Kurdische Landschaften vor dem Krieg

Hoffnungen auf Autonomie im Irak, im Iran und in der Türkei

Viele Kurden setzen große Hoffnungen auf eine US-Intervention im
Irak. Der kurdische Traum von einer demokratischen Republik musste
immer wieder scheitern, weil er die Integrität von drei Staaten
bedrohte. Die geopolitischen Realitäten reduzierten die Erwartungen
auf Autonomiemodelle. Als Erste haben die Kurden im Nordirak unter
dem Schirm der britisch-amerikanischen Luftwaffe einen autonomen
Quasistaat aufgebaut. Die iranischen Kurden hingegen wollen mehr
Einfluss in Teheran gewinnen. Den türkischen Kurden hat das
Parlament in Ankara, von der EU ermahnt, erstmals kulturelle Rechte
eingeräumt. Aber die Türkei befürchtet, was die türkischen
Kurden erhoffen: eine irakische Föderation möge ansteckend
wirken. Zudem könnte ein Krieg alte Rivalitäten zwischen Iran,
Irak und der Türkei entfachen, was erneut zu Lasten der Kurden
ginge.

Nahe der iranischen Grenze liegt die Stadt Van an einem sanften Hang,der sich zu den Ufern des Van-Gölü-Sees hinabzieht, einer Art
Binnenmeer mit 37 000 Quadratkilometern Wasserfläche. Seit dem Ende der Kämpfe zwischen der türkischen Armee und der Guerilla der
kurdischen Arbeiterpartei (PKK) ist in dieser Region, die noch immer
einer strengen Kontrolle unterliegt, die Erleichterung mit Händen
zu greifen. “Die Armee ist da, weil wir Kurden sind und weil das
nicht gut ist”, lautet der sarkastische Kommentar von Hamdi Demir.
Der etwa 60-jährige Vorsitzende der prokurdischen Hadep-Partei, die
noch immer von einem Verbotsverfahren bedroht ist, strahlt trotz
Anzug und Weste die Würde eines alten Weisen aus. Seine Worte sind
einfach und scharf.

Vom kleinsten Dorf bis zu den größten Ballungszentren gibt es
kein Dach ohne Satellitenschüssel. Die kurdischen Familien im Osten
der Türkei sehen – das behauptet jedenfalls Ankara – den “PKK-nahen
Sender” Medya-TV. Militärisch hat Ankara die Schlacht gewonnen.
Nach der Festnahme von PKK-Chef Abdullah Öcalan und seinem Aufruf
zum Waffenstillstand im August 1999 haben die bewaffneten Kämpfer,
die seit Anfang der Achtzigerjahre in die Berge gegangen waren, ihre
Sachen gepackt und sich in den Norden des Irak zurückgezogen. Aber
den Medienkrieg, die Schlacht um die Bildschirme, hat der türkische
Staat verloren, nachdem er jahrelang versucht hatte, die
Parabolantennen zu beschlagnahmen. Die Armee kontrolliert die
Straßen, aber nicht die Wellen im Äther.

Die Wände des Raums sind mit Teppichen und Porträts von
kurdischen Persönlichkeiten gepflastert. Ein Dutzend Studentinnen
und Studenten haben sich zum Tee versammelt und erzählen von den
Hintergründen ihrer Kampagne für die kurdische Sprache, die seit
dem letzten Winter an 53 Universitäten durchgeführt wird. “Unsere
Forderung ist klar”, sagt der 20-jährige Huseyin: “Wir wollen nur
das Recht haben, Kurdisch als Zweitsprache zu lernen, genau wie
Englisch, Spanisch, Farsi oder Arabisch. Es geht uns nicht darum,
Türkisch als Unterrichtssprache abzuschaffen und durch Kurdisch zu
ersetzen. Die Regierung stellt das falsch dar, um unsere Forderung zu
diskreditieren. In Van hatten wir 2 000 Unterschriften gesammelt, die
wir dem Rektor der Universität überreichen wollten. Und dann hat
dieser uns gezwungen, dass jeder Unterzeichnende diesen Schritt
einzeln vollzieht.”

Zwei Monate später kam der Urteilsspruch aus Ankara: “Diese
Bewegung ist eine Kampagne der PKK.” Mehrere der führenden
Aktivisten wurden festgenommen und von der Universität verwiesen.
Nach einem Hungerstreik im Mai wurden einige von ihnen am 18. August
vor dem Staatssicherheitsgerichtshof in Istanbul angeklagt und
verurteilt. Dabei hatte das türkische Parlament in der Zwischenzeit
das Recht auf Unterrichtung der “Minderheitensprachen” anerkannt: Am
3. August hatte die Nationalversammlung ein Reformpaket
verabschiedet, um die Gesetze und die Verfassung mit den so genannten
Kopenhagen-Kriterien zu harmonisieren, die für alle
Beitrittskandidaten der Europäischen Union verbindlich sind. Aber
der Unterricht in “den verschiedenen Sprachen und Dialekten, die von
türkischen Staatsbürgern traditionellerweise in ihrem
Alltagsleben gesprochen werden”, wie es in dem Gesetzestext heißt –
das Wort “kurdisch” bleibt tabu -, darf nur in privaten Einrichtungen
erfolgen, und die Kurse dürfen weder “gegen die grundlegenden
Prinzipien der Türkischen Republik, wie sie in der Verfassung
niedergelegt sind”, noch gegen “die Unteilbarkeit des Staatsgebiets
und der Nation verstoßen”. Diese beiden Einschränkungen könnten
die Wirksamkeit der neuen Gesetze durchaus zunichte machen.

Im Lauf der Diskussion kommen unsere Gesprächspartner auf den
Kurswechsel der PKK zu sprechen. Über Medya-TV haben die meisten
von ihnen die Wandlungen der Rebellen-Partei verfolgt. Sie
begrüßen das Ende des bewaffneten Kampfes zugunsten einer
Strategie der demokratischen Entwicklung in den vier Ländern –
Türkei, Irak, Syrien und Iran -, die den Siedlungsraum der Kurden
bilden, und die Gründung des Kadek (Kongress für Freiheit und
Demokratie in Kurdistan). “Die Welt ändert sich, man muss mit der
Zeit gehen”, meint Cemal, der gerade das Buch liest, das Öcalan in
seiner Zelle auf der Gefängnisinsel Imrali geschrieben hat. Der
seit Jahrzehnten über das Kurdengebiet verhängte Ausnahmezustand
wurde am 20. Juni 2002, drei Jahre nach dem Ende des bewaffneten
Kampfes, fast vollständig aufgehoben; nur in den Provinzen
Diyarbakir und Sirnak wurde er um vier Monate verlängert. Eine
Veränderung ist jedoch kaum zu spüren. In Bingol haben etwa
dreißig politische Vereinigungen und Nichtregierungsorganisationen
am 2. Juli in einer gemeinsamen Erklärung festgestellt: “Obwohl der
Notstand schon seit drei Jahren aufgehoben ist, dauert die Repression
gegen demokratische Institutionen und Organisationen unvermindert
an.”

In Van liegt die Arbeitslosigkeit bei 80 Prozent. Die vom Land
vertriebenen Dorfbewohner strömen in die Städte, wo sie in Lagern
oder Slumsiedlungen hausen. Von 520 zerstörten Dörfern der
Region, denen man Unterstützung der PKK-Rebellen vorgeworfen hatte,
wurden den Einwohnern gerade einmal 90 zurückgegeben. Die übrigen
Zwangsevakuierten will Ankara in neu errichteten, mehrere Dörfer
zusammenfassenden Siedlungen unterbringen, die oft weit von ihren
traditionell bearbeiteten Feldern entfernt liegen. Aber die Menschen
weigern sich und bleiben in den Städten, wo sie ohne Arbeit sind
und keine Möglichkeit haben, sich wieder in Ackerbau und Viehzucht
zu betätigen, traditionell die wichtigsten Einkommensquellen der
Region.

Die aus regimefreundlichen Kurdenstämmen rekrutierten Hilfsmilizen
der so genannten Dorfschützer, die mit der Verfolgung der
bewaffneten Kämpfer beauftragt waren, sind immer noch aktiv und
haben sich häufig die Böden der vertriebenen Familien angeeignet,
worüber Letztere natürlich verbittert sind.

Zwanzig Jahre Krieg, jahrzehntelange Militarisierung und der
fortwährende Ausnahmezustand in der Region haben eine
bürokratische und militärische Hydra hervorgebracht, in deren
Innerstem sich die Klans und die Mafia eingenistet haben. Jetzt, nach
dem Ende der Guerillakämpfe, fällt die Umstellung schwer. Das
vielköpfige Ungeheuer widersetzt sich jedem Wandel, der die
regionale Macht der Kurden stärken und ihnen darüber hinaus – im
Rahmen der Institutionen der Türkischen Republik – eine Beteiligung
an der zentralen Macht in Ankara einräumen würde. Werden die
vorgezogenen Wahlen am 3. November ein Ergebnis bringen, das eine von
den Wählern in der Osttürkei gewünschte Mehrheit mit der
institutionellen Mehrheit im Parlament von Ankara in Einklang bringt?
Die Meinungsumfragen räumen der gemäßigten islamistischen AKP
(Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) und der prokurdischen
Dehap-Partei, Nachfolgerin der mit Verbot bedrohten Hadep, gute
Chancen ein. Diese Kombination irritiert vor allem den Generalstab
des türkischen Militärs, dessen institutionelle Macht bislang
ungebrochen ist.

Ein Militärschlag der USA gegen den Irak in diesem Herbst oder
Winter könnte die politische Entwicklung in der Türkei zurück
an ihren Nullpunkt bringen. Dann würde sich die Armee auf der
politischen Bühne wieder in den Vordergrund drängen. Die
befürchtete Zerschlagung des Irak und die Proklamation eines
unabhängigen Kurdenstaats an der türkischen Grenze sind für
Ankara eine wahre Horrorvorstellung. Beim Besuch des
stellvertretenden US-Verteidigungsministers Paul Wolfowitz am 17.
Juli hat die Türkei für ihre Beteiligung an der “unvermeidlichen”
Intervention der USA vier Bedingungen gestellt. Washington soll
erstens die vier Milliarden Dollar Schulden erlassen, die Ankara
für Rüstungslieferungen schuldet; zweitens neue Kredite
bewilligen, um die wirtschaftlichen Folgen eines neuen Krieges zu
mildern; drittens die territoriale Integrität des Irak garantieren
und viertens den irakischen Kurden nicht nur jeglichen kurdischen
Staat, sondern auch jede Kontrolle über die ölreiche Region um
ihre historische Hauptstadt Kirkuk verweigern. Der Aufstand der
irakischen Kurden am Ende des Golfkriegs im Frühjahr 1991 und ihr
anschließender Exodus, der sie zu Millionen in die Berge trieb,
hatten in der Region von Van zu chaotischen Verhältnissen
geführt. Die türkischen Kurden verfolgen daher mit größter
Aufmerksamkeit, wie sich die Kraftprobe zwischen Washington und
Bagdad entwickelt. “Wenn die amerikanische Intervention nur darauf
abzielt, Saddam auszuschalten, um einen anderen Diktator an seine
Stelle zu setzen, wird es schlimm”, meint Hamdi Demir. “Wenn sie aber
eine demokratische Lösung in Bagdad ermöglichen soll, um so
besser. Dann ist nichts zu befürchten: Die irakischen Kurden werden
nicht in die Berge fliehen, um hier Schutz zu suchen.”

Die Brüder im Iran haben es besser

DIE Kurden erleben ihre Geschichte oft aus zweiter Hand, über
Informationen von Verwandten jenseits der Grenzen, die sie
voneinander trennen. Familien- und Stammesverbände sind auseinander
gerissen. Auch Hamdi Demir hat, wie es in der Region häufig
vorkommt, zwei Brüder und eine Schwester, die im Iran leben. Daher
weiß er zu berichten: “Dort ist das Leben einfacher, sowohl in
ökonomischer Hinsicht als auch auf der kulturellen Ebene. Im Iran
haben sie auch als Kurden Meinungsfreiheit, ja sie stellen sogar
Abgeordnete im Parlament von Teheran.”

“Kordestan-Nord”: Das Schild an der Ringstraße, die sich um das
Zentrum der iranischen Hauptstadt zieht, ist vielleicht ein
lächerliches Detail, und doch wäre es in Ankara undenkbar, wo man
schon durch die Verwendung des Wortes “Kurdistan” in die Fänge der
Justiz geraten kann.

Im Iran kommen auf die Gesamtbevölkerung von 70 Millionen
Einwohnern mehr als 10 Millionen Kurden. Seit einiger Zeit verfügen
diese bereits über einen Großteil jener Grundrechte, die den
Kurden der Türkei bis zum Sommer dieses Jahres verwehrt waren. Im
kurdischen Kulturzentrum von Teheran wurde übrigens am 30. und 31.
Mai 2002 die erste wissenschaftliche Konferenz zur Didaktik der
kurdischen Sprache abgehalten. Bei dieser Gelegenheit hat ein
Vertrauter von Präsident Mohammed Chatami die Teilnehmer eigens
ermutigt, ein Lehrbuch der kurdischen Sprache zu verfassen.

“Unser Kampf hat eine lange Geschichte”, betont der Direktor des
Zentrums, Bahran Valadbaigi. “1945 gründeten die iranischen Kurden
die Republik Mahabad, die ein Jahr später von der Zentralregierung
zerschlagen wurde. Wir haben uns an der Revolution von 1978 gegen den
Schah beteiligt. Aber dann wurden uns nicht die Rechte eingeräumt,
die wir hätten bekommen müssen.” Noch einmal wurden die
Kurdengebiete befreit, diesmal von Kämpfern der Demokratischen
Partei Kurdistan in Iran unter Abdul Rahman Gassemlu, ehe dieser
mitsamt seinen Getreuen ermordet und die kurdische Freiheitsbewegung
von den Pasdaran, den Revolutionsgarden der Ajatollahs, blutig
niedergeschlagen wurde.

Aber wie in der Türkei hat sich auch der größte Teil der Kurden
im Iran definitiv vom bewaffneten Kampf abgewendet. “Das ist eine
Generationenfrage”, versichert Bahran Valadbaigi. “Unsere neue
Strategie nimmt Rücksicht auf die Veränderungen in der Welt: Den
Fall der Berliner Mauer, die Auflösung der Blöcke, die
Globalisierung, das Internet. Sie stützt sich auf die Kultur, auf
Filme, die Sprache, das Streben nach Demokratie.” Und Bachtiar, ein
junger Kurde aus Sanandaj, resümiert lachend: “Der Krieg geht
weiter, nur haben wir jetzt statt der Kalaschnikows unsere
Kugelschreiber.”

Im Parlament von Teheran ist die kurdische Bevölkerung heute durch
22 Abgeordnete vertreten, die allerdings als Unabhängige gewählt
sind, weil es keine kurdische Partei geben darf. Aber, betont
Valadbaigi, “wir wollen an der Ausübung der Zentralmacht teilhaben.
Wir lassen uns nicht mehr an den Rand drängen.”

Die Erfahrung der Kurden im benachbarten Irak, die zu Herren ihrer
eigenen Region geworden sind, wird hier mit gespanntem Interesse
verfolgt. Sie kommt den iranischen Kurden ein wenig wie eine
Neuauflage der Republik Mahabad vor. Nach Ansicht Valadbaigis käme
im Übrigen eine Intervention der USA zum Sturz von Saddam Hussein
aus kurdischer Sicht einer “Vorsichtsmaßnahme” gleich,
schließlich hat das Regime in Bagdad “unsere Brüder dezimiert.
Dazu war ihm jedes Mittel recht, einschließlich chemischer Waffen,
und niemand kann sicher sein, dass es diesen Versuch nicht
wiederholt.”

Sanandaj, 250 Kilometer von Teheran entfernt, ist die Hauptstadt der
Region, die offiziell als Iranisch-Kurdistan bezeichnet wird. Vor
einem imposanten Gebäude der Pasdaran gesteht uns ein Kurde in
leitender Position: “Das ist nicht unsere Welt, aber wir mussten uns
anpassen.” Seine Frau, die wider Willen den schwarzen Schleier
trägt, bestätigt: “Die Tschechen und Slowaken haben sich
wenigstens anständig getrennt, ohne sich zu prügeln. Warum haben
wir nicht das Recht, es genauso zu machen? Man wählt, man
entscheidet sich, das ist doch ein Recht, oder?”

Die massiven Solidaritätsdemonstrationen nach der Festnahme des
PKK-Führers kamen für alle überraschend. “In Sanandaj gab es 30
Tote”, erzählt ein junger Kurde. “Die Demonstration geriet außer
Kontrolle, weil die Jugendlichen immer mehr Druck gemacht haben, erst
mit Parolen für Abdullah Öcalan, dann mit Forderungen nach
Freiheit für die Kurden im Iran und schließlich mit Attacken auf
die Regierung in Teheran, gegen die Islamische Republik.” Einer
seiner Freunde gibt dazu den Kommentar: “Ehe die Amerikaner Bagdad
bombardieren, sollen sie lieber mal hier vorbeikommen und ein paar
Bomben auf unser Regime abwerfen.”

Kahle Berge, verschachtelte, von Palmen überragte Ortschaften,
schmale Straßenpisten. Wenn man auf der Straße, die Kermanschah
mit Bagdad verbindet, der irakischen Grenze näher kommt, sieht man
rechts und links immer mehr ausgebrannte Wracks von Panzern und
Kampffahrzeugen. Seit dem iranisch-irakischen Krieg (1980-1988)
liegen sie hier herum. In Qasr ist die Grenze zum Irak an zwei Tagen
pro Woche geöffnet. Hinter Stacheldraht und Sandsäcken sieht man
bewaffnete Soldaten Wache schieben.

Hier im Nordosten des Irak ist die grüne Fahne mit der roten Rose
allgegenwärtig. Sie ist das Symbol der Patriotischen Union
Kurdistans (PUK), der Partei von Dschalal Talabani, die jüngst in
die sozialistische Internationale aufgenommen wurde. Das sich
westlich anschließende Kurdengebiet, das an die Türkei und an
Syrien grenzt, untersteht der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP),
der Partei von Masud Barsani. Nach den jahrelangen Kämpfen zwischen
beiden Fraktionen herrscht endlich Ruhe. Es war ein
“Selbstmordkrieg”, der etwa 3 000 Tote gefordert hat. Der Chef der
Regionalregierung, Baran Saleh, hält die Steuereintreibungen der
KDP an der türkisch-irakischen Grenze und die Begünstigung der
von ihr kontrollierten Region bei der Verteilung der Gelder für den
Schlüssel der Feindseligkeiten, die das autonome Kurdistan
gespalten haben.

Mittlerweile ist die Versöhnung der beiden Parteien, die seit 1998
von London und Washington betrieben wird, so gut wie abgeschlossen.
Am 6. August haben sich Delegationen beider Seiten in Koisinjaq
getroffen, um die vereinte kurdische Nationalversammlung, die bereits
1992 gewählt worden war, wieder ins Leben zu rufen. Am 7. September
empfing Barsani dann den Rivalen in seiner Hochburg Salahad-Din. Da
war Talabani gerade von einer Reise nach Washington, London und
Ankara zurückgekommen, wo er an einem Treffen mit Vertretern der
irakischen Opposition teilgenommen hatte, einer Konferenz vor allem
von Kurden, Schiiten und Offizieren der irakischen Armee, die im Lauf
der letzten zehn Jahre aus ihrem Land geflohen waren. Die beiden
Männer verständigten sich darauf, das kurdische Parlament am 4.
Oktober wieder in Erbil zusammentreten zu lassen und die Positionen
beider Parteien in den wichtigsten Punkten abzustimmen: über die
allgemeine Zukunft des Irak und über Fragen des Föderalismus, der
Demokratie, der Beziehungen zu den Nachbarländern und zur
internationalen Gemeinschaft.

Das ist auch nötig, sagt Baran Saleh, “denn die Lage von
Irakisch-Kurdistan bleibt prekär, solange Saddam Hussein in Bagdad
herrscht, solange sein Regime nicht durch ein demokratisches System
ersetzt ist, das von den Irakern anerkannt wird und dem auch die
Kurden angehören. Der gegenwärtige irakische Staat ist bankrott.
Die Araber wissen das und fragen sich schon, ob sie nicht künftig
mit den Kurden regieren sollten.”

Saleh ist ein lebhafter großer Mann um die vierzig mit Stirnglatze
und ausladenden Gesten. Er wohnt im Zentrum von Sulaimanija in einer
kleinen Straße, deren Zufahrt in beide Richtungen abgesperrt ist.
Bewaffnete Peschmerga halten Wache. Saleh ist im März 2002 knapp
einem Attentat entkommen. Seine Leibwächter wurden erschossen. Vor
der Haustür steht eine Kolonne von Limousinen, brandneu und alle
identisch, aus Sicherheitsgründen. Wenn er sich von der Stelle
bewegt, weiß man nie, welchen Wagen er benutzt.

Saleh sieht sich schon in Bagdad. Er ist ein Gegner des
“kurzsichtigen politischen Realismus”, der Meinung also, dass die
Beteiligung an einer US-amerikanischen Intervention gegen das Regime
von Saddam Hussein für die Kurden ein zu großes Risiko wäre.
Aber natürlich könne man auch nicht “bei jedem Plan oder jedem
Abenteuer” mitmachen. Die kurdischen Organisationen haben, anders als
die Nordallianz in Afghanistan vor dem Sturz des Taliban-Regimes,
bereits jetzt fast ein Drittel des Landes unter ihrer Kontrolle:
“1991 hatten wir 804 Schulen, heute sind es über 2 700. In zehn
Jahren haben wir doppelt so viel gebaut wie vorher in siebzig Jahren.
Wir haben viermal so viele Ärzte wie früher. Der Lebensstandard
hier ist weit höher als in den von Bagdad kontrollierten Regionen.”
Und er fährt fort: “Niemand lebt in der Angst, mitten in der Nacht
von der Geheimpolizei aus dem Bett geholt zu werden.”

Um 18 Uhr drängen sich die Menschen auf den Gehsteigen von
Sulaimanija und in den Gassen des Basars. Das Warenangebot ist
umfassend und reichhaltig. Beim Umtausch gegen Dollars ist das
irakische Geld von Kurdistan zehnmal so viel wert wie das offizielle
irakische Geld in Bagdad. Wechsler sitzen an jeder Straßenecke. Die
Stadt hat eine Zentralbank, aber keine Verbindung mit dem
internationalen Bankensystem.

Die Nachrichten sind frei. Eine Vielfalt von Zeitungen werden
verkauft, die meisten sind allerdings parteigebunden. Häufig haben
die Parteien auch ihre eigenen Fernsehsender und Radiostationen. Es
wäre also verfrüht, von einer unabhängigen Presse zu sprechen.
Aber die Einwohner können ihr Fernsehprogramm wählen und nach
Belieben im Internet surfen. Auch die Zeitungen der KDP sind in
Sulaimanija erhältlich. Das allerdings ist neu. Seit dem Krieg
zwischen den beiden Fraktionen war die Partei von Barsani in den von
der Talabani-Partei kontrollierten Gebieten offiziell nicht mehr
vertreten, und umgekehrt.

An der großen Straße, die ins Stadtzentrum führt, findet man
neben Hotels und Restaurants auch etliche Läden, die Alkohol
verkaufen. Manche Frauen tragen den schwarzen Schleier über dem
Gewand, aber viele sind auch “westlich” gekleidet. Der Schleier ist
weder verboten wie in der Türkei noch obligatorisch wie im Iran.
“Die individuellen Freiheiten setzen sich durch”, sagt Baran Saleh,
“Sie sind gesetzlich verbürgt. Keine offizielle Ideologie darf
irgendjemandem eine bestimme Lebensart vorschreiben.” Die Polygamie
wurde unter Strafe gestellt, der Ehrenmord – also jene Tradition, die
es “duldet”, dass die Familie Frauen tötet, wenn sie die ihnen
auferlegten Heiratsvorschriften nicht einhalten – ist nunmehr
verboten und wird mit schwersten Strafen geahndet. In der von der KDP
kontrollierten Region wird in dieser Frage die gleiche Politik
verfolgt.

Ob Turkmenen, Assyrer, chaldäische Christen oder jesidische Kurden,
die ethnischen und religiösen Minderheiten haben ihren Platz in der
Öffentlichkeit und genießen ihre Rechte – eine Voraussetzung
für jede demokratische Entwicklung. Aber in der Umgebung von
Halabjah, nahe der iranischen Grenze, haben sich in mehreren
Dörfern Gruppen von Ansar al-Islam niedergelassen, die nach Angaben
der regionalen kurdischen Behörden mit dem Netz der al-Qaida in
Verbindung stehen. Das bedeutet für die Regionalregierung eine
ernste politische Gefahr. Gedankenfreiheit, Laizität, freier
Alkoholverkauf, fehlender Kleiderzwang: alle hier erzielten
Fortschritte könnten womöglich der fundamentalistischen Kritik
eine Angriffsfläche bieten, vor allem in den armen Schichten der
Bevölkerung, die sich den von ihren Führern so geschätzten
westlichen Lebensstil nicht leisten können.

Auf dem Campus der Universität dagegen haben die Islamisten
offenbar keinerlei Einfluss. In Sulaimanija studieren 6 000 junge
Leute. Die naturwissenschaftlichen Fächer werden auf Englisch
gelehrt, Literatur, Geschichte und Geografie dagegen in arabischer
Sprache. Die kurdische Sprache kommt auf einer anderen Ebene zum
Zuge: Seit die Kurden 1991 die Kontrolle über die Region errungen
haben, ist der Kurdischunterricht zum Bestandteil der Lehrpläne an
Grund- und Oberschulen geworden. “Am Institut für Kurdologie
arbeiten wir an der Vereinheitlichung der kurdischen Sprache, die
zwei Hauptdialekte hat”, erklärt Kamal H. Choschnaw, der
Präsident der Universität: “Wir denken daran, das lateinische
Alphabet einzuführen, das auch die Kurden in der Türkei benutzen,
und das derzeit in Irak und Iran geltende arabische Alphabet
aufzugeben.”

“In all diesen Kriegsjahren, seit wir 1975 den Weg der Guerilla
eingeschlagen haben und in die Berge gegangen sind, haben wir uns oft
gesagt: Nächstes Jahr werden wir in Kirkuk sein. Und wir haben uns
ständig getäuscht”, sagt Dschalal Talabani. “Aber diesmal bin ich
überzeugt: Nächstes Jahr sind wir in Bagdad.” Der PUK-Führer
glaubt, dass das Ende der Ära Hussein gekommen ist. Aber auch wenn
die USA beschlossen haben, das Regime in Bagdad zu stürzen, weiß
man weder wann noch wie es dazu kommen wird: “Und solange diese
beiden Fragen nicht geklärt sind, können wir unmöglich sagen,
ob wir ihre Intervention unterstützen werden oder nicht. Saddam
Hussein ist völlig isoliert von der irakischen Bevölkerung, er
kann nicht die geringste Öffnung zulassen. In Bagdad werden weder
Internet noch Satellitenschüsseln geduldet. Die Worte des
Präsidenten sind Gesetz, auch wenn das Gegenteil in der Verfassung
steht. Es handelt sich um eine totale Terrorherrschaft. Wer nicht ja
sagt, wird gehenkt.” Zwischen drei und vier Millionen Iraker,
Führungskräfte, Militärs und Intellektuelle, mussten vor der
Diktatur aus ihrem Land fliehen.

Für Talabani läuft die Zukunft des Irak über die Errichtung
einer weltlichen, demokratischen und föderalen Republik. “Nichts
wäre uns lieber, als wenn dieser Staat auf friedlichem Wege
entstünde, über den Dialog, ungefähr so, wie der Übergang
beispielsweise in Osteuropa abgelaufen ist.”

Erst jüngst hat das irakische Parlament die Amtszeit von Saddam
Hussein um weitere sieben Jahre verlängert. Zur Wahrung des Scheins
sollen am 15. Oktober Wahlen stattfinden. Mit seinem Appell an den
irakischen Präsidenten will Kurdenführer Talabani dem Regime eine
letzte Chance eröffnen, “endlich Schluss zu machen mit der
Einparteienherrschaft, eine Regierung zu bilden, die das ganze
irakische Volk repräsentiert, und den Weg zu freien Wahlen frei zu
machen”. Sollte dieses Angebot jedoch zurückgewiesen werden, “ist
die amerikanische Intervention unvermeidlich”.

Die “unvermeidliche Intervention” könnte vor allem in einer Reihe
von Luftschlägen gegen die letzten Stützpfeiler des Regimes
bestehen, konzentriert auf die Kasernen der republikanischen Garde,
die persönlichen Schutztruppen von Saddam Hussein. “In einem
solchen Fall könnten diese Kräfte vielleicht zwei oder
höchstens drei Wochen widerstehen”, meint Saada Pira, der für die
internationalen Beziehungen der PUK zuständig ist. Was die
regulären irakischen Streitkräfte betrifft, so würden sie das
Regime nach Einschätzung der Kurden nicht gegen eine
angloamerikanische Offensive verteidigen. Im Gegenteil, man rechnet
eher mit einer noch heftigeren Welle von Desertionen und
Regimentserhebungen als am Ende des Golfkriegs.

Die irakische Opposition hält es für die Aufgabe der Iraker, der
Kurden und der Araber, in diesem Moment der Schwäche das Regime zu
stürzen. Nach eigener Darstellung kann sie sich auf mindestens 200
000 bewaffnete Männer stützen und möchte verhindern, dass eine
größere Zahl fremder Truppen auf irakischem Boden zum Einsatz
kommt. Wenn die Hauptstadt und die wichtigsten großen Städte
unter Kontrolle gebracht wären, “käme es zu einer ähnlichen
Situation wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg”, bemerkt
Saadi Pira, von Haus aus Germanist, der 15 Jahre lang in Österreich
gelebt hat. “Wir sollten davon ausgehen, dass sich die meisten
Mitglieder der Baath-Partei in einer ausweglosen Lage befinden. Wir
werden sie eben reintegrieren müssen, im Rahmen des Rechtssystems,
das es neu aufzubauen gilt.”

Nach Talabani wird mit dem Sturz von Saddam die Zeit für Freiheit
und Demokratie anbrechen: “Alle werden an den Wahlen teilnehmen, und
danach wird entschieden. Wir haben gute Beziehungen zu sämtlichen
Parteien – zu Kommunisten, Sunniten, Schiiten, Nasserianern,
Liberalen und Demokraten. Es ist vielmehr die Regierung in Bagdad,
die Keile zwischen die Gruppen treibt und sie gegeneinander
aufhetzt.”

Der Chef der PUK befürchtet nicht, dass im Süden des Irak eine
fundamentalistische Region entstehen könnte: “Mohammed Baker
al-Hakim, der Vorsitzende des Obersten Rats der Islamischen
Revolution, wird seine Leute nicht nach Kurdistan schicken, damit sie
die Geschäfte schließen, in denen es Alkohol zu kaufen gibt.” Er
setzt auf ein parlamentarisches Regime. Auch seien die Schiiten alles
andere als Fundamentalisten, vielmehr waren die Nationalisten und die
irakische KP in der Schiitenregion im Süden besonders stark, meint
Talabani: “Sicher, die Kurden träumen immer noch von einem
vereinten Kurdistan. Aber das geht an der Realität vorbei. Dafür
müsste man überall neue Verhältnisse schaffen, im Irak, in der
Türkei und im Iran. Wir träumen von einem demokratischen Irak.
Lassen wir erst einmal diesen Traum Wirklichkeit werden.”

Ein so einschneidender Umbruch könnte für die Nachbarländer
eine harte Belastungsprobe darstellen. Eine kurdische Teilhabe an der
Macht in Bagdad würde die Kurden im Iran und in der Türkei in
ihren Forderungen bestärken. Die Errichtung einer autonomen Region
im Rahmen eines irakischen Föderativstaates wäre ein
Präzedenzfall, ein Vorbild für die anderen Länder mit
kurdischer Bevölkerung. Genau davor fürchtet man sich in Ankara,
das sich schon jetzt im Namen der turkmenischen Minderheit anmaßt,
über die innere Gestalt eines neuen Irak und insbesondere über
das Schicksal der Provinz Kirkuk zu bestimmen. “Die USA müssen die
Verantwortung dafür übernehmen, dass es hier nicht zu einem
‘zweiten Fall Zypern’ kommt”, sagt man in Sulaimanija.

Was den Iran betrifft, so wird er dem Regime in Bagdad keine Träne
nachweinen, das während des sich fast zehn Jahre hinziehenden
iranisch-irakischen Krieges heimlich von den USA unterstützt wurde.
Die iranische Führung befürchtet, das nächste Ziel auf der
Liste der Amerikaner zu sein, auch deshalb dürfte sie gute
Beziehungen zu den Kurden und Schiiten pflegen, die den Kurs einer
neuen Regierung in Bagdad beeinflussen können. Und al-Hakim ist in
der iranischen Hauptstadt, in der er seit Anfang der Achtzigerjahre
lebt, ohnehin praktisch zu Hause.

Die Ersetzung des Regimes von Saddam Hussein durch eine mit den USA
verbündete Regierung – wäre das nicht der große Coup in dem
politischen Spiel, das mit dem Krieg in Afghanistan begonnen hat?
Dann würden die Karten in der Region neu gemischt, die Vereinigten
Staaten würden die Kontrolle über die irakischen Ölquellen
ausüben und wären nicht mehr auf den einen privilegierten
Bündnispartner Saudi-Arabien angewiesen. Dass auf diese Weise die
strategischen Interessen der USA mit ihrem eigenen Streben nach
Demokratie zusammenfallen, bestärkt die irakischen Kurden in ihrer
Hoffnung, diesmal nicht im Stich gelassen zu werden. Ist das ein
Traum, oder ist es Wirklichkeit?

Published 24 October 2002
Original in French
Translated by Grete Osterwald

Contributed by Le Monde diplomatique (Berlin) © Contrapress media GmbH / Le Monde diplomatique (Berlin) / Eurozine

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