Freiheitsstatu(t)en

Räumliche Positionierung als eine Blaupause des Bösen

“Die Vereinigten Staaten engagierten sich in zwei unterschiedlichen Konflikten, Operation Enduring Freedom (OEF) in Afghanistan und Operation Iraqi Freedom (OIF) im Irak. Die Rigorosität, mit der der Präsident dabei zu Werke ging, hatte zur Folge, dass Taliban- und Al-Qaida-Kämpfern der Schutz durch die Genfer Konventionen verwehrt wurde.”1
Schlesinger Report

“Eine Anwendung des Völkerrechts als strengste Methode der Architekturkritik ist noch nie dringlicher gewesen als heute. Auf Computermonitoren und an Zeichentischen ausgeheckte Verbrechen hinsichtlich der Gestaltung der gebauten Umwelt machen es zum ersten Mal in der Geschichte erforderlich, dass Architekten/Planer auf die Anklagebank eines internationalen Gerichtshofes gesetzt werden.”2
Eyal Weizman

Nach-Lese

Der folgende Essay erörtert die Beziehung zwischen Raum und Macht. Er widmet sich der Frage, inwieweit räumliche Bedingungen die bewusste Verletzung von Menschenrechten beeinflusst haben und weiterhin beeinflussen. Nur wenige Jahre nach Anbruch des 21. Jahrhunderts hat ein Schwinden des öffentlichen Vertrauens in die politischen Entscheidungsprozesse und die daraus resultierende Politik einer anmaßenden universellen Ethik aus abgedroschenen Plattitüden den Weg bereitet. Insbesondere nach 9/11 kann man bei Politikern in zunehmendem Maße die Bereitschaft erkennen, die Inszenierung und die Werkzeuge der Raumplanung zu verändern, um Mikroklimata zu erschaffen, die nicht an Recht und Gesetz gebunden sind. Es gibt Beweise dafür, dass die Raumplanung als ein Mechanismus benutzt wird, mittels dessen Raum in eine strategische Waffe zur physischen Bestrafung umfunktioniert wird. Gleichzeitig kann man eine Rückbesinnung auf Themen wie Repräsentation und psychologische Rahmenbedingungen sowie eine zunehmend monotheistisch geprägte Politik beobachten.

Im Jahre 2004 interpretierte der italienische Philosoph Giorgio Agamben den von den USA geführten “Krieg gegen das Böse” neu und charakterisierte diesen als eine symbolische Geste mit dem Ziel einer grundlegenden Veränderung der politischen Landschaft. Zwei Monate nach den Anschlägen vom September 2001 autorisierte die Bush-Regierung – inmitten einer von ihr als nationaler Notstand empfundenen Situation – die uneingeschränkte Verhaftung von Ausländern, die terroristischer Aktivitäten verdächtigt wurden. Diese Politik muss laut Agamben als “Ausnahmezustand”3  verstanden werden, als eine machtvolle Strategie, die es ermöglicht, eine neuzeitliche Demokratie in eine zivile Diktatur umzuwandeln. Agamben vertritt die These, der eigentlich nur als vorübergehende Maßnahme gedachte Ausnahmezustand sei nunmehr zu einem festen Bestandteil des amerikanischen Alltags geworden.

Als Präsident George W. Bush seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin eine TV-Botschaft zukommen ließ,4 in der er betonte, wie wichtig es sei, auch in Kriegszeiten die Grundprinzipien der Demokratie zu beherzigen, da schien Bush darüber besorgt, dass Putin nach dem Massaker von Beslan5 eine Intensivierung und Stärkung der “Vertikalität der Macht”6  angekündigt hatte. Seither hat der amerikanische Präsident jedoch immer wieder hervorgehoben, dass die “alten” Regeln und internationalen Rechte in “Kriegszeiten” – die seinem derzeitigen Verständnis nach weiterhin herrschen –, nicht mehr anwendbar seien und deshalb “vorübergehend” außer Kraft gesetzt werden könnten. Diese Entwicklung bereitet zweifellos nicht nur den Boden für einen “Krieg”, der keinerlei Rechtfertigung bedarf, sondern auch für eine gegen den Terrorismus gerichtete Politik, die sich nicht um dessen mögliche Ursachen beziehungsweise dessen Verhinderung kümmert. Statt dessen verstärkt sie eine Politik, die bereits in Kraft gewesen war, bevor die Zwillingstürme einstürzten: “Der ‘Krieg gegen den Terrorismus’ muss stets in Anführungszeichen gesetzt werden, denn es handelt sich dabei nicht um einen Krieg im herkömmlichen Sinn – es gibt keinen nationalen Feind, keine Truppen, keine territorialen Ziele als solche”.7 Statt die Ursachen zu bekämpfen, hatte die US-Regierung eine darauf abzielende multilaterale Politik schon viel zu lange blockiert. Diese Politik der Vereinigten Staaten erwies sich schließlich als ein Bumerang und verleitete – angeheizt von irrationalen Motiven, die auf die “Überrumpelung” durch den Feind zurückzuführen waren – zu übereilten Schlussfolgerungen. Schon 1992 hatte die CIA-Zentrale zahllose Überseetelegramme aus Afghanistan und Pakistan empfangen. Der Verbindungsmann der CIA-Außenstelle in Islamabad hatte seine Vorgesetzten darüber informiert, dass Afghanistan ein Zentrum des internationalen Terrorismus zu werden drohte.8 Doch 1992 befolgten diejenigen, die über diese Entwicklung im Bilde waren, nach wie vor Washingtons unilaterale Politik.

Heute werden, gemäß diesem neuen Verständnis von Geopolitik, “Rechte” dem höheren Prinzip eines potentiellen Krieges und der Reaktion auf den internationalen Terror geopfert. In diesem Sinne kann eine entsprechend bevollmächtigte Militärordnung internationales Recht zeitweilig aufheben. So haben Militärrichter die zivilen Gerichte ersetzt und üben, im Namen der nationalen Sicherheit und des Präsidenten – als zivilem Führer des Militärs –, uneingeschränkte Macht aus. Es ist kein Geheimnis, dass das oberste Prinzip der Rechtfertigung mittlerweile darin besteht, ob eine bestimmte Maßnahme dem nationalen Interesse dient oder nicht, wobei dieses Interesse von genau der Macht definiert wird, die es verfolgt. Vor diesem Hintergrund wird “Terror” kurzerhand mit “Krieg” gleichgesetzt – und “Krieg” rechtfertigt nun einmal die Aufhebung sämtlicher Bürgerrechte.

Berücksichtigt man diese Entwicklung, so ist es nicht verwunderlich, dass die zahllosen in Camp X-Ray & Delta (Guantanamo Bay, Kuba), im Haftzentrum auf dem Flughafen von Bagram (Afghanistan), im Gefängnis von Abu Ghraib (Irak) sowie in Gefängnissen in diversen Drittländern inhaftierten Personen in Territorien verbracht worden sind, wo die Einhaltung der Menschenrechte nicht überwacht wird – entsprechend einer Direktive des Weißen Hauses, der zufolge “Terrorverdächtige” nicht den Schutz genießen, den Kriegsgefangene gemäß den Genfer Konventionen erwarten dürfen. Doch in den “Allgemeinen Bestimmungen” des “Genfer Abkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen”9 wird ein völlig anderer Kodex umrissen. Dort heißt es klipp und klar, dass sich die Vertragsparteien verpflichten, das Abkommen “unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen”,10 und es gibt dort auch eine unmissverständliche Definition des Begriffs “Kriegsgefangener”. Demnach sind Kriegsgefangene “in Feindeshand gefallene Personen”, zu denen auch “Mitglieder anderer Milizen und Freiwilligenkorps” zählen, “einschließlich solcher von organisierten Widerstandsbewegungen, die […] außerhalb oder innerhalb ihres eigenen Gebietes, auch wenn dieses besetzt ist, tätig sind.”11 Um die Genfer Konventionen zu umgehen, konnte man die gefangenen Individuen und Gruppen daher in Territorien verbringen, die sich nicht an die Konventionen halten oder die nicht unter deren Jurisdiktion fallen. Und so begann die US-Regierung mit der Errichtung räumlicher Konstrukte, welche – ihrer Ansicht nach – keiner übergeordneten Autorität rechenschaftspflichtig sind.

Zu dieser Methode der Erschaffung rechtsfreier Räume gehört auch eine als “außergewöhnliche Überstellungen”12 bezeichnete Praxis. Im April 2005 veröffentlichte Human Rights Watch eine Zusammenfassung von Beweisen für die von US-Geheimdiensten und -Streitkräften praktizierte Misshandlung von Gefangenen im Irak, in Afghanistan und auf Kuba sowie für die Existenz weiterer, geheimer CIA-Gefängnisse.13 Die US-Regierung gibt offen zu, dass sie “diplomatische Zusicherungen” von Staaten anstrebt, in denen Folter gang und gäbe ist – eine Art Versprechen, mit dem ein Staat dem anderen zusichert, er werde im Falle eines bestimmten Individuums eine Ausnahme von der sonst allgemein üblichen Anwendung der Folter machen. Ein solches Vorgehen birgt zutiefst verstörende Implikationen. Der proaktive Vorschlag, derlei territoriale und rechtliche Schutzinseln zu erschaffen, veranschaulicht die unerlässliche Funktion, die dem Raum in dieser Gleichung zukommt, und läuft im Grunde auf eine bewusste Hinnahme des diese Inseln umgebenden Ozeans von Misshandlung und Folter hinaus.14 Auch wenn ausländische Regierungen oder die Vereinten Nationen solche Folterpraktiken verurteilt haben, ist es erwiesen, dass die USA Häftlinge räumlich transferiert haben, während man gleichzeitig eine Flut von “neuen” rechtlichen Dokumenten veröffentlicht hat, die gewisse Verhaltensweisen innerhalb des Militärs und der CIA absegnen. Diese Technik ist jedoch weder neu noch wird sie allein von den USA praktiziert. Die britische Regierung soll laut Zeitungsberichten in Verhandlungen mit den Regierungen von Algerien und Marokko stehen – zwei Länder, in denen Misshandlung und Folter an der Tagesordnung sind –, da sie Terrorverdächtige nach dorthin transferieren möchte.15In den Augen der Verfasser solcher rechtlichen Dokumente ist zum Beispiel ein Krieg gegen den Irak rechtmäßig, weil dieser einen Fall von Selbstverteidigung darstellt und, darüber hinaus, eine Maßnahme im Interesse der gesamten Menschheit.

Das Verbrechen und seine Vorgeschichte

“Wie kann unsere Regierung glaubhaft vom Übel der Folter in Ländern wie Ägypten, Syrien und Usbekistan sprechen, wenn sie gleichzeitig wissentlich Vereinbarungen mit den schlimmsten Elementen jener Regime abschließt, um Menschen in genau die Kerker zu verfrachten, wo Gefangene gefoltert werden?”16
Tom Malinowski, Direktor der Washingtoner Advokatur von Human Rights Watch

Als Giorgio Agamben sowohl vor wie nach 9/11 die Grundprinzipien der westlichen Gesellschaft erörterte,17 malte er ein düsteres Bild, das seine Eindringlichkeit aus rechtlichen Dokumenten bezog, die bis in die Zeit des Römischen Imperiums zurückreichten. Beeinflusst von Hannah Arendts Werk über den Totalitarismus und die institutionelle Form von Rechten,18. versucht Agamben einen historischen Prozess nachzuzeichnen, der kein singuläres Phänomen darstellt, sondern eine Entwicklung in Richtung seiner Hauptthese, der zufolge es eine unvorhergesehene Übereinstimmung zwischen Demokratie und Totalitarismus gibt. Im römischen Rechtssystem wurde jemand, der die Republik bedrohte, als Staatsfeind behandelt: als ein “homo sacer” – ein Mensch ohne Rechte –, als eine bloße Kreatur, mit der man kurzen Prozess machen konnte.19

In jüngerer Zeit ist es der US-Regierung gemäß dem im Oktober 2001 in Kraft getretenen Patriot Act erlaubt, jedes Individuum in Gewahrsam zu nehmen, das im Verdacht steht, die nationale Sicherheit zu bedrohen. Doch George W. Bushs neue Militärordnung macht aus den Menschen, die in Camp X-Ray & Delta in Guantanamo inhaftiert sind, rechtlose Individuen, die angesichts ihres territorialen, das heißt, räumlichen Status von jedem juristischen Beistand abgeschnitten sind. Wie so viele andere politische Gefangene im Verlauf der Geschichte haben diese Individuen ihre juristische Identität eingebüßt, nachdem man sie einer Reihe von politischen und räumlichen Maßnahmen unterworfen hat. Obgleich Agambens Kritik insofern radikal ist, als dass er sich eines über Gebühr vereinfachten und zeitgerafften Vergleichskonzeptes bedient, macht er im Grunde nichts weiter, als die Gefahr nationalistischer Strukturen offenzulegen. Die Videofilme und Fotos aus dem Gefängnis von Abu Ghraib veranschaulichen die unleugbare Relevanz von Agambens Theorie über den Homo sacer. Die nackten, zu einer Pyramide aufgetürmten menschlichen Körper und deren sadistische Choreographie fügen sich zu einer Szene zusammen, die einen an die schlimmsten Bilder des 20. Jahrhunderts erinnert.

Im Verlauf der Geschichte haben Kulturen das, was sie als “böse” erachteten, stets jenseits der Grenzen ihres eigenen Territoriums angesiedelt. Sobald man erkennt, dass die Ursachen für so genannte “böse Taten” im Innern des eigenen Territoriums lokalisiert werden können, verweist man zur eigenen Rechtfertigung auf vorhandene “grausame” Bilder aus dem Ausland – es gibt genug geschichtliche Beweise, die dies belegen.

Im Falle von Abu Ghraib können wir das Bild vom kolonialen Herrenmenschen erkennen, doch der Raum selbst wird dabei austauschbar. Und das Gleiche gilt für seine historischen Bezugspunkte. Einer der Gründe für die überwältigende öffentliche Reaktion könnte schlicht und einfach darin bestehen, dass man sich an bereits vorhandene Bilder erinnert fühlt. Statt einen Schock zu bewirken, der auf ihren spezifischen Inhalt zurückzuführen ist, könnten sich die aus Abu Ghraib stammenden Bilder mit bekannten Bildern aus dem 20. Jahrhundert überlappen, eine Mischung aus den Todeslagern von Auschwitz, den Bildern von zerfetzten Leichen in Vietnam, den Morden der Todesschwadrone in El Salvador, dem Massaker an den Tutsi in Ruanda, den Genoziden in der Türkei, im Sudan und in Kambodscha sowie den Kriegsverbrechen der kollektiven Bestrafung von Palästinensern in Falludscha. Vom Völkermord, den die Türken 1915 an den Armeniern begingen, bis zum Abschlachten von Bosniern und albanischen Muslimen durch die Serben während der 1990er Jahre – das 20. Jahrhundert war erfüllt von Folter und Gräueltaten. Vor diesem Hintergrund ist es leicht, auf die enzyklopädischen Register des Bösen zurückzugreifen, will man das Bild im eigenen Kopf unterbringen. Ob man dabei an die Methoden der kolonialen Imperialisten denkt, oder an die von Stalins Geheimpolizei oder an die der Gestapo, vermag man nicht mehr richtig zu kontrollieren. Ob man sich an die Bilder von Salò20 erinnert fühlt, an Faschismus oder Kolonialismus, diese Exzesse von “bösen Taten” würden immer zwei Dinge gemeinsam haben: Sie würden an ein spezifisches, klar umrissenes Territorium gebunden sein, an territoriale Enklaven, die ein “Haus des Bösen” darstellen, und sie würden Bilder der unterworfenen Subjekte präsentieren. In dieser Pornographie der Gewalt würde sich zwar die Bühne ändern, doch die Choreographie bleibt stets die gleiche. Bei dem Versuch, den Graben zwischen assoziierten Territorien und amerikanischem Stammland zu überbrücken, wollen die Vereinigten Staaten mit allen Mitteln auf die Außenwelt verweisen, um eine juristische Untersuchung ihrer exterritorialen Enklaven zu vermeiden, während sie gleichzeitig von einem “sauberen Krieg” sprechen.21

Räumliche Enklaven und die Rückkehr radikaler Bestrafungen

“Chemische Fackeln aufbrechen und die darin enthaltene Phosphorflüssigkeit über Gefangene schütten; nackte Gefangene in kaltes Wasser tauchen; Gefangene mit einem Besenstiel oder Stuhl verprügeln; männlichen Gefangenen mit Vergewaltigung drohen; einen simplen Militärpolizisten die Platzwunde eines Gefangenen nähen lassen, den man gegen die Zellenwand geschmettert hat; einen Gefangenen mit einer chemischen Fackel anal penetrieren […] .”22
Major General Antonio M. Tabuga

Diese Bilder scheinen in einer engen Beziehung zu dem zu stehen, was Michel Foucault als das “Zeremoniell der Strafe”23 beschrieben hat: “die einen werden zum Tod durch Erhängen verurteilt […]; für schwerere Verbrechen werden andere bei lebendigem Leib gerädert und ihnen dann die Glieder zerschlagen; wieder andere werden so lange gerädert, bis sie eines natürlichen Todes sterben; andere werden erdrosselt und anschließend gerädert […]; wieder anderen wird der Kopf abgeschlagen oder zertrümmert.”24 In Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnissesveranschaulicht Foucault, inwieweit die physische Bestrafung zum verborgensten Teil der Strafpraxis geworden ist – “die Justiz”, so schreibt er, “übernimmt also nicht mehr öffentlich jene Gewaltsamkeit, die an ihre Vollstreckung geknüpft ist”.25 Im Unterschied zu früheren historischen Epochen hat sich im 20. Jahrhundert, wie er meint, das Spektakel der Bestrafung auf den Gerichtsprozess verlagert. Doch wenn es keinen Prozess gibt, so gibt es auch nichts zu sehen. Das Verschwinden der öffentlichen Bestrafung geht einher mit einem Rückgang des Spektakels. In einer Erörterung von Raum und Macht definierte Paul Hirst eine solche Politik später als ein “viel umstrittenes Konzept: sie hat viele unterschiedliche Bedeutungen und eine Vielzahl von möglichen räumlichen Positionierungen.”26 Foucaults Behandlung der Beziehung zwischen einer neuen Machtform und einer neuen Art von spezialisierten Strukturen betrachtete beides als Folge und Voraussetzung einer im 18. Jahrhundert beginnenden Herausbildung von Formen einer “disziplinierenden Macht”: “Macht gilt somit als eine prinzipiell negative, als eine durch Strafe definierte Beziehung zwischen dem dominanten und dem unterworfenen Subjekt.”27 Diese auf Überwachung basierende, individualisierende und transformierende Macht wird definiert durch die Strafvollzugsanstalt mit ihren die Insassen räumlich voneinander isolierenden Zellen und mit einer zentralen Struktur der Beobachtung und Kontrolle. Was Hirst als die wesentlichen Charakteristika von Benthams Panoptikum – “eine Idee in der Architektur”28– beschreibt, also das Prinzip, dem zufolge viele von einigen wenigen beherrscht werden können, lässt sich bis zu den historischen Anfängen des Gefängnisbaus zurückverfolgen. Das beste Beispiel dafür dürfte der “Liberty Tower” von Abu Ghraib sein, eine zentrale, das gesamte Areal überblickende Überwachungseinrichtung: ein Raum, der nicht nur eine bestimmte korrelative Perspektive ermöglicht, sondern auch Machtverhältnisse versinnbildlicht. Obwohl Foucaults Betrachtungen zum Panoptikum aus den siebziger Jahren stammen, scheint sein Werk heute wichtiger denn je zuvor – er analysiert die Beziehung zwischen Raum und Macht. Darüber hinaus könnte das, was wir gegenwärtig erleben, als ein umgekehrtes Szenario dessen interpretiert werden, was Foucault als die im 19. Jahrhundert einsetzende und sich während der letzten zweihundert Jahre nach und nach vollziehende Humanisierung der Strafjustiz beschreibt – “weniger Grausamkeit, weniger Leiden, mehr Milde, mehr Respekt, mehr ‘Menschlichkeit'”.29 “Das Richten”, so resümierte er, “bedeutete die Feststellung der Wahrheit eines Verbrechens, die Bestimmung seines Urhebers und die Verhängung einer gesetzlichen Sanktion.”30 Und genau diese Verhängung einer gesetzlichen Sanktion ist derzeit aufgeschoben beziehungsweise ganz und gar eingestellt worden.

2004 wurde dem Magazin The New Yorkerein von Major General Antonio M. Tabuga verfasster Bericht zugespielt, der eigentlich nicht zur Veröffentlichung gedacht war.31 Die darin beschriebenen räumlichen und institutionellen Verhältnisse in Abu Ghraib waren schockierend. Eingepfercht in 3,5 x 3,5 Meter große Zellen, die “kaum mehr waren als enge Boxen für Menschen”,32 warteten die Gefangenen darauf, dass man Sie zum Verhör abholte. Laut Tabuga kam es regelmäßig zu Fällen von “sadistischer, eklatanter und willkürlicher krimineller Misshandlung.”33 Auf einem der Fotos, die der New Yorkerauf seiner Website veröffentlichte, deutet ein weiblicher Offizier auf die Genitalien eines jungen Irakers, der sich nackt ausziehen musste und einen Sandsack über dem Kopf trägt, während er masturbiert. Ein anderes Bild zeigt einen knienden, nackten Gefangenen, der so für die Kamera posieren musste, als würde er einen ebenfalls nackten und mit einer Kapuze versehenen Mitgefangenen fellationieren. Was Foucault einst, mittels Benthams Panoptikum, als eine subtile Form politischer Kontrolle im Mikroklima eines Gefängnisses erklärt hatte – die an den Prinzipien der Aufklärung orientierte Institution sperrt all diejenigen weg, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen –, hat sich in ein Szenario verwandelt, bei dem es weder die von ihm beschriebene politische Kontrolle auf der Mikroebene noch eine voll funktionsfähige rechtliche Struktur gibt, die möglicherweise in der Lage wäre, mit dieser parasitären Beziehung zwischen Politik und Raum umzugehen. Obwohl sich diese Territorien auf einer Landkarte geographisch erfassen lassen, sind sie auf eine juristische Metaebene gehoben worden, wo Demütigung und Erniedrigung durch räumliche und physische Gegebenheiten zu etwas Alltäglichem geworden sind.

Um diese Wirkung von institutionalisiertem Raum und der ihm immanenten Machtverhältnisse zu veranschaulichen, führte Philip Zimbardo – ein eremitierter Psychologieprofessor der Stanford University – 1971 ein Experiment durch, mit dem er einer einfachen Frage auf den Grund gehen wollte: Was geschieht, wenn man “gute” Menschen in einen “bösen Raum” steckt? Im Rahmen dieses Experiments wurden studentische Freiwillige nach dem Zufallsprinzip dazu bestimmt, in einem simulierten Gefängnis entweder die Rolle von Wärtern oder die von Gefangenen zu übernehmen. Obwohl alle Teilnehmer vorher untersucht und für geistig gesund befunden worden waren, entwickelten sich die “Wärter” in kürzester Zeit zu Sadisten, während die “Gefangenen” starke Symptome einer Depression an den Tag legten. Nach sechs Tagen musste die Untersuchung abgebrochen werden, um schlimmere Misshandlungen zu verhindern. Das Experiment erhellte, wie die Macht sozialer Konstrukte persönliche Identitäten und Wertvorstellungen verändert, da die Studenten in ihren Rollen als Wärter und Gefangene situationsbedingte Identitäten annahmen. Als Zimbardo der Edge Foundation 2005 ein Interview gab, meinte er: “Um die Misshandlungen in diesem irakischen Gefängnis verstehen zu können, muss man als Erstes die situationellen und systematischen Kräfte untersuchen, die auf diese Soldaten eingewirkt haben, wenn sie während der Nachtschicht in diesem kleinen Horrorladen Dienst hatten.”34 Laut Zimbardo veranschaulichte sein Experiment den Wettstreit zwischen den institutionellen Mächten auf der einen Seite und dem Widerstandswillen des Individuums auf der anderen. Sexuelle Erniedrigung war für die Wärter von Abu Ghraib offenbar ein probates Mittel, um Kontrolle über die Gefangenen auszuüben, und dies illustriert, dass die Beziehung zwischen Lust und Schmerz, auf einem räumlich autonomen und seinen eigenen Regeln gehorchendem Territorium, nicht mehr an die Gebote der Menschlichkeit gebunden ist: “Sobald ein Gefängnis von einem Schleier der Geheimhaltung umgeben ist – und dies trifft auf die meisten Gefängnisse zu –, ist dort buchstäblich alles möglich.”35

Räumliche Autonomie als die Blaupause des Bösen

“Camp X-Ray ist eine Insel auf einer Insel auf einer Insel – eine abgeriegelte Zone innerhalb eines Areals, welches wiederum vom Rest der Insel Kuba abgeriegelt ist. Dies ist einer der Gründe dafür, dass die USA Terrorverdächtige vorzugsweise an diesen Ort schaffen: Es ist unmöglich, dorthin zu gelangen, außer man wird vom US-Militär eingeflogen.”36
BBC-Bericht, 2004

Die auf Kuba gelegene Marinebasis Guantanamo Bay ist im Wesentlichen ein Territorium, wo Gefangene unbegrenzt lange festgehalten werden können, ohne dass US-Gerichte eine wie auch immer geartete Interventionsmöglichkeit hätten. Manche dieser Gefangenen befinden sich dort bereits seit 2001. Da Guantanamo Bay nicht als amerikanisches Hoheitsgebiet gilt, hat keiner der dort Inhaftierten die Rechte, die jemandem zustehen würden, der auf amerikanischen Boden gebracht wird. Im Unterschied zu den auf amerikanischem Territorium gelegenen Militärbasen ist Guantanamo der perfekte Ort zur Durchsetzung der Strategie einer Verhinderung der juristischen Überprüfung des rechtlichen Status der Gefangenen. Auf kubanischem Territorium liegend, ist es das “rechtliche Pendant zum Weltraum”; auf dem amerikanischen Festland gelegene Einrichtungen kamen als Gefängnis nicht in Betracht, da sie unter die Jurisdiktion des 9th U.S. Circuit Court of Appeals gefallen wären.37

Amnesty International hat Guantanamo mit den unter dem Namen Gulag bekannt gewordenen sowjetischen Konzentrationslagern verglichen, in denen Widerstand als ein rechtlicher Beweis für die Notwendigkeit der “Behandlung” angesehen wurde. George W. Bush behauptet, die Gefangenen in Guantanamo würden menschlich behandelt. Die US-Regierung gewährt den Insassen jedoch nicht den Status von Kriegsgefangenen, da sie laut US-Behörden nicht in Uniformen gekämpft und kein fest umrissenes, regiertes Territorium repräsentiert haben.”38

Die räumliche Konstruktion von Camp Delta ist ein Labyrinth aus Zäunen, NATO-Draht und Wachttürmen. Die Mauern bestehen aus Maschendraht, und die Zellen werden von Wellblechplatten gegen die Unbilden des Wetters geschützt. Die Gefangenen verbringen die meiste Zeit in ihren Zellen, wo sie entweder auf dem Fußboden hocken oder auf Schaumstoffmatratzen liegen. Nachts wird das gesamte Areal taghell erleuchtet, damit die Wachen jede Bewegung ihrer Gefangenen verfolgen können. Die Einrichtung eines zusätzlichen, etwa acht Kilometer von Camp X-Ray entfernten Zellenkomplexes wurde Mitte April 2002 abgeschlossen und von Brown & Root Services (BRS) durchgeführt, einer Tochterfirma des Erdölkonzerns Halliburton. Jede dieser Zellen ist 2,5 Meter lang, knapp 2 Meter breit und 2,5 Meter hoch und besteht aus Maschendraht auf einem soliden Metallrahmen. Jeder Gefangene erhält eine Schaumstoffmatratze, eine Decke und eine etwa einen Zentimeter dicke Gebetsmatte.39 Es handelt sich dabei um ganz bewusst geschaffene Bedingungen, die das Verhalten der Insassen ändern sollen und die bei ihnen Symptome wie chronische Depression, Selbstmordgedanken, zwischenmenschliche Aversion, psychische Störungen und Traumata hervorrufen. Man hat eine physische Umgebung geschaffen, die darauf angelegt ist, Geständnisse zu erzwingen. Es ist ein wesentliches Charakteristikum der Bedingungen in Guantanamo, dass räumliche Komponenten als Werkzeuge der Bestrafung und des Zwangs fungieren. Sobald das erwünschte Ziel erreicht ist – das heißt, ein Geständnis des Gefangenen –, werden die räumlichen Bedingungen geändert. Geständige und kooperationswillige Gefangene haben die Chance, als “Vorzugshäftling” nach Camp Four verlegt zu werden, wo die Insassen in Gemeinschaftsunterkünften leben.

Die Implikationen dieser Art von “Outsourcing” der Folter und der exterritorialen Inhaftierung in Guantanamo sind immens. Der Raum besitzt dort eine Realität, die nicht nur physische Bedingungen etabliert, sondern auch eine Struktur, die deren Existenz erleichtert: Das Leiden jener Menschen besteht zu einem nicht unerheblichen Teil darin, dass sie sich in einem spezifischen Raum befinden, der zu heiß oder zu klein sein kann und der schwere Depressionen, Angstgefühle, Halluzinationen und den Verlust motorischer Fähigkeiten bewirkt.

Angesichts der heftigen Kritik an den räumlichen Bedingungen des Camps kündigte das Pentagon im März 2005 an, man werde Gefangene von Guantanamo in Gefängnisse in Saudi-Arabien, Afghanistan und im Yemen verlegen, ungeachtet der Befürchtungen, dass ihnen dort noch schlimmere Menchenrechtsverletzungen zugefügt werden könnten. Diese Verlegungen würden in etwa der viel kritisierten, als “Überstellungen” bekannten Praxis entsprechen, mit der die CIA bereits Gefangene nach Syrien und Ägypten transferiert hat.40 Da den Insassen eine Verlegung in Länder bevorsteht, wo erwiesenermaßen gefoltert wird, hat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) das Pentagon bereits 2002 darauf hingewiesen, dass die Gefangenen dort unter ähnlichen Haftbedingungen leiden müssten.

Eric Saar, ein Arabisch sprechender amerikanischer Soldat, enthüllte im Frühjahr 2005 Einzelheiten über die Gefangenenmisshandlung in Guantanmo – die ersten wirklichen Insider-Informationen über die Dinge, die sich in den Verhörzellen abspielten. Laut seinem Bericht41 wurden Gefangene physisch misshandelt und sexuellen Verhörtechniken unterzogen, bei denen so genannte “snatch squads” eingesetzt wurden – ein doppeldeutiger Begriff, der nicht nur “Einsatzkommando”, sondern auch “Mösenkommando” bedeuten kann. Bis auf die Unterwäsche entkleidete weibliche Verhörspezialisten präsentierten den Gefangenen Pornomagazine, die diese als Belohnung für ein Geständnis erhalten sollten. Bei einem Verhör entledigte sich ein weiblicher Offizier seiner Kleidung und beschmierte dann einen Gefangenen mit künstlichem Blut, wobei die Frau ihm erzählte, dass sie gerade menstruierte.42 Erst jetzt hat das Pentagon eingeräumt, dass es innerhalb des Camps Fälle gegeben hat, bei denen Exemplare des Korans mit Urin bespritzt wurden43– eine “Schändung”, die die gesamte muslimische Welt in Aufruhr versetzte. Und diese andauernde Geschichte vermischt sich mit den bekannten Bildern von jenen räumlichen Enklaven als fest umrissene Territorien, wo antimuslimisches Verhalten offenbar zur alltäglichen Routine gehört. Ob die Bilder von den räumlichen Bedingungen – am Boden festgekettete Gefangene, die in der glühenden Hitze durch Maschendrahtzäune starren, Körper, die zu einer menschlichen Pyramide aufgetürmt werden –, die Bilder von diesen geschundenen, in sich zusammengesunkenen und geschlagenen Individuen nun ein Plädoyer für die Anwendung der Genfer Konventionen sein mögen oder nicht – ein Staat, der angeblich auf Recht und Freiheit basiert, sollte seine Gefangenen auch dementsprechend behandeln.

Jenseits einer linearen Geschichte

Berücksichtigt man solche räumlichen Zustände und die daraus resultierenden Verhaltensmuster, so kann man nicht länger so einfache Fragen stellen wie: Warum ist so etwas möglich, wer ist dafür verantwortlich, was hat das Ganze zu bedeuten? Obgleich das erkannte Problem physischer Natur ist, würde eine Veränderung der räumlichen Komponenten nicht genügen, um die beschriebenen Übergriffe zu unterbinden. Jeder individuelle Zustand und Fall ist naturgemäß unglaublich komplex. Dennoch kann man vermutlich behaupten, dass das Böse – als das verborgene Paradigma der Moderne – heute existiert wegen der Unveränderbarkeit der menschlichen Natur und wegen des Scheiterns des Projekts der Aufklärung. Dies führt uns zu der Frage, was uns dazu bewegt, Gehorsam zu üben. Gibt es so etwas wie eine universelle menschliche Pflicht? Selbst innerhalb einer auf Befehl und Gehorsam basierenden militärischen Ordnung stellt sich die Frage nach der individuellen Ethik einer persönlichen Eigenverantwortung. Muss das Individuum proaktiv werden? Gut und Böse stehen in einer engen Beziehung zum eigenen Willen. Doch wie verbindet man das Subjektive und das Objektive, wenn man sich auf dem neuzeitlichen Schlachtfeld befindet? Repräsentiert der Soldat sich selbst und kann er für seine Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden oder trägt er auch Verantwortung für andere – vielleicht sogar für das System selbst? Respekt ist etwas anderes als jemanden zu mögen oder mit einer bestimmten Position übereinzustimmen, und daher muss die Frage eher lauten: Was wird tatsächlich vorausgesetzt?

Ein Aspekt, der den Inhalt von Zimbardos psychologischem Experiment vor dem Hintergrund von Guantanamo und Abu Ghraib in ein noch schlimmeres Szenario verwandelt – und sein Argument auch teilweise aufhebt –, besteht darin, dass die heutige religiöse Terminologie, die einen völlig anderen Bezugsrahmen herstellt, auf die Tatsache verweist, dass wir unser Urteil noch immer auf eine Terminologie stützen, die aus einer Zeit vor der Aufklärung stammt. Jede Art von Monotheismus vertritt die Plattitüde, es gebe nur einen Gott – und setzt dabei selbstverständlich voraus, dass es ein Wesen wie Gott tatsächlich gibt –, wodurch jede objektive Wahrheit radikalisiert wird. Im Hinblick auf das Böse kann man kein Dualist sein, wenn man Christ, Muslim, Jude oder Mitglied einer anderen Ordnung ist, die eine bestimmte Wahrheit als die einzig richtige voraussetzt. Und das Projekt der Aufklärung verstärkte letztlich diesen Monotheismus. Ob es sich um George W. Bushs Behauptung handelt, Gott persönlich habe ihn damit beauftragt, gegen Al Qaida vorzugehen ,44 oder um die Bekundungen islamischer Fanatiker und fundamentalistischer Kleriker – Äußerungen wie diese liefern die Blaupause eines Versagens des rationalen Denkens. Die wahre Frage ist daher eher zwischen den Zeilen zu finden und bezieht sich darauf, unter welchen Umständen man sein Urteilssystem erfand und welches die höhere Ordnung ist, von der aus man urteilt. Ist man innerhalb eines vorausgesetzten Urteilssystems gefangen, so wird man sich wohl kaum in Den Haag verantworten wollen.

Die Aktion und Reaktion, die hier untersucht wird, basiert auf einer Bestrafung ohne Schuldnachweis, einer Bestrafung, bei der die Frage der Schuld ausgeklammert wird, nicht nur von einer höheren Ordnung, sondern von der bürokratischen Struktur, die dies ermöglicht. In diesem Kontext basiert das politische Versprechen nicht auf Vertrauen, sondern auf bloßem Kalkül, etwa auf Übereinkünften, die – sollte die höhere Ordnung deren Einhaltung anzweifeln – jederzeit annulliert werden können. Somit bedeutet Autonomie ein Versprechen, das man sich selbst gibt, aber niemand anderem. Und deshalb muss man sich auch nicht vor den Vereinten Nationen rechtfertigen, sondern lediglich vor sich selbst und, gegebenenfalls, vor Gott.

Kommt man noch einmal auf Agamben zurück, so erscheint einem der Totalitarismus als etwas überaus Modernes, denn dieser setzt die Omnipotenz einer einzelnen Person voraus. Unter diesen Bedingungen muß der einzelne Bürokrat lediglich Befehle befolgen, was oft in der Ausrede gipfelt, man sei bloß ein Befehlsempfänger gewesen und trage deshalb keine Verantwortung. Dies bedeutet den Verzicht auf die eigene Handlungsfähigkeit und verwandelt letztlich jeden grausamen Akt in eine Banalität: Man behauptet, es habe nun einmal keine Alternative gegeben – oder man sagt einfach “TINA [there is no alternative]”.45

Für Journalisten scheint es beinahe unmöglich, sich auf eine objektive Weise mit Themen wie diesen zu befassen, denn jeder hat zwangsläufig eine persönliche Geschichte, die in die eigene Arbeit einfließt. Bei dem Versuch, sich mit diesem vor-aufklärerischen Zustand auseinanderzusetzen, könnte man radikal argumentieren, dass wir, statt uns an starre, ein für allemal festgelegte Geschichten zu erinnern oder solche zu erschaffen, lieber versuchen sollten zu vergessen: Vergessen nicht als ein Mittel, um einen Schatten auf die Vergangenheit zu werfen, sondern eher, im Sinne eines Verzeihens, als eine Plattform für ein rationales, offenes, auf die Zukunft bezogenes Denken.

Für den westlichen Blickwinkel könnte diese Theorie potentiell bedeuten, dass man, statt dem “bereits existierenden Katalog von Klischees über die Araber”46 weitere Klischees hinzuzufügen, zum Beispiel versuchen könnte, über den anderen – sei er nun religiös oder nicht – nachzudenken, ohne dabei in die Falle der kolonialen Geschichte zu tappen. Um diesem Argument zum Durchbruch zu verhelfen, müsste man die Existenz einer Tradition anerkennen, die außerhalb der westlichen Tradition angesiedelt ist, und umgekehrt. Widersetzt man sich dem Automatismus, von vonherein auf Konfrontationskurs zu gehen, so könnte man das eigene Anliegen zurückstellen und, obwohl es eine echte Neutralität von Informationen nie geben kann, versuchen, der eigenen demographischen Klientel nicht nach dem Mund zu reden.

Als Udi Aloni, ein in New York lebender israelischer Künstler, Local Angeldrehte, einen Dokumentarfilm über die gegenwärtigen Widersprüche im palästinensisch-israelischen Konflikt,47 bediente er sich einer Technik, die den Zusammenhang zwischen konkretem politischen Kampf, örtlichen Verhandlungen und der Bedeutung räumlicher Überlappungen erhellte. Indem er spezifische ländliche und städtische Gegebenheiten näher heranzoomte, gelang es ihm, den Mythos vom “Religionskrieg” als der einzigen Form kulturellen Inhalts in der Region zu zerstören. Statt dessen zeigt er einen Raum, wo eine säkulare Menschlichkeit möglich ist, ein Mosaik von Fragmenten, deren Zusammenhalt sich dadurch ergibt, dass der Filmemacher die Geschichte außer Acht lässt, die sonst immer als die “einzig wahre” vorausgesetzt wird. Auf vergleichbare Weise hat Eyal Weizman – ein in Tel Aviv und London lebender Architekt und Sozialforscher – für seine Publikation A Civilian Occupation: The Politics of Architecture48 im Auftrag der Menschenrechtsorganisation B’tselem die planerischen Aspekte der israelischen Besetzung des Westjordanlandes untersucht. Ausgehend von seiner Theorie, wonach es uns an Vertikalität fehle, gelangt er zu dem Ergebnis, dass keiner von uns über eine zusammenhängende mentale Landkarte des israelisch-palästinensischen Konflikts verfügt: von den Siedlungen bis zum Abwassersystem, von der Archäologie bis zum militärischen Flugverkehr bietet seine Interpretation eine rationale, durch und durch überzeugende Analyse davon, wie sich Ideen über Macht und Planung mit Politik überschneiden, um genau die Räume herauszubilden, in denen sich der israelisch-palästinensische Konflikt entwickelt. Diese präzise Untersuchung von Komponenten, die ein in sich geschlossenes Gewebe bilden, ist genau das, was bei der Beschreibung des Gefängnisraums – bislang – noch gefehlt hat.

Irgendwo zwischen der Flut von Dokumenten zu Menschenrechtsfragen, dem Stanforder Gefängnisexperiment, Zacarias De La Rochas Frage, ob “die Welt denn nur aus Gefängnissen und Kirchen besteht?”,49 und Salman Rushdies Aussage, dass wir “in unserem Leben mehr Lehrer und weniger Priester brauchen”,50 beginnt man, das Scheitern und den bitteren Beigeschmack der Geopolitik zu spüren. Doch zoomt man von den räumlichen Enklaven weg, so besteht durchaus noch Hoffnung: Zerbricht man die stoische Geschichte, die eine Rückkehr zur Vision der Zeit vor der Aufklärung impliziert, wehrt man sich gegen die Wiedereinführung moralischer Plattitüden und stellt man das Modell einer Welt, wo die Religion Teil der öffentlichen Sphäre ist, auf den Kopf, so kann es im Großen und Ganzen nur eine Antwort geben – die Rückkehr zu einer säkularen Politik!

In einer Zeit, in der die Menschen wieder Zuflucht bei religiösen Kategorien suchen und in der die Welt wieder einmal in Schwarz und Weiß gemalt wird, erstickt man an der allgegenwärtigen Doppelmoral, und fragt sich, warum wir an uns nicht die gleichen moralischen Maßstäbe anlegen, die wir an andere anlegen, und, wenn es uns wirklich Ernst damit ist, nicht bloß die gleichen, sondern wesentlich strengere.

This text is an amended and updated version of an essay published in “5 Codes – Architecture, Paranoia and Risk in Times of Terror” (Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser 2006).

This article is published as Eurozine’s contribution todocumenta 12 magazines, a collective editorial project linking worldwide over 70 print and online periodicals, as well as other media (www.documenta.de).

J. R. Schlesinger: "Final Report of the Independent Panel to Review DoD Detention Operations", Arlington (VA), August 2004, S. 79.

Eyal Weizman: "The Evil Architects Do", in: Rem Koolhaas (Hrsg.): Content, Taschen: Köln 2004, S. 60.

Giorgio Agamben: Ausnahmezustand (Homo sacer II.I), Suhrkamp: Frankfurt am Main 2004.

P. Lersch: "Demokratie im Ausnahmezustand – Die verhüllte Freiheitsstatue", in Spiegel Online, 27. Oktober 2004.

Am 1. September 2004 brachten Terroristen in einer Schule im südrussischen Beslan 1300 Geiseln in ihre Gewalt, ein Terrorakt, der sich in erster Linie gegen Kinder richtete. Hunderte von Kindern verbrachten 53 Stunden ohne Wasser und Nahrung in einer überfüllten, stickigen Turnhalle, in der überall Sprengsätze angebracht waren. Sie mussten miterleben, wie Familienmitglieder, Freunde und Lehrer misshandelt und ermordet wurden.

Starke Präsidentschaft und Präsidialregierung; Ernennung der Oberhäupter der regionalen Regierungen durch den Präsidenten; Ernennung der Gouverneure; hierarchische Parteiorganisation; selektive Justiz; staatliche Kontrolle des Fernsehens.

Peter Marcuse: "The 'War on Terrorism' and Life in Cities after September 11", in: Stephen Graham (Hrsg.): Cities, War and Terrorism – Towards an Urban Geopolitics, Blackwell: Oxford 2004, S. 263.

S. Coll: Ghost Wars, Penguin Books 2005, S. 235.

Die Genfer Konventionen (auch: Genfer Abkommen, Genfer Übereinkommen) bestehen aus vier Dokumenten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz von zunächst 59 Regierungen unterzeichnet wurden. Sie bilden ein völkerrechtliches Vertragswerk, das bestimmte Verhaltensregeln im Kriegsfall bindend festlegt. Sie sind ein Eckpfeiler des humanitären Rechts und sollen die Menschen vor solchen Übergriffen schützen, wie sie sie im Kampf gegen den Nazionalsozialismus erdulden mussten. Fast jedes Land hat alle vier Abkommen ratifiziert, darunter auch die Vereinigten Staaten von Amerika.

"Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über die Behandlung von Kriegsgefangenen, Allgemeine Bestimmungen, Artikel 1", hier zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Die Genfer Rotkreuz-Abkommen vom 12. August 1949, Schriften des Deutschen Roten Kreuzes, Bonn 1980, S. 137 (den vollständigen originalen Wortlaut findet man unter www.genevaconventions.org/).

"Artikel 4 (A. 2.)", a. a. O., S. 138.

"Renditions and Diplomatic Assurances – Outsourcing Torture?" (s. www.hrw.org/campaigns/torture/renditions.htm ).

"Getting Away with Torture? Command Responsibility for the U.S. Abuse of Detainees", Vol. 17, No. 1 (G), April 2005 (s. http://hrw.org/reports/2005/us0405/).

Yuval Ginbar, Rechtsberater von Amnesty International, zitiert in "The Tacit Acceptance of Torture" (s. http://hrw.org/reports/2005/eca0405/4.htm#_Toc100558824).

"Diplomatic Assurances Allowing Torture – Growing Trend Defies International Law", 15. April 2005 (s. http://hrw.org/english/docs/2005/04/15/eu10479.htm). 

T. Malinowski: "U.S. State Department 2004 Human Rights Report – Testimony to U.S. House of Representatives", Human-Rights-Watch-Dokument, 18. März 2005 (s. http://hrw.org/english/docs/2005/03/18/usint10347.htm).

In Homo Sacer(1995, italienische Originalausgabe) und Ausnahmezustand.

Hannah Arendt: The Human Condition, University of Chicago Press: Chicago 1958

Giorgio Agamben: Homo sacer. Souveräne Macht und bloßes Leben, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2002.

Salò o le 120 giornate di Sodoma (dt. Verleihtitel: Die 120 Tage von Sodom): Pasolinis Adaptation eines Romans des Marquis de Sade, ein verstörender Film, der sich mit unserer Weigerung befasst, dem "Wahren und Unvermeidlichen" ins Auge zu sehen, das heißt der Beziehung zwischen Sexualität, Tod und Macht.

S. auch: S. Zweifel und M. Pfister: "Die 120 Tage von Abu Ghraib", in: Cicero, Juni 2004.

S. M. Hersh: "Torture at Abu Ghraib", The New Yorker, 3. Mai 2004 (s. auch: www.newyorker.com/fact/content/?040510fa_fact).

Michel Foucault: Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses[Paris 1975], Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1976 (aus dem Französischen von W. Seitter), S. 15.

J. A. Soulatges: Traite de crimes(1762), zitiert in: Michel Foucault, a. a. O., S. 44.

Michel Foucault, a. a. O., S. 16.

Paul Hirst: Space and Power – Politics, War and Architecture, Polity: Cambridge 2005, S. 26.

Michel Foucault, a. a. O., S. 16.

Paul Hirst, a. a. O., S. 167.

Paul Hirst, a. a. O., S. 167.

Michel Foucault, a. a. O., S. 28.

S. M. Hersh: a. a. O.

ibid.

ibid.

P. Zimbardo: "You Can't Be a Sweet Cucumber in a Vinegar Barrel – A Talk with Philip Zimbardo", in: Edge, 19. Januar 2005.

M. B. Stannard: "Stanford Experiment Foretold Iraq Scandal – Inmates Got Abused in Psychology Study", in: San Francisco Chronicle, 8. Mai 2004.

R. Lister: "Grim Life at Guantanamo", BBC, 7. Februar 2002.

Bush lässt Alternativen zu Guantanamo prüfen", in: Spiegel Online, 9. Juni 2005.

S. "Guantanamo Bay – Camp Delta", a. a. O.

S. Goldenberg: "US Faces Cuban Prison Crisis", in: The Age, 13. März 2005.

P. Harris: "Soldier Lifts Lid on Camp Delta", in: The Observer, 8. Mai 2005.

ibid.

"Bush lässt Alternativen zu Guantanamo prüfen", in: Spiegel Online, 9. Juni 2005.

S. A. Kamen: "Road Map in the Back Seat?", in: Washington Post, 27. Juni 2003, S. A27.

Ein Begriff, den Pierre Wack, ein Manager eines französischen Erdöl-Konzerns, geprägt hat. Wack war der Ansicht, dass Strategie, wie sie bis dahin praktiziert worden war (geradlinige Extrapolationen aus der Vergangenheit), kaum dazu geeignet war, die Wahlmöglichkeiten zu erfassen, die die Zukunft bieten würde. Gemäß diesem Weltverständnis bestand die eigentliche Rolle von Strategie darin, sich eine Zukunft auszumalen, die es wert wäre, erschaffen zu werden, und dann die Wettbewerbsvorteile zu nutzen, die sich daraus ergeben würden, wenn man sich auf diese Zukunft vorbereitete und sie in die Tat umzusetzen begann. Strategie war demnach nichts weiter als Geschichten zu erzählen.

Edward Said: "The Last Interview" (DVD, Extended Version), London: ICA Projects 2004.

Udi Aloni: Local Angel, Theological Political Fragments, London: ICA 2004.

Eyal Weizman und Rafi Segal (Hrsg.): A Civilian Occupation: The Politics of Architecture("The Banned Catalogue"), überarbeitete Auflage, Babel Publishers: Tel Aviv / Verso: London und New York, 2003.

Z. M. De La Rocha: "Vietnow", auf: Evil Empire, einem Album der amerikanischen Rockgruppe Rage Against The Machine, Sony Music 1996.

Salman Rushdie: "In Bad Faith", in: The Guardian, 14. März 2005.

Published 6 September 2006
Original in English
Translated by Fritz Schneider

Read in: EN / DE

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