriegs erlebt hat. Darüber hinaus wird die Ausbreitung des Multikulturalismus begleitet von der wachsenden Beschäftigung der Amerikaner mit dem, was man “virtual reality” nennen könnte, wie sie das Fernsehen bietet. Passive Vergnügen werden immer mehr zum Hauptbestandteil des amerikanischen Lebensalltags. Diese Anzeichen lassen es zunehmend zweifelhaft erscheinen, ob eine demokratische Gesellschaft, die auf einer selbstbezogenen Massenkultur beruht, fähig sein wird, über einen längeren Zeitraum hinweg die Verpflichtungen einer weltweiten Führung auf sich zu nehmen.

Die Anarchie eindämmen

Man sollte jedoch nicht vergessen, daß in der näheren Zukunft d.h. in der nächsten oder übernächsten Generation , Amerika wahrscheinlich mit keiner einzigen Macht konfrontiert sein wird, die in der Lage wäre, die amerikanische Führungsposition herauszufordern. Selbst eine neue Machtkoalition wäre kaum in der Lage, die Führung zu übernehmen. Folglich besteht ein weiterer Aspekt der heutigen Realität darin, daß die einzige Alternative zur amerikanischen Führung die globale Anarchie zu sein scheint, eine progressive Fragmentierung der Stabilität weltweit, eine Verschärfung der internationalen Konflikte, mit all den damit verbundenen negativen sozialen und politischen Folgen. Amerika ist also im gegenwärtigen Moment der Geschichte die “unverzichtbare” globale Macht, dennoch könnte seine Führungsrolle langfristig durch von innen kommende eher kulturelle Impulse unterminiert werden, die ihre Wurzeln im demokratischen System selbst haben.

Wir müssen uns daher folgende Frage stellen: Kann die derzeitige weltweite Übermacht Amerikas schrittweise in irgendeine Form von dauerhafter internationaler Kooperation verwandelt werden, die auf realen Voraussetzungen globaler Macht beruht und nicht auf idealistischen Formeln, die sich auf eine illusionäre Weltregierung beziehen wie etwa die Vereinten Nationen? Auf irgendeine Weise müssen zusätzlich zu Amerika als derzeit einziger Weltmacht andere regionale Mächte zu irgendeiner Form strukturierter internationaler Kooperation herangezogen werden, die dann als Grundlage für stabile politische Entscheidungen in globalem Maßstab dienen kann. Wie könnte eine solche Kooperation geschaffen werden, ohne inkompatibel zu sein mit der noch herrschenden, möglicherweise aber auf eine Übergangszeit beschränkten Ausübung der weltweiten Vorherrschaft Amerikas?

Diese Schwierigkeiten zeigen sich heute besonders deutlich in den Beziehungen zwischen den USA und China. China gewinnt als regionale Macht zunehmend an Bedeutung. Insofern wird das Verhältnis zwischen diesen beiden Staaten immer wichtiger. Tatsächlich könnte es innerhalb einer Generation zu der weltweit wichtigsten bilateralen Beziehung werden. Allerdings fällt es schwer sich vorzustellen, diese Beziehung auf die Menschenrechte bzw. den Primat der Demokratie zu bauen. Man könnte die Hoffnung hegen, daß sich die Demokratie mit der Zeit in China durchsetzen wird, ebenso wie die politische Anerkennung der Menschenrechte. Dennoch zwingt das Bedürfnis nach stabileren internationalen Kooperationen zwischen den größeren Mächten als Alternative zu Konflikt oder Anarchie zu einer vorsichtigen, gleichwohl zielführenden Betonung des Primats geopolitischer Stabilität. Allerdings impliziert ein derartiger Kompromiß zwischen demokratischen und nichtdemokratischen Prinzipien das Risiko, zur Legitimierung einer autoritären Regierung beizutragen, statt die Demokratie zu stärken.

Die globale Demokratie könnte auch von einer anderen Erscheinung internationaler Politik bedroht werden, nämlich der Streuung von Macht im Gefolge der fortschreitenden Verbreitung von Massenvernichtungswaffen von größeren zu kleineren politischen Entitäten. Es sind nicht nur die kleineren Mächte, die heute in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen, es ist auch sehr wahrscheinlich, daß in absehbarer Zukunft sich nicht nur Staaten, sondern auch fanatische politische Organisationen Zugang zu solchen Waffen verschaffen.

Die Zunahme des internationalen Terrorismus in den letzten Jahren wird mit wachsender Besorgnis beobachtet. Der erstaunlichste Aspekt dieses Terrorismus ist seine technologische Rückständigkeit. Bis heute wird die Mehrzahl der terroristischen Aktionen mit Mitteln verübt, die sich auf einfache Weise im Handel besorgen lassen und die denen sehr ähnlich sind, die die Anarchisten schon vor 150 Jahren verwendet haben. Die meisten Terroristen verlassen sich für ihre Taten immer noch auf den Revolver und die Bombe. Der einzige terroristische Akt, der sich einer einigermaßen anspruchsvollen Technologie bediente, war der Saringas-Anschlag in der Tokyoter U-Bahn. Es ist wahrscheinlich, daß die Terroristen ihre Bescheidenheit eines Tages aufgeben werden, vor allem vor dem Hintergrund, daß die Haupthindernisse für den Erwerb von Massenvernichtungswaffen: technologische Komplexität und hohe Kosten, inzwischen immer weniger eine Rolle spielen. Kurz gesagt, früher oder später könnte die Welt sich mit einem nuklearen Guerilla- oder Partisanenkrieg konfrontiert sehen.

Vielleicht würde diese Gefahr einen Grad an internationaler Kooperation erforderlich machen, der ebenfalls mit dem Primat des demokratischen Ideals kollidieren könnte. Darüber hinaus muß man zugeben, daß die amerikanische Politik, die Verbreitung nuklearer Waffen zu verhindern, nie wirklich konsequent verfolgt wurde. Tatsächlich ist die Politik der USA in dieser Sache sehr selektiv. Ganz offen verhalfen die USA Großbritannien dazu, eine Nuklearmacht zu werden. Ebenso gibt es verläßliche Informationen, daß die USA Frankreich diskret geholfen haben, sein atomares Rüstungsprogramm zu verfolgen. Auch über den Erwerb von Atomwaffen durch Israel haben sie großzügig hinweggesehen. Eine solche selektive Politik der non-proliferation trägt natürlich nicht gerade dazu bei, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern. Die USA befinden sich hier in einem Dilemma, das sie bis heute nicht haben lösen können.

Eine wirklich universelle Politik der Nichtverbreitung müßte Garantien bieten für Länder, die gar nicht erst danach trachten, sich atomar aufzurüsten. Diese müßten vor jenen Nachbarn geschützt werden, die dies tun. Jedoch bleibt es zweifelhaft, ob demokratische Regierungen solche Garantien anzubieten bereit wären, und es ist fast sicher, daß der amerikanische Kongreß dergleichen nicht zusagen würde, nicht einmal befreundeten Staaten. Doch ohne derartige Garantien ist eine globale Politik der Nichtverbreitung nicht viel mehr als ein politischer Slogan.

Die einzig praktikable Alternative in diesem Zusammenhang wäre eine kollektive Anstrengung der wichtigsten Nuklearmächte inklusive der autoritären mit dem Ziel, die Ausbreitung der Massenvernichtungswaffen zu stabilisieren und zu begrenzen. Doch würde dies einen Abschied bedeuten von der Demokratie als grundlegendem Prinzip für internationale Politik und statt dessen zwangsläufig das Prinzip der Machthierarchie stärken, eine Hierarchie, die mit dem Streben nach Förderung der Demokratie nicht in Einklang steht.

Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit

Der anhaltende wirtschaftliche Erfolg Amerikas, der Kollaps des sowjetischen Systems und die damit verbundene Diskreditierung des Kommunismus haben eine neue Orthodoxie hervorgebracht: Der freie Markt ist zum globalen Dogma geworden, mit Milton Friedman und Friedrich Hayek als Säulenheiligen. Die wechselseitige Beziehung und Abhängigkeit zwischen freier Marktwirtschaft und Demokratie werden heute als selbstverständlich angesehen.

Dennoch gibt es Anlaß zu Besorgnis: Man denke an die Finanzkrise in Fernost, an die Anzeichen von wirtschaftlicher Stagnation und an die die wachsende Arbeitslosigkeit in Westeuropa oder an die anhaltende Unfähigkeit Rußlands und der Ukraine, Reformen durchzusetzen. Es scheint nicht länger universell gültige Rezepte für eine erfolgreiche wirtschaftliche Transformation zu geben. Und es ist auch nicht selbstverständlich, daß die Erfolge Polens oder Estlands sich ohne weiteres auf andere postkommunistische Länder übertragen lassen, die unter ganz anderen Bedingungen agieren und ein ganz anderes historisches Erbe mitbringen.

Ähnlich ist es heute weder evident, daß die demokratische Transformation der asiatischen Länder sich der Entstehung des freien Marktes verdankt, noch daß umgekehrt der freie Markt durch die Existenz der Demokratien gefördert wird. Eine solche Entkoppelung und die damit verbundenen Kollisionen zwischen Markt und Demokratie stellen für eine Reihe von Staaten in Fernost inzwischen eine wachsende Bedrohung dar. Man muß überdies das zunehmende Unbehagen in vielen Teilen der Welt zur Kenntnis nehmen, das Institutionen wie die Weltbank und der IWF mit ihrem restrktiven Prinzip hervorrufen, eine durch und durch gerechte und stabile Gesellschaft zu fördern, eine Gesellschaft, die nicht nur auf der politischen Ebene sondern auch in ihren sozio-ökonomischen Dimensionen demokratisch ist.

Ebensowenig kann man die Tatsache übersehen, daß trotz des globalen wirtschaftlichen Wachstums das relative Ausmaß der Armut weltweit zugenommen hat. Statistiken der Weltbank und der Vereinten Nationen zeigen, daß im Verlauf der letzten 30 Jahre der Anteil der Weltbevölkerung, der in absoluter Armut lebt, nicht nur nicht zurückgegangen, sondern gewachsen ist. Die anhaltende Bevölkerungsexplosion, vor allem in Asien, Afrika und Lateinamerika, gibt Anlaß zu wachsender Besorgnis über die sozio-ökonomische Stabilität der betroffenen Staaten und erschüttert die Vorstellung einer inhärenten Interdependenz zwischen Demokratie und freier Marktwirtschaft.

Ganz abgesehen von China: Wenn es sein quasiautoritäres politisches System beibehält, während es weiter wirtschaftlich wächst, bietet sich den ärmeren Regionen der Erde ein alternatives Modell sozialer Entwicklung an. Das chinesische Modell wird dann in vielen Teilen der Welt, insbesondere in den verarmten, als das gerechtere und insofern ansprechendere erscheinen. Und was Indien betrifft, so ist es jetzt noch zu früh, um beurteilen zu können, ob die politische Demokratie, die dort seit einigen Jahrzehnten besteht, eines Tages ein sozial gerechteres und erfolgreicheres Wirtschaftssystem erhalten wird – vorausgesetzt diese Demokratie überlebt die wachsenden inneren Spannungen des Landes.

Zusammenfassend: Das Problem der weltweiten Armut kann zu einer zunehmenden Herausforderung für die Koppelung zwischen Demokratie und freier Marktwirtschaft werden.

Wissenschaft und menschliche Identität

Schließlich steht in naher Zukunft noch eine dritte Herausforderung für die Demokratie an, die sich als die gewichtigste erweisen könnte. Wir befinden uns in einem Zeitalter, in dem die Wissenschaft sich verlagert und von einem Instrument menschlicher Kontrolle über die äußere Wirklichkeit zu einem Instrument der Eroberung der inneren “Wirklichkeit” des Menschen wird. Mit anderen Worten, die Wissenschaft begnügt sich nicht mehr mit der Kontrolle über die Umwelt des Menschen, sondern befindet sich an der Schwelle zur Manipulation des Menschen selbst. Bis jetzt bedeutete die Geschichte der Menschheit zugleich einen kontinuierlichen Zuwachs an Wissen und Kontrolle über die Außenwelt, von der Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität über die industrielle Revolution bis zur Erforschung des Weltalls.

Doch die bedeutendsten wissenschaftlichen Errungenschaften von heute haben mit dem zu tun, was man als innere Wirklichkeit bezeichnen könnte, d.h. mit dem, was der Mensch zu sein scheint und was er möglicherweise werden könnte. Mit dieser dramatischen Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Wissenschaften sind enorme Hoffnungen verknüpft. Die menschliche Lebenserwartung wurde verlängert, immer mehr Krankheiten werden besiegt. Doch man muß sich auch zunehmend Sorgen machen über die langfristigen Implikationen der neuen wissenschaftlichen Möglichkeiten wie das Klonen von Menschen, die Erweiterung der menschlichen Intelligenz und die Schaffung künstlicher Intelligenz – zweitrangige Dinge wie das physische Aussehen einmal beiseitegelassen. Auf welche Weise werden die Menschen aus den verschiedenen Teilen der Erde und auf den verschiedenen Sprossen der sozialen Leiter Zugang zu diesen Errungenschaften haben? Wer wird als erster die Vorteile genießen und in welchem Ausmaß? Birgt dies nicht die Gefahr einer völlig neuen und grundlegenden Teilung der Menschheit zwischen denen, die am meisten und denen die am wenigsten davon profitieren können? Und wird das nicht ernsthafte politische Probleme heraufbeschwören?

Es drängen sich weitere, noch beunruhigendere Fragen auf. Wer – und auf welcher Grundlage – wird die Entscheidungen treffen über die Richtlinien zur Nutzung dieser expandierenden wissenschaftlichen Möglichkeiten? Wer wird definieren, wie weit die Wissenschaft gehen darf in der Transformation des Menschen, in der Kontrolle und Verbesserung seiner äußeren Erscheinung und in der Erweiterung seiner Intelligenz? Wer wird entscheiden über die Schöpfung quasi künstlicher menschlicher Wesen durch Klonen? Und können diese Fragen auf eine demokratische Weise gelöst werden, mit einer einfachen Mehrheit als hinreichender Legitimation?

Schon heute rufen diese Fragen in den USA intensive, ja quälende Diskussionen hervor. Bereits seit einiger Zeit gibt es heftige politische Konflikte über Themen wie die Abtreibungsfrage, die mit Gewaltanwendung verbunden sind und sogar zu terroristischen Akten geführt haben. Hinter diesem Aufruhr verbirgt sich die philosophische Frage danach, wie der Anfang des menschlichen Lebens zu definieren ist. Und es wird nicht allzu lange dauern, bis die Euthanasiedebatte ähnliche Konflikte hervorrufen wird: Es wird um die Frage gehen, ob die Gesellschaft das Leben einer zunehmenden Zahl alter Menschen verlängern soll, die unproduktiv sind und abhängig von sozialer Unterstützung. Es wird Stimmen geben, die für die Einführung der Euthanasie als sozialpolitischer Maßnahme plädieren. Offensichtlich wird dies nicht nur politische und ökonomische Debatten provozieren, sondern auch zu tiefen und schmerzhaften moralischen Dilemmata führen. Eine Lösung dieser ethischen Fragen wird nicht einfach sein, und es ist sehr zu bezweifeln, ob sie sich aus dem demokratischen Prozeß wird ableiten lassen können.

Jede Diskussion über die rechte Nutzung der Wissenschaft zur Gestaltung des menschlichen Lebens – einschließlich der Entscheidungen über seinen Anfang und sein Ende, und bald auch über seine künstliche Erzeugung berührt unausweichlich ethische Prinzipien. Wer wird hier in der Lage sein zu bestimmen, was falsch und was richtig ist? Wer in einer demokratischen Gesellschaft ist in der Position, essentiell philosophische Urteile über ethische Grundprobleme zu fällen? Solche Fragen werden um so schwieriger zu lösen sein, als die modernen säkularisierten Gesellschaften einer religiösen Führung zunehmend skeptisch gegenüberstehen. Leider gibt es keinen Grund für die Annahme, daß demokratische Entscheidungen in solchen Belangen notwendigerweise ethisch richtig sein werden. Und doch müssen Urteile gefällt werden, weil sonst die Eigendynamik des wissenschaftlichen Prozesses seine eigene Antwort diktieren wird. Sollte es so kommen, werden wesentlich ethische Fragen nicht auf der Grundlage menschlicher Urteilskraft und Sensibilität gelöst, sondern durch die schiere Wucht des exponentiellen Wachstums der wissenschaftlichen Möglichkeiten, menschliches Leben zu verändern, zu manipulieren und sogar zu “schöpfen”.

Kurz: die Dynamik einer sich selbst überlassenen Wissenschaft kann zu einer Bedrohung für die humanistischen Grundlage der Demokratie werden: für die Achtung der Heiligkeit der Person.

Agenda

Für Amerika, das in vielerlei Hinsicht das gesellschaftliche Laboratorium der Menschheit darstellt, ist es entscheidend zu verstehen, daß seine historische Rolle heute darin besteht, eine Übergangsfunktion wahrzunehmen. Amerika ist verpflichtet, einen institutionellen Rahmen zu entwickeln für die schrittweise und stabile Delegierung seiner gegenwärtigen globalen Vormachtstellung. Das erfordert eine verantwortungsbewußte Machtaufteilung und -ausübung in einem geordneten geopolitischen Prozeß.

Zweitens muß sich die freie Marktwirtschaft, wenn sie global erfolgreich sein will, gegenüber der menschlichen Dimension aufgeschlossener zeigen. In einer Welt, die immer weniger Geduld zeigt gegenüber sozialer Ungerechtigkeit und globaler Armut, geziemt es sich für das Wirtschaftssystem – und insbesondere für die internationalen Finanzinstitutionen -, sensibel für gesellschaftliche Verantwortung zu sein. Diese Verantwortlichkeit ist für die wirtschaftliche Entwicklung genauso entscheidend wie Effizienz und Leistung.

Drittens ist es von enormer Bedeutung, daß die Wissenschaft ein Werkzeug der Menschheit bleibt und nicht zu ihrem Meister wird. Wenn sie ein Werkzeug sein soll, muß sie von einigen gemeinsamen Werten getragen werden, auf deren Grundlage sowohl die Richtung als auch die Grenzen wissenschaftlicher Experimente mit dem menschlichen Wesen festgelegt werden. Dies ist zweifelsohne die schwierigste Aufgabe.

Nach den vorliegenden Überlegungen scheint es zu früh, sich des Sieges der Demokratie sicher zu sein. Unbestritten hat sie über die utopischen Gewißheiten gesiegt, die das zwanzigste Jahrhundert so lange in ihrem Bann hielten. Aber wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, daß der neue demokratische Konsens einem agnostischen Relativismus den Weg ebnen könnte, der zu allgemeiner Begriffsverwirrung, gesellschaftlicher Demoralisierung, politischer Fragmentierung und intellektueller Desorientierung führt. Globale politische Anarchie derzeit die einzige Alternative zur stabilisierenden Vormachtstellung Amerikas könnte auf diese Weise einhergehen mit globaler intellektueller Anarchie.

Published 30 June 1999
Original in English
Translated by Michaela Adelberger
First published by Transit

Contributed by Transit © Zbigniew Brzezinski / Michaela Adelberger / Transit / Eurozine

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