Lektion der Leere

(Nichts. Das Übliche. Nichts.)

Es ist Sommer, als ich nach Battonya komme. Ein heißer Sommertag, klebrig vom Lindenduft und der Schwüle eines großen Gewitters, das sich, wie immer auf der Ebene, stundenlang vorbereitet.

Der Bahnhof von Battonya liegt außerhalb des Orts. Hier hört die Strecke auf, es gibt nur einen kleinen Pendelzug zwischen Mezöhegyes und Battonya, der fünf-, sechsmal am Tag verkehrt. Früher ging es hier weiter nach Pecica – auf der anderen Seite der Grenze, dann nach Arad. Die Grenze verläuft ein paar hundert Meter vom Bahnhof, Grenzer sonnen sich auf der Bahnhofsveranda und lassen ab und zu den Blick über den Horizont schweifen, halten Ausschau nach Zigarettenschmugglern, nach unbefugten Grenzübertretern. Ich stolpere als augenfällig Fremde aus dem einzelnen Waggon – die Fremdheit steht hier jedem Neuankömmling wie ein peinlicher Heiligenschein um den Kopf – und muss gleich meine Papiere zeigen.

Hinter dem Bahnhof verlaufen die Gleise in kleinblütigem Unkraut das zwischen dem Schotter wurzelt, dann in Gestrüpp. Früher lag Battonya auf der Strecke Szeged-Arad, und man stieg hier aus, nächtigte in dem Hotel am Hauptplatz und tanzte vielleicht durch die Nacht. Früher – wie es immer wieder hieß, ganz früher, oder früher vor dem Krieg, oder früher, vor dem rendszerváltás – das ist ein bald erlerntes Lieblingswort aller, die Ungarisch sprechen. “Früher” hatte Battonya sogar ein Gefängnis.

Geblieben vom “Früher” sind statt Durchgangsbahnhof, Hotel und Gefängnis die drei Sprachen, Ungarisch, Serbisch, Rumänisch, auf den Ortsschildern und am Bahnhof, bald kommt auch noch Chinesisch dazu, sagt später mal jemand in Anspielung auf die Monopolstellung des “Kinai bolt” in diesem Niemandsland der Träume vom Konsum.

In Battonya führen alle Straßen zum Horizont. Wie überall im Banat bilden die Straßen ein Koordinatennetz. Wie in Manhattan. Sie verlaufen zwischen Süden und Norden, zwischen Osten und Westen, gesäumt von einstöckigen Häusern. Viele stehen leer, Dächer sind eingesunken, Fenster verrammelt. Langsam segeln Fahrradfahrer über die Kreuzungen, werden Handkarren geschoben, klappern Pferdewagen. Eine Landschaft der Langsamkeit, die auch das samstägliche Trabi- und Ladatreffen am Hauptplatz, vor dem verfallenden Hotel der vorletzten Jahrhundertwende, nicht beschleunigt. Die Autos kreisen mit dröhnendem Motor, dann lehnen sich die Fahrer lässig gegen den offenen Schlag und rauchen. Ein Golf ist auch dabei. Die Trabis sind bunt bemalt, bald werden sie Vorgärten als Blumenbehälter zieren. Das Hotel im Hintergrund ist mariatheresiengelb wie das angrenzende Rathaus, es bröckelt vor sich hin, am Erdgeschoss der Fassade klebt ein leerer Glasanbau aus den Sechzigern, in den staubigen Fensterflächen hängen Kinderzeichnungen. Thema: Europa.

Es ist ein Samstag im Sommer, als ich ankomme, der Himmel verfärbt sich schmutzigbraun, es grollt von ganz fern, die ersten Lindenblüten fallen, und Jungen ohne Trabi oder Lada fahren ihre Liebsten auf der Fahrradstange aus, die Mädchen sitzen anmutig schief und halten ihre Ausgehtäschchen vor die Brust gepresst, so geht es zur Moonlight Disco oder zum Hajnalka Presszó Richtung Grenze. Als das Gewitter losbricht, sitze ich in einer muffigen Pension am Fluss und höre den Fröschen zu. Der Fluss hat den Namen Száraz Èr, was hier – wie ich später lerne – niemand seltsam findet.

Am nächsten Tag, als die unbefestigten Straßen in Schlammwüsten verwandelt sind, finde ich ein Haus, zufällig wie einen Glücksgroschen am Straßenrand oder eine kleine schwarze Katze im Gras. Ein großes altes gelbes Haus, in dem einst eine Serbin lebte, die Tante von Vidiczki Tivadar, der mir das Haus verkaufen will. Wir sprechen Serbisch, weil ich noch kein Ungarisch kann, einigen uns auf einen Kaufpreis, trinken einen Pálinka darauf und ich nenne ihn Tódor bácsi.

Das ist im Sommer 2004. Als ich in mein Haus ziehen kann, ist es Dezember, nach 15 Jahren in London und einem knappen Jahr im 6. Bezirk in Budapest wohne ich jetzt in Battonya. Das Laub ist abgefallen, und vom “Gang” auf der Innenseite des Hauses sieht man den Wasserturm und von der wackligen Dachbodentreppe den Horizont. Ich warte auf den kalten kontinentalen Winter, und frage Tódor bácsi: “Wann kommt der Schnee?” Er aber will mir, wie immer, von Battonya erzählen, steht an meinem Gartentor und sagt: “Hier in der Straße war die Synagoge.” Er zählt die Juden auf, mit denen sein Vater befreundet war. “Deitsch, hieß einer”, sagt er, “und Hofman und Schwarz.” Er zählt sie an der Hand ab, an der drei Finger fehlen, die er als Kolchosenkoch im elektrischen Fleischwolf gelassen hat, dann hält er einen Augenblick inne, “ach nein”, sagt er, warte mal: “Deitsch, Israel, Ziegler, Schwarz, Gerstner…” Er schaut die Straße hinauf, dahin, wo einst die Synagoge stand, von der nur noch das eiserne Gartentor übrig ist, und fängt wieder von vorne an. Deitsch, Ziegler, Fromm… Auf fast jedem jüdischen Friedhof der Gegend gibt es einen Grabstein mit dem Namen Deitsch, aber das weiß ich erst später.

2005 fängt mit bitterer Kälte an. Ungarn ist bald schon ein Jahr in der EU und macht es den Serben und Rumänen an der Grenze noch schwerer als vorher, der Stolz auf die Zugehörigkeit zum “Westen” wiegt sein Gewicht. Grenzer ist der Traumberuf in Battonya, festes Gehalt und Schmiergeld von den Schmugglern, alle möglichen Gerüchte kursieren über das goldene Grenzerleben. Die meisten Menschen in Batttonya sind arbeitslos und haben viel Zeit, über das Glück derer zu spekulieren, die Geld haben. Sie reden vom Geld der anderen und von den guten Zeiten, die früher herrschten, und am Monatsanfang sammeln sie sich vor der OTP Bank und warten auf ihre Sozialhilfe. Das Geld kommt am dritten Werktag, doch die ersten Empfänger finden sich schon ein, zwei Tage früher ein, für alle Fälle. Die Traube der Wartenden wächst, man plaudert über Neuigkeiten, es gibt Zank, manchmal sogar Raufereien, bis der Aufpasser aus der Bank tritt und sie verscheucht. “Morgen” ruft der Aufpasser, “morgen kommt euer Geld!” Die Traube zerstreut sich, man geht seiner Wege, in die Kneipen, die noch ein paar Schnaps auf Kredit gewähren, oder nach Hause. Ich lebe zum ersten Mal unter Armen, die nicht wissen, wie sie bei Temperaturen von minus 25 Grad heizen sollen, deren Kinder abwechselnd zur Schule gehen, weil die Schuhe fehlen, die am Monatsende wahrscheinlich sogar hungern. Sie starren mich an, verständnislos, dass sich eine Frau, allein, hierher hat verschlagen lassen, und ich kann es ihnen nicht verdenken. Nicht weil ich ein Etwashaber unter Nichtshabern bin, sondern weil ich es mir leisten kann, zum Horizont zu sehen, wohl wissend, dass ich in jede Richtung aufbrechen kann, wenn ich will. Auch hier allerdings brechen Leute auf: Drei Frauen bekommen eine Arbeit in einer Keramikfabrik im Westen des Landes, wo sie die Scherben der zu Bruch gegangenen Ware aufkehren. Zwei von ihnen kommen im Frühjahr zurück, um mit ihren halbwüchsigen Kindern als Tagelöhner auf den Feldern zu arbeiten, die dritte ist zurückgeblieben, in dem Ort mit dem endlosen Namen Székesfehérvár, und man erzählt sich Hässliches über sie. Ein Mann geht für drei Monate nach Amerika, wo ihm ein Freund eine Stelle in einem Schlüsseldienst verschafft hat, in einem Vorort von New York rettet er amerikanische Hausfrauen, die sich versehentlich ausgesperrt haben, vor dem Kältetod. Ein Anstreicher macht sich mit einem Anhänger voll selbstgezüchteter Zierenten auf nach Passau, wo angeblich die größte Zierentenbörse Europas stattfindet. Ich streife unterdessen über die Friedhöfe am Rand von Battonya, lese die ungarischen, serbischen, rumänischen, deutschen Namen und schnappe von den schneeschaufelnden und aschestreuenden Frauen am Straßenrand Worte auf, die ich erst langsam zu verstehen beginne. Zum Beispiel: Das ist ein großer Winter.

Der Frühling kommt langsam. An den Straßen außerhalb der Orte arbeiten Männer in grellorangen Westen und verbrennen ausgedünntes Reisig, flämmen das fahle Wintergras in den Böschungen ab. Manchmal ist der Rauch so dicht, dass man nicht weiterfahren kann. In den Gärten wird das gestutzte Gezweig der Obstbäume verbrannt, und die Hunde bellen die ganze Nacht. Alles riecht brandig. Die alten Männer stehen in der blassen Frühlingssonne an den Hoftoren und gucken auf die Straße, sie tragen noch die Winterpelzhüte auf dem Kopf aber keine dicken Jacken mehr. Es gibt Serben-, Ungarn- und Rumänenmützen. Auf der anderen Seite der Grenze, in Rumänien, gibt es auch Zigeunerhüte, in Ungarn tragen die Zigeuner Schirmkappen, oder sie tun wie Ungarn und tragen Ungarnmützen. Tódor bácsi trägt als Serbe eine hohe schwarze Persianerkappe. Er hält mich auf der Straße an und erzählt von den guten Jahren, als er Kolchosenkoch war und Fleisch in Zentnermengen kaufte.

Der Markt in Battonya bleibt bis in den Mai ärmlich. Die letzten Kartoffeln werden gehandelt, schrumpliges Wurzelgemüse. Magere Monate. Die Frauen beschäftigen sich mit dem Tauschen ihrer Blumenzwiebeln, die Männer mit dem Kauf neuer Obstbäume. Auf dass der Inhalt ihres Gärfässchens für den Pálinka anschwelle. Zwischendrin streichen rumänische Frauen umher, schwenken ihre großen Einkaufstaschen und flüstern im Vorbeigehen “Zigi, Zigi”.

Samstagvormittag, nach dem Markt, verschwindet alles – Obstbäume, Blumenzwiebeln und die erworbenen Schmuggelzigaretten – hinter den Hoftoren. Das lange stille Wochenende bricht an, jeder macht sich hinter seinem Zaun zu schaffen. Hier steckt man viel in die Umfriedung: Ziegelmauern, Zäune aus Asbestplatten, Metall, Holz. Hinter jedem Zaun mindestens ein kläffender Hund. Bewehrte kleine Reiche – wer hier keinen undurchdringlichen Zaun, besser noch eine Mauer hat, um sein Leben dahinter zu verrichten, um den steht es schlecht. Sogar die Tore zu den verfallenden Häusern, in denen niemand mehr wohnt, sind sorgfältig versperrt, die Löcher in den Zäunen geflickt. Wie kommt es zu diesen Schutzburgen und Wällen für jedes noch so ärmliche Gärtchen, für jede Ansammlung von Schrott und Altholz und jedem Nutzen Entwachsenen? Auf solche Fragen gibt es nur Schulterzucken, allenfalls noch der Satz: Damit die Zigeuner nichts stehlen.

Ich lerne weiter: Spaziergänge zu Zeiten, an denen es draußen nichts “zu schaffen” gibt, beunruhigen. Hunde schlagen ihr bitteres Kläffen an, man kann ihre Zähne hören. Gardinen bewegen sich, Hoftore öffnen sich einen Spaltweit. Merre mész? Draußen vor dem Dorf liegen die Grenzer auf der Lauer, brausen dem Wanderer mit ihren Geländewagen entgegen, dass der Schlamm spritzt: Genehmigung. Papiere. Engedély, engedély. Zuerst hört sich das Wort für mich an wie der Name eines Insekts. Die Frösche singen in den randvollen Entwässerungsgräben, Vögel schlagen im Schilf, ein Konzert in schleppendem Adagio, passend zu der endlosen Landschaft, durch die sich so unscheinbar eine Grenze zieht, deren Unversöhnlichkeit ich auch erst langsam lerne.

Es ist Frühling, und wer will, kann jetzt Arbeit haben. Gemeindejobs beim Ausheben von Entwässerungsgräben und Jäten von kommunalen Blumenbeeten. Tagelohn auf den Feldern. Die Felder um Battonya sind riesig, Mohn, Raps, Melonen, Mais, Soja, ehemalige LPG-Wirtschaft, heute im Besitz von großen Gesellschaften. Morgens kommen staubblaue Busse und sammeln die Tagelöhner auf. Manche radeln mit geschulterter Hacke zu ihren ehemaligen Feldern und Gärten, die der Parlamentsabgeordnete Doktor K. aufgekauft hat, bald nach dem rendszerváltás, als jeder den schnellen Groschen wollte. Der schnelle Groschen schwand schnell dahin, jetzt jätet man den Acker vom Doktor K., der zum Dank und mittels seiner politischen Wichtigkeit im Winter kostenlose Weihnachtsbäume spendiert und im Sommer auf dem Sportplatz Pörkölt aus riesigen ehemaligen Kolchosenkesseln.

Im heißen Sommer lerne ich etliche neue Worte. Ich habe noch nie zuvor einen Garten gehabt, und kenne plötzlich Wörter auf Ungarisch, die ich in keiner anderen Sprache weiß. Wörter für Geräte, deren Funktion der Städter nicht ahnt, für Saatgut und Unkraut und Dreck. Aber ich habe keine Worte für die brennende stumpfe Hitze, für die Risse in der steinharten Sommererde, und auch kein Wort für den großen weißen Hintern der jungen Frau, die einmal in der Woche betrunken mit ihrem mageren Liebsten aus der Kneipe an der Ecke meiner Straße stolpert und immer hinter einem dünnen jungen Kirschbaum gegenüber die Hose runterlässt und kichernd pinkelt. Kommt da auch keiner? fragt sie zwischendurch, und ihr Liebster sagt Nein. Nincs.

Nincs ist das wichtigste Wort, das ich zwischen dem Januarschnee und den großen Kriechfeuern im Herbst lerne, wenn die Felder abgeflämmt werden und die kleinen Schatten der Feuerhüter im Schein der Flammen hüpfen. Nincs ist das Hauptwort der Ebene, das Wort von Mangel und Abwesenheit. Noch nie bin ich irgendwo gewesen, wo alles durch das definiert wird, was nicht da ist. Die Ebene ist nicht die Weite bis zum Horizont, sondern der platte leere Teller auf dem alles fehlt, der Hungerteller, das Nicht-Gebirge, der Nicht-Fluss, das Nicht-Meer, und das Leben hier ist nicht ein So-Leben, sondern ein Nicht-So-Leben, und das Dies-Haben ist ein Nicht-Jenes-Haben. Manchmal erscheint es wie eine extreme, komprimierte Form des Trianonkraters in der kollektiven Psyche Ungarns, der immerwährende Verdruss über den Territorialverlust vor fast einem Jahrhundert, ein zähes Leiden, das nicht weggehen will und, so könnte man meinen, dieses südliche Tiefland so leergefressen hat.

Es ist wieder fast Winter und durch die kahlen Bäume sehe ich an einem kalten klaren Tag vom jüdischen Friedhof in Battonya aus zum ersten Mal die Berge hinter Arad. “Das gehörte mal alles uns”, sagt man in Battonya mit diesem Ton herablassender Bitterkeit, mit dem man in ganz Ungarn über Rumänisches spricht. Bei allem Leiden an der Berglosigkeit der Gegend würde selbst einer, der ein Auto hat, nie die Grenze überqueren, um dieses Gebirge aufzusuchen. Rumänien ist das suspekte schwarze Loch, das sich wenige Kilometer von Battonya auftut, und meine häufigen Fahrten nach Arad, wo der Markt bunt, groß und laut ist, werden mit Argwohn betrachtet.

Die Hügel hinter Arad steigen plötzlich an. Steht man am Rand des äußersten Kamms, blickt man auf die Ebene nach Westen wie auf ein riesiges Becken, aus dem ein Meer ausgelaufen ist. Der Hügelzug säumt das Flachland im sanften Schwung einer Küstenlinie. Nach Westen, nach Ungarn hin, lässt sich nicht die kleinste Erhabenheit in dieser Ebene ausmachen. Der Himmel liegt wie eine Last darauf, die wenigen Gegenstände, die man erkennt, sehen aus wie zerbrochenes Spielzeug oder lösen sich bei längerem Hinsehen im Licht auf.

In diesem zweiten Winter versinkt Battonya im Schlamm. Tódor bácsi schenkt mir eine kleine Flasche Pálinka, wenn ich ihn in die Kreisstadt zum Arzt fahre. “Wir Serben”, sagt er, “wir gehören zu keinem. Höchstens zum Banat.” Auch der Banat gehörte mal zu Ungarn, aber ihm trauert niemand hinterher. Hinter den zerbrochenen ausgestopften Fensterscheiben der Häuser am unteren Ende meiner Straße wird gehustet und geflucht, manchmal gestritten, der Fernseher läuft, in den unzerbrochenen Fenstern stehen Schokoladenikoläuse. Der Schlamm klebt in riesigen Klumpen an den Schuhen und zerfällt beim Trocknen zu dunkelgrauem Staub. Die Felder sind schwarz und glänzen im Regen. Ich flüchte vor dem Schlamm nach Budapest und höre mir Spöttisches an über Battonya und die südliche Tiefebene. Obwohl jeder auf die eine oder andere Weise aus der Gegend zwischen Gyoma und Mako zu stammen scheint, gibt es nur Abwehr, Verachtung, auch hier gilt es als Nichtsland. Die kollektive Abneigung gegenüber diesem Landstrich trifft mich, und lieber fahre ich wieder zurück in das Leben am Rand, an der Grenze des Landes, am Rande der Gegenwart, am Rande der Vergangenheit, am Rand der Bewegung der Welt.

Inzwischen verstehe ich genug Ungarisch, um den Erzählungen von früher folgen zu können. Früher, als zum Beispiel noch das Kino in Betrieb war. Das Kino von Battonya ist ein Paradestück der sozialistischen Beglückungsarchitektur der frühen sechziger Jahre. Hinter der Geste der großen und nicht sehr stabilen Fassade mit erloschener Leuchtschrift muss irgendeine Hoffnung gestanden haben, die nicht dem Geld galt. Vielleicht auf Bildung, auf einen anderen, größeren, bunteren, internationalen Horizont, der anders war als der, den man – in aller stillen Schönheit – am Ende jeder Battonyaer Straße sieht. Jedenfalls wurde diese Hoffnung angenommen, und die Leute gingen ins Kino, hatten ihre Lieblingsfilme, ihre Lieblingssitzplätze in diesem riesigen dunklen, jetzt spinnwebverhangenen Raum, jeder hat eine Kinogeschichte, und natürlich fehlt jedem das Kino – wie alles. Im Sommer 2006 läuft das Kino wieder. Der Vorführer Józsi ist aus dem Dunkel seiner Fahrrad- und Nähmaschinenreparaturwerkstatt aufgetaucht und hat sich der zerbrochenen Spulen angenommen, die Projektoren sind repariert, der Alleskönner Attila hat die Stirnwand leinwandweiß und -glatt verputzt, und die ungarische Post bringt große Blechkisten mit Filmrollen. Aber keiner kommt ins Kino, um seinen Lieblingsplatz einzunehmen, seinen Lieblingsfilm zu sehen, sich an seine Lieblingszeiten zu erinnern, als alles noch gut war. Im schwülen Sommer 2006 geht Gewitter um Gewitter auf Battonya nieder, in den Kneipen drängen sich die schweiß- und regennassen Trinker, und ins Kino kommt niemand. Heute braucht man kein Kino, sagt mir der Mann vom Bürgermeisteramt, der sich einen vierstündigen russischen Film über die Befreiung durch die Sowjets gewünscht hat und jeden Tag am Kino vorbeiradelt, um nach dem Programm zu fragen, aber nie eine Karte kauft. Vielleicht hat er recht. Auch das lerne ich: Battonya ist sein eigener langsamer Film, an Regentagen mit einem Hauch von Béla Tárr, ein Film vom Selbstzweck des Verlangens nach dem, was nicht vorhanden ist.

Und dann streift doch ein Segen die Tiefebene: Rumänien tritt in die EU ein, die Grenzkrawatten lockern sich, die ungarischen Grenzer lernen buna zia zu sagen, die rumänischen jó napot. Rumänien schwappt ins Alföld mit Geld für Immobilien und Fleisch, die roten und weißen Zigaretten Marke Ronson in den großen Taschen der rumänischen Frauen an den Markttagen kommen jetzt aus der Ukraine, und der Rechtsanwalt hat Hochkonjunktur. Nach und nach füllen sich viele der leerstehenden Häuser. Es gibt nicht mehr Arbeit, nur mehr Geld, bald auch mehr Kneipen, mehr Blumen auf den öffentlichen Beeten und mehr Frauen, die in den Geimeindejobs die Beete jäten, gießen und bepflanzen. Zu Weihnachten spendiert der Bürgermeister eine blinkende, blitzende, glitzernde Lichterdekoration, die auf den 50 Metern zwischen Rathaus und katholischer Kirche die Ándrassy út in den Schatten stellt, und in den Fenstern stehen mehr Schokoladenikoläuse als früher. Um der wachsenden Menge der Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfänger am dritten Werktag des Monats Herr zu werden, informiert die OTP-Bank jetzt per sms über Zahlungseingänge, aber die Trauben vor der Geldmaschine werden nicht kleiner, die Streitigkeiten nicht weniger, diese bitteren traurigen Szenen im Winter, wenn die Frauen ihren kneipenlustigen Männern zuvorkommen wollen, sobald das Geld aus der Maschine raschelt. Im Abenddämmer des Auszahlungstages im Dezember 2007 zähle ich auf dem Weg zum Geschäft vier Betrunkene, die mit dem Fahrrad gestürzt sind und hilflos lallend auf der Straße oder im Graben liegen.

In meinem vierten Jahr in Battonya bin ich müde und wie infiziert von diesem Empfinden des Fehlens von etwas, das sich nicht definieren lässt. Manchmal radele ich zum Bahnhof und setze mich auf die Veranda, sehe den kleinen Zug ankommen und abfahren. Die radelnden und spazierenden Grenzer, die mich bei meiner Ankunft begrüßten, sind abgeschafft. Ungarn ist jetzt im Schengenparadies und kann wieder auf Rumänien herabschauen. Da im Westen und Norden nur Schengenfreunde leben, sind dort keine Grenzer mehr vonnöten. Polizei und Grenzschutz werden zusammengelegt und fahren jetzt alle in grünen Autos, von denen es an der Nichtschengengrenze wimmelt. Die nicht mehr voneinander zu unterscheidenden Polizisten und Grenzer liegen gemeinsam im fahlen Gestrüpp am Straßenrand und halten fast jedes Auto an, das nicht mit ihnen verwandt oder verschwägert ist. Nur die brausenden Rumänen in ihren Hochkonjunkturautos können sie nicht aufhalten. Die Zahl der Verkehrsunfälle hat sich in zwei Jahren verzehnfacht. Mein Polizistennachbar schwört, dass hinter jedem Unfall ein Rumäne steckt. Sogar im Alföld wird das Wort “Krise” zum Lieblingswort. In Battonya klagt man nicht mehr so viel über das, was fehlt, sondern mehr über das, was da ist: die Rumänen, die ihre Häuser weggekauft haben, die ihre Häuser nicht gekauft haben, die schnelle dicke Autos haben, die Hühner, Hunde und Menschen totfahren, die jetzt auch kein Geld mehr haben. Die Zigeuner, die schon immer da waren, wo sie nicht hingehörten. Das Kino ist geschlossen, und im Saal hängen wieder Spinnweben. Tódor bácsi stirbt an einem Hirnschlag. Mein Polizistennachbar kann sich trotz Krise ein neues Auto kaufen. Ein Grenzer erschießt sich mit der Dienstpistole, weil seine Liebste ihn betrogen hat. Einem Gerücht zufolge, soll die Eisenbahnstrecke Szeged – Arad wieder über Battonya ausgebaut werden. Der Bahnhofsvorsteher macht eine wegwerfende Handbewegung. “Ach was”, sagt er, “wer braucht denn heute noch einen Zug!”

Ab und zu sehe ich durch die kahler werdenden Bäume zum Horizont und zum Wasserturm. Die Nächte sind voller Hundegebell. Die Leere wiegt schwer. Ich schließe mein Haus ab, kehre Battonya den Rücken und ziehe nach Berlin. Einen Winter lang vermisse ich den Horizont, die schütteren Bäume, die schief am fernen Rand der Felder stehen, als hätten Kinder sie gezeichnet, um etwas in diesen weiten Raum zu stellen. In Berlin lerne ich die nächste Battonyaer Lektion: Dass die Abwesenheit immer schwerer wiegt als die Anwesenheit. Ab und zu rufe ich Attila an, der mein Haus hütet. “Was gibt’s neues in Battonya?” “Nichts”, sagt er. “Das Übliche. Nichts.”

Berlin, März 2009

Published 1 September 2009
Original in German
First published by Magyar Lettre Internationale 73 (2009) (Hungarian version)

Contributed by Magyar Lettre Internationale © Esther Kinsky / Magyar Lettre Internationale / Eurozine

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