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Mars: Die NASA lädt zu Verschwörungstheorien ein

Die Nasa hat Jahrzehnte Erfahrung damit, die Ergebnisse ihrer
Weltraumforschung quasi in Echtzeit zu popularisieren. Ihre europäische
Schwesterbehörde ESA hingegen funktioniert nach dem Motto: Erst die
Wissenschaft und dann viel später die Öffentlichkeit. Zugleich setzt sich
die Nasa mit einer gewissen Nachsicht den zahllosen
Verschwörungstheorien aus, die in den USA grassieren. Ihr
Kommunikationsmodell erlaubt auch noch den Anhängern der absurdesten
Behauptungen, dabei zu sein und mitzureden – und zwingt damit alle
Verschwörer zu einer Rationalität, der sich ihre Theorien eigentlich
verweigern.

5. Januar 2004, 4.15 Uhr. Nasa-TV bietet im Internet eine
Direktübertragung von der Landung der Sonde “Spirit” auf dem Mars. Noch
eine Stunde bis zum Eintritt des Flugkörpers in die Atmosphäre des Roten
Planeten. Auf ihrem Platz am Rande des Kontrollraums im Jet Propulsion
Laboratory (JPL) der Nasa präsentiert eine Journalistin die aktuellen
Nachrichten, spielt immer wieder Videos ein, die verschiedene Aspekte der
Mission erläutern. Außerdem sind aus unterschiedlichen
Kameraperspektiven die Spezialisten im Kontrollraum zu sehen. Man kann
ihre Kommunikation mit den Flugkörpern verfolgen.

Den Abstieg der Sonde durch die Marsatmosphäre erleben die Zuschauer am
heimischen Bildschirm zeitgleich mit der Nasa-Mannschaft. Sie dürfen die
Begeisterung teilen, die im Kontrollraum ausbricht, als die Sensoren die
erfolgreiche Landung melden. Sie sehen auch sofort die ersten Bilder, die
vom Mars übertragen werden. Bei der anschließenden Pressekonferenz mache
ich via Webcam im Saal einen Bekannten aus, der sich mit einem
Nasa-Mitarbeiter unterhält. Ich nehme per Handy Kontakt auf. Er reagiert,
ich stelle meine Frage, Minuten später schickt er die Antwort per
E-Mail. Die Illusion ist perfekt: Ich war dabei – zu Hause und doch
mitten im Geschehen.

Als die Europäische Raumfahrtbehörde (ESA) zehn Tage zuvor die Ankunft
ihres Raumfahrzeugs “Mars Express” in der Umlaufbahn des Mars bekannt
gab, herrschte eine völlig andere Stimmung. Kein Kamerablick in einen
Kontrollraum, keine Direktübertragung einer Pressekonferenz – kein Leben
mit dem Mars. Es dauerte mehrere Wochen, bis die Journalisten endlich ein
Foto bekamen, ein schönes Foto, aber eben nur eines. Und das Gerücht, es
gebe noch mehr.

Für die ESA scheint es undenkbar, dass Bilder an die Medien gehen, bevor
sie nicht auf allen Ebenen des bürokratischen Apparats geprüft und
ausgewertet sind. Die Öffentlichkeit erhält nur verblichene Abzüge, wie
Aufkleber auf einem alten Reisekoffer. Mitnehmen auf die Reise will man
sie offenbar nicht. In Houston zeigen sie den Internetsurfern, wie ein
Bild entsteht, schwarzweiß zunächst, dann farbig.

Wie groß der Unterschied zwischen der amerikanischen und der
europäischen Vorstellung von Popularisierung wissenschaftlicher Arbeit
doch ist! Die ESA trennt streng zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit.
Erst nachdem die Resultate geprüft sind, dürfen sie publiziert werden.
Die Nasa sieht ein übertragenes Bild als Momentaufnahme, die ESA als
Blick auf den Mars. Im einen Fall darf die Öffentlichkeit aktiv Anteil
nehmen, im anderen Fall bleibt sie Zuschauer.

Damit bleibt die ESA in traditionellen Vorstellungen befangen: Sie
beharrt auf dem Abstand zwischen den Experten und dem Publikum – früher
hätte man von den Gelehrten und den Ungebildeten gesprochen. Die Nasa
dagegen bietet den Zuschauern an, sich einzumischen. Hier stehen sich
nicht Experten und Öffentlichkeit gegenüber, sondern alle sind je nach
Fähigkeiten Teil der Auswertung. Was die Spezialisten im Kontrollraum
diskutieren, darf seinen Widerhall im öffentlichen Raum finden.

Die divergenten Definitionen des wissenschaftlichen Resultats, der
deutliche Kontrast zwischen Kalifornien und den Niederlanden, zwischen
Nasa-TV und den Internetseiten der ESA führen auch zu Irritationen.
Houston bietet alles an, was im Kontrollraum gesagt und getan wird – aber
man bekommt nicht die Bilder, die man erwartet. Seit Jahrzehnten kennen
die Zuschauer die Farbfotos vom Mars, die simulierten Flüge über die
Oberfläche. Doch jetzt scheint der Mars plötzlich aus dem Bild geraten zu
sein.

Keine Blicke wie in den Science-Fiction-Filmen aus einem
Raumschifffenster auf die Landschaften des Planeten, keine Kamera, die
jeden Augenblick des Fluges aufzeichnet. Der Internetsurfer, sofern er
nicht selber ein Raumfahrtexperte ist, erlebt die Aufregung im
JPL-Kontrollraum mit, ohne ihre Anlässe zu verstehen. Informationen gibt
es nur auf den Bildschirmen, und selbst wenn man sie lesen könnte, würde
man die Zahlenreihen nicht verstehen. Wir blicken in einen geschlossenen
Raum, in den der Himmel nur durch die Kabelverbindungen zu weit
entfernten Antennen und Radioteleskopen Eingang findet. Der Mars wird
zergliedert wie der Patient im Krankenhaus oder die Liebe in einem
Pornofilm. Die Atmosphäre, die Bodenanalyse, die Geschwindigkeit der
Sonde – plötzlich ist der Mars nicht mehr der rätselhafte Rote Planet,
sondern ein Datensatz, der auf den Monitoren Dutzender von Experten
erscheint. Erst bei der Pressekonferenz fügen sich die Bruchstücke wieder
zusammen; man hört Erklärungen und sieht endlich ein paar schöne Bilder,
die irgendwie nach dem Planeten Mars und den fiktiven Marsbewohnern
aussehen.

Was den Internetsurfer dabei verstört, ist seine Schwierigkeit, sich aus
jenen traditionellen Vorstellungen von wissenschaftlicher Erkenntnis zu
lösen, die auch die ESA prägen. Insgeheim glaubt er noch immer, dass
Wissenschaft die Anschauung der Natur bedeutet, die Aufzeichnung von
Tatsachen. Doch die Wissenschaft hat sich von jeher einen Raum jenseits
der Natur geschaffen, in dem sie ihre Muster und Kategorien aufbewahrt –
Abbildungen, die mit den schönen Farbfotos in populären Zeitschriften
wenig zu tun haben. Nasa-TV zwingt den Zuschauer zum Nachdenken über die
Arbeit von Wissenschaftlern und seine eigenen Vorstellungen von
Wissenschaft.

Eine weitere Irritation: Der Kommunikationsstil der Nasa entzieht
durchaus nicht den Fantasien den Boden, von denen zum Beispiel auch die
Fernsehserie “Akte X” lebt. Obwohl der Weltraum nun offen und zugänglich
scheint, obwohl wir alles sehen und hören, was im JPL vor sich geht – es
gibt weiterhin unzählige Behauptungen, dass uns etwas verschwiegen wird.
Angesichts der Dauerkonjunktur von Verschwörungstheorien in den USA
scheinen die Bemühungen der Nasa fast sinnlos. Seit 1998, als die Sonde
“Mars Global Surveyor” in der Cydonia-Ebene landete, dort, wo sich die
1976 von der Sonde “Viking” fotografierte Hügelkette befindet, die einem
Gesicht ähnelt, ist eine Flut von Büchern erschienen, in denen der Nasa
Geheimniskrämerei unterstellt wird. Und indem die Nasa solche Gerüchte
ernst nimmt und zum Beispiel durch neue Bilder von der Cydonia-Ebene zu
entkräften sucht, gibt sie ihnen nur weiteren Auftrieb.

Doch der Erfolg der Verschwörungstheorien wirkt nur befremdlich, solange
man dem traditionellen Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit
verhaftet bleibt. Es ist tatsächlich nicht einzusehen, weshalb einige
Kameras in einem Kontrollraum jeden Verdacht zerstreuen sollten –
schließlich zeigen sie nur Bilder, die kaum zu entschlüsseln sind und
darum erst recht Misstrauen wecken können.

Und außerdem geht es der Nasa ja gar nicht darum, die Spekulationen à la
“Akte X” zu unterbinden, sondern man lebt damit. Sie gelten als
legitimer Beitrag zur Diskussion. Nicht von gleichem Gewicht wie die
Debatten unter wissenschaftlichen Experten, aber als Teil der
Nasa-Strategie, wissenschaftliche Entdeckungen von Anfang an mit der
Öffentlichkeit zu teilen.

Den Traditionalisten mag das skandalös erscheinen: Wie kann man
unwissenschaftliche Vorstellungen oder gar den Wahn von den fliegenden
Untertassen in dieser Weise ernst nehmen? Tatsächlich bestehen aber
erstaunliche Nähen zwischen den scheinbar verschiedenen Welten. Nicht nur
dass die Nasa 1998 bereit war, die Cydonia-Ebene erneut zu fotografieren
– manche Verschwörungstheorien stammen von den Raumfahrtexperten selbst,
nicht etwa von “schlecht informierten” Zivilisten.

Sogar Behauptungen, die Air Force habe die Landung Außerirdischer
vertuscht, sind in Militärkreisen seit langem populär. Zu den wichtigsten
Vertretern dieser Theorie gehört Richard Hoagland, ein ehemaliger
Nasa-Mitarbeiter. Und in der Debatte um die vorgebliche Künstlichkeit des
“Gesichts” auf dem Mars tun sich vor allem Ingenieure aus den großen
US-Technologieunternehmen hervor, gelegentlich auch Nasa-Spezialisten.
Schließlich hatten lange Zeit nur diese Experten Zugang zu Computern, die
in der Lage waren, die Bilder vom Mars so aufzulösen, dass eine
Kontroverse über ihre Interpretation beginnen konnte.

Heute macht man keinen Unterschied mehr zwischen wissenschaftlichen
Debatten und den Wahnvorstellungen der Untertassensekten. Alle Fragen
aller Beteiligten werden gleich behandelt – ob sie nun von Forschern,
Journalisten oder interessierten Bürgern stammen oder eben von den
Bewunderern des Serienhelden Special Agent Fox Mulder. Jeder hat das
Recht, sich in die Diskussion einzumischen.

Mit dieser Aufhebung der Trennung zwischen Wissenden und Unwissenden
dreht die Nasa den Spieß aber auch um: Nun liegt die Beweislast bei den
Vertretern der Verschwörungstheorien. Und mit einem Mal zeigen diese sich
als Anhänger traditioneller rationalistischer Vorstellungen und
entdecken die Vorzüge der Unterscheidung zwischen Eingeweihten und
Ahnungslosen. Gegen die von der Nasa praktizierte Egalität aller Forscher
müssen sie immer noch behaupten, es werde ihnen etwas verschwiegen. Sie
erklären sich zu Unwissenden und vermuten eine verborgene Wahrheit. Sie
berufen sich auf das klassische Wissenschaftsprogramm, das sie doch
abgelehnt haben. An der rationalen Debatte, die sie fordern, dürften sie
eigentlich nicht teilnehmen.

Natürlich ist ein solcher Paradigmenwechsel gewöhnungsbedürftig. Wer
kann sich denn plötzlich als Forscher verstehen? Hat man uns nicht
beigebracht, dass nur die Wissenschaft gesicherte Erkenntnisse verbürgt?
Und nun sollen wir akzeptieren, dass die Wissenschaft sich auf ein
Kräftemessen mit zweifelhaften Kontrahenten einlässt. Wenn wir ein
Medikament einnehmen oder ein Auto kaufen, verlassen wir uns auf
gesicherte Erkenntnisse: Wir wollen nicht Neuland betreten, sondern
vertrauen auf die Ergebnisse der Entwicklungsabteilungen. Unser Körper
oder unsere Autowerkstatt sollen kein Experimentierfeld sein.

Der zunehmende Erfolg von Verschwörungstheorien gründet sich nicht auf
die Forderung nach Zugang zu gesicherten wissenschaftlichen
Erkenntnissen, sondern eher auf den Anspruch, an den Diskussionen
teilnehmen zu dürfen. Es geht nicht um die Enthüllung des Verborgenen,
sondern um die Erlaubnis, darüber zu debattieren. Und genau darum – weil
dies erlaubt wird, weil man nicht länger auf den alten Formen besteht –
kommen immer neue Verschwörungstheorien auf.

Diese Form der öffentlichen Kontroverse kann sich natürlich in jedem
beliebigen Themenbereich entwickeln. Der Mars bietet allerdings – nicht
erst heute, wie oft behauptet wird, sondern schon seit dem Ende des 19.
Jahrhunderts – eine besonders beliebte Projektionsfläche. Das hat einen
ganz einfachen Grund: Als die Erforschung dieses Planeten begann, gab es
noch keine strikte Trennung zwischen seriösen Wissenschaftlern und
Amateuren. Ein Jahrhundert später sind wir wieder an diesem Punkt
angelangt.

Published 19 May 2005
Original in French
Translated by Edgar Peinelt
First published by Le Monde diplomatique 12/2004

Contributed by Le Monde diplomatique © Pierre Lagrange/Le Monde diplomatique Eurozine

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