Jenseits der Demokratie

Zum Verhältnis von Kunst, Staat und Kirche in Polen

Ich möchte zunächst auf zwei Kunstwerke zu sprechen kommen, die sich in gewisser Weise sehr ähnlich sind und doch sehr unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Dabei handelt es sich zum einen um “La Nona Ora” von Maurizio Cattelan, eine Skulptur, die 2000 in der Galerie Zacheta in Warschau zu sehen war und den vorigen Papst zeigt, wie er, von einem Meteoriten getroffen, am Boden liegt, zum anderen um “The End of the First Five-Year Period” von Ciprian Muresan, ausgestellt 2004 in der Galerie Protokoll in Cluj. Letzteres bedient sich desselben ikonografischen Motivs, in diesem Fall jedoch nicht mit dem Papst im Mittelpunkt, sondern mit dem rumänischen Patriarchen – für RumänInnen sicherlich dennoch eine Autorität. Das erste Werk wurde von zwei Mitgliedern des polnischen Parlaments zerstört, Witold Tomczak und Halina Nowina-Konopczyna, die den Stein vom Körper Johannes Paul II. entfernten. Auf das zweite Kunstwerk gab es keinerlei Reaktion. Bemerkenswert ist auch, dass sich die Staatsanwaltschaft, die in der polnischen Kunst damals äußerst umtriebig war – worauf ich später noch zu sprechen kommen werde –, trotz des offensichtlichen Tatbestandes des Vandalismus und des Verstoßes gegen das Gesetz zum Schutz von Kulturgütern weigerte, gegen zwei polnische Parlamentsmitglieder Anklage zu erheben.

Harald Szeemann, der Kurator der Zacheta-Ausstellung, hatte mit seiner weitsichtigen Entscheidung, Cattelans Arbeit zu zeigen, die Hysterie in Polen allerdings bereits antizipiert. Für eine Ausstellung polnischer Kunst wollte Szeemann etwas präsentieren, das im “Bereich der polnischen bildenden Kunst” Wirkung zeigen würde. Da er in der polnischen Kunstszene nicht fündig wurde, entschied er sich für “La Nona Ora”. Ich bin sicher, dass es Szeemann um die polnischen Reaktionen auf das Bildnis des Papstes ging, der wohl wichtigsten Kultfigur in der polnischen Vorstellungswelt. Deshalb wählte er kein Werk, das Johannes Paul II. auf einem Podest zeigt, wie er in heroischer Pose auf uns herabblickt, sondern, ganz im Gegenteil, eines, das ihn von einem Meteoriten niedergeschmettert am Boden liegend darstellt. Dies war in der Tat ein visueller Schock. Das Publikum lief an der liegenden Figur des Papstes vorbei, ja, stolperte dabei fast über ihn. In gewisser Hinsicht hat Szeemann sein Ziel erreicht – er hat unser Bild von Johannes Paul II. dekonstruiert. Gleichzeitig ist er jedoch auch gescheitert – denn das polnische Publikum erwies sich als absolut unfähig, seine visuelle Einstellung zum Pontifex zu analysieren. Anstatt dies zu reflektieren, reagierten einige Mitglieder des politischen Establishments äußerst aggressiv. Interessant ist auch, dass Witold Tomczak, damals Mitglied des Unterhauses des polnischen Parlaments (Sejm) und heute Europaabgeordneter, sich nicht nur nie für seine Tat entschuldigt hat, sondern dass er sogar noch den Kultusminister in einem Anschreiben aufforderte, Anda Rottenberg, die damalige Leiterin der Galerie Zacheta, zu entlassen, und man seinem Vorschlag Folge leistete.

Muresans Werk wurde unter gänzlich anderen Umständen ausgestellt. Zwar war es Catellans Vorbild nachempfunden, und dieser ganz spezielle Bezug war für das Publikum sofort erkennbar, aber bei der Skulptur an sich ging es nicht so sehr “um” den Patriarchen, als vielmehr um “La Nona Ora”. Der Verweis auf den Patriarchen erfolgte mittels eines anderen Werks und einer anderen Person, was zu äußerst unterschiedlichen Interpretationen führte. Vor allem wurde der Patriarch nicht nur in seiner Eigenschaft als Oberhaupt einer anderen Kirche mit dem Papst verglichen, sondern auch als jemand, der – neben anderen – die Last der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft zu tragen hat. In Europa ist dieser Prozess sehr augenscheinlich, ob man sich dessen in Polen nun bewusst ist oder nicht; dasselbe gilt für Rumänien. Anders als die römisch-katholische Kirche in Polen, die jetzt die Früchte für ihre Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegungen im 19. Jahrhundert und in den Zeiten des Kommunismus erntet, erlebt die rumänisch-orthodoxe Kirche keinen Aufschwung. Dabei ist sie sehr beliebt, neben der Armee vielleicht sogar die beliebteste Institution Rumäniens, auch wenn ihre Popularität durch die Zusammenarbeit mit der Geheimpolizei Securitate während der kommunistischen Diktatur Schaden genommen hat. Infolgedessen haben Gläubige und Klerus in Rumänien eine ganz andere Einstellung zu religiöser Überzeugung und ihrer gesellschaftlichen Funktion. Muresans Arbeit wurde deshalb weniger als Angriff empfunden denn als Metapher für eine echte Sorge.

Mit diesen beiden Kunstwerken und ihrer Gegenüberstellung möchte ich darauf hinweisen, dass das Verhältnis zwischen Kunst und Staat (das heißt, der Staatsanwaltschaft) in Polen in den 1990ern und zu Anfang des 21. Jahrhunderts, vor allem in puncto religiöser Ikonografie, ein sehr angespanntes war und zugleich nahezu einmalig im Vergleich zu anderen postkommunistischen Ländern. Ich sage “nahezu”, weil es ein weiteres Land gab, in dem ähnliche Prozesse stattgefunden haben. Wenn wir also fragen, in welchen Ländern der Staat und seine Organe an der Verfolgung von KünstlerInnen beteiligt sind, dann gibt es darauf eine vielleicht überraschende, aber sehr symptomatische Antwort: In “unserem” Teil Europas gibt es nur zwei solche Länder, und zwar Polen und Russland, denn nur dort kam es zur Verurteilung von Personen, die mit Kunst zu tun haben. In Polen ist das Urteil gegen Dorota Nieznalska, die mit einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe durch das Danziger Gericht rechnen muss, noch nicht rechtskräftig, während in Russland zwei Personen zur Zahlung einer Strafe in Höhe von 100.000 Rubel verurteilt wurden. Dabei handelt es sich um Juri Samodurow, Leiter des Sacharow-Zentrums für Menschenrechte in Moskau, und Ljudmila Wassilowskaja, Kuratorin des Zentrums. Die polnische Künstlerin und die russischen AktivistInnen wurden für ähnliche Vergehen bestraft. In Nieznalskas Fall ging es darum, dass die Danziger Galerie Wyspa im Jahre 2001 ihre Arbeit “Passion” oder vielmehr ein Fragment davon gezeigt hatte, und zwar das griechische Kreuz mit einem eingefügten Foto männlicher Genitalien1. Während es bei den beiden RussInnen um die Ausstellung “Achtung Religion!” ging, die sie Anfang 2003 im Sacharow-Zentrum organisiert hatten (zu deren kontroversesten Werken “Coca-Cola, This Is My Blood” von Alexander Kosolapow gehörte; glücklicherweise befand sich der Künstler, der schon seit vielen Jahren in New York lebt, außerhalb der Reichweite der russischen Staatsanwaltschaft)2.

Wenn man Polen und Russland oder, um genauer zu sein, Nieznalskas “Passion” und “Achtung Religion!” miteinander vergleicht, lässt sich sagen, dass beide Fälle gleich mehrere Probleme aufgezeigt haben. Die beiden Länder mögen recht verschieden sein – als Mitglied der Europäischen Union gilt Polen als frei und demokratisch, während Russland im Wesentlichen eine Autokratie bleibt, in der immer noch Menschenrechte verletzt werden –, und doch weisen beide frappierende Öhnlichkeiten auf, wenn es um die Beteiligung des Staates an der Verfolgung bildender KünstlerInnen geht. Beiden gemeinsam ist wiederum die Art von Kunst, die verfolgt wird: Kunst, die sich religiöser Ikonografie bedient.

In Bezug auf Religion war (und ist) russische Politik, vor allem unter Wladimir Putin, ziemlich opportunistisch, und es scheint, als zielten alle diesbezüglichen Maßnahmen des Präsidenten auf einen kalkulierten politischen Effekt ab. In Polen gestaltet sich das Problem schwieriger, scheint es doch mit dem ideologischen Charakter des Staates einherzugehen. Da das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat hier verletzt wurde, hat Letzterer die Verantwortung für die Repräsentanz christlicher Ideologie übernommen und fühlt sich somit möglicherweise dazu verpflichtet, jene zu unterdrücken, die diese Ideologie nicht teilen und ihrem Widerstand Ausdruck verleihen. Sollten die in Russland gegen die Kunst getroffenen Maßnahmen par excellence opportunistisch sein, so sind sie in Polen eher strukturellen Ursprungs.

Tatsächlich wurde Dorota Nieznalska wie auch Juri Samodurow und Ljudmila Wassilowskaja wegen Blasphemie verurteilt. Ihre Verteidigung hätte auf das Recht der KünstlerInnen auf Blasphemie pochen sollen, einem Recht, das im absoluten Interesse aller BürgerInnen liegt; es mag nicht immer passend sein, ist allerdings wesentlich sicherer als das Gegenteil. Alle BürgerInnen haben ein absolutes Interesse an der religiösen wie politischen Anerkennung ihres Rechtes auf Profanität, da – um mit Giorgio Agamben zu sprechen – “Profanierung” bedeutet, sich das zurückzunehmen, was einem genommen wurde, unseren rechtmäßigen Besitz wieder in Besitz zu nehmen3. Davon abgesehen ist die Interpretation von Nieznalskas Arbeit sowie von “Achtung Religion!” als Blasphemie meiner Meinung nach nichts als politische Manipulation. Nieznalskas “Passion” besteht aus zwei Teilen: dem Kreuz und einem Video, das einen Mann beim Workout zeigt. Dieser wichtige, von den polnischen Medien weitgehend ignorierte oder lediglich am Rande erwähnte Kontext setzt das Werk in Beziehung zu einem für die Konsumgesellschaft typischen männlichen Körperkult. Die Passion, mit der Bodybuilding mittlerweile von Männern wie Frauen betrieben wird, könnte als Leid und Leidenschaft bezeichnet werden. Auch der Titel ist nur ein potenzieller Verweis auf die Stationen des Kreuzweges. Schließlich handelt es sich um das griechische Kreuz, nicht um das lateinische, an dem Christus gekreuzigt wurde, und das hätten auch das Gericht und die Staatsanwaltschaft sehen müssen. Das griechische Kreuz ist ein Symbol für das Ideale, während Genitalien ein Symbol der Männlichkeit sind. Bringt man beide im Kontext einer leidenschaftlich praktizierten körperlichen Übung zusammen, so zeigen sie die Ironie der Künstlerin im Hinblick auf männlichen Körperkult. Der diskursive Verweis auf die Passion Christi ist also zutiefst ironisch, doch nicht Christus ist Gegenstand der Ironie, sondern der Kult um das männliche Bodybuilding.

Im Gegensatz zu Dorota Nieznalska ist Alexander Kosolapow ein international bekannter Künstler (der eigentlich in New York lebt) und Schöpfer zahlreicher populärer Werke, in denen er auf ironische Weise die Übernahme ideologischer, historischer und religiöser Symbole durch die Massenkultur entlarvt. Zu seinen bekanntesten Arbeiten gehören “leninistische” Versionen der Werbung von Coca-Cola und McDonald’s (“It’s the Real Thing, McLenin’s”), eine stilisierte Mickey Mouse, die der berühmten sowjetischen Skulptur “Der Arbeiter und die Kolchosbäuerin” von Wera Muchina aus dem Jahre 1937 nachempfunden ist, sowie “Malevich Sold Here”, die Imitation einer Marlboro-Werbung. Kosolapows Rhetorik und Stil stammen eindeutig aus der Soz-Art, um genauer zu sein, aus dem Zusammentreffen von Soz-Art mit westlicher Konsumkultur. Religion an sich interessiert ihn nicht, was jedoch weder die russische Presse noch die Randalierer interessierte, die die Ausstellung “Achtung Religion!” verwüsteten, ganz zu schweigen von der Staatsanwaltschaft. Für das Regime Putin bot sie einfach eine günstige Gelegenheit, der orthodoxen Kirche zu beweisen, wie sehr man sich um die Religiosität des russischen Volkes “sorgte”.

Anders als in Russland oder anderen europäischen Ländern Europas ist man in Polen in Bezug auf die Verwendung religiöser Ikonografie in der Kunst vergleichsweise empfindlich, und der Fall Nieznalska ist nur die Spitze des Eisbergs – auch wenn die Geschehnisse um “Achtung Religion!” in Russland ebenfalls kein Einzelfall waren. Ein Jahr später, im Februar 2004, wurde die Galerie S.P.A.S. in St. Petersburg, die Porträts bekannter PolitikerInnen des Künstlers Oleg Januschewski zeigte, ebenfalls von Randalierern verwüstet. Im Januar 2005 wurde auch die Ausstellung “Russia 2” in der Galerie Marat Gelman Gegenstand einer Auseinandersetzung. Allerdings zog im Gegensatz zur Ausstellung im Sacharow-Zentrum keiner dieser Fälle eine strafrechtliche Verfolgung nach sich. Die polnische Empfindsamkeit in Anbetracht dieses Themas geht nicht zuletzt auf das Konto radikal-extremistischer Gruppen im Umfeld von Radio Maryja, die auch Einfluss auf das politische Establishment hatten. Traditionell kontroverse Motive wie der Körper, Obszönitäten oder Sexualität rufen jedoch deutlich weniger heftige Reaktionen hervor. Ungeachtet aller Vergleiche mit Russland stellt Polen unter den postkommunistischen Ländern einen einmaligen und außergewöhnlichen Fall dar, wenn es um die Empfindlichkeiten beim Gebrauch religiöser Ikonografie geht. Ich denke da beispielsweise an die Tschechische Republik, das in dieser Hinsicht vielleicht liberalste Land der Region, und an eine Ausstellung tschechischer Kunst namens “Shadows of Humor” (2006), die zuerst im polnischen Wroclaw (Breslau) und dann in Bielsko-Biala gezeigt wurde.

Zensur außerhalb Polens

Organisator der Ausstellung “Shadows of Humor” war William Hollister, ein schon seit Jahren in Prag ansässiger Amerikaner, der natürlich, wie jeder andere auch, wusste, dass es in Polen in Bezug auf Kunst ein Problem mit der Zensur gibt. Die erste Ausgabe verursachte jedoch keine ernsthaften Probleme, auch wenn es zunächst danach aussah. Die Gruppe Kamera Skura präsentierte in Wroclaw eine Arbeit mit dem Titel “SuperStart”, in der ein Akrobat in der Haltung des gekreuzigten Christus zu sehen ist. Die Liga Polnischer Familien (Liga Polskich Rodzin, LPR), eine christlich-nationalistische Partei der extremen Rechten und damals zusammen mit der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwo‰õŸá, PIS) Teil der Regierungskoalition, äußerte ihre Missbilligung, ohne dass es zu einer ernsthaften Auseinandersetzung kam. Zufälligerweise fiel die Skulptur in sich zusammen und damit auch der Anlass für einen potenziellen Konflikt. Es sollte hinzugefügt werden, dass “SuperStart” ursprünglich für die Biennale 2003 in Venedig konzipiert und im Rahmen der offiziellen Ausstellung der tschechischen Republik im tschechoslowakischen Pavillon gezeigt wurde (beide Länder teilen sich weiterhin den ehemaligen Pavillon der Tschechoslowakei). Interessanterweise hatten weder die TschechInnen noch das internationale Biennale-Publikum irgendwelche Einwände erhoben.

Abrunden möchte ich diesen kurzen Exkurs über die polnische Zensur tschechischer Kunst im Jahre 2006 mit dem Fall der Gruppe Guma Guar. Ihre Arbeit mit dem Titel “You Are All Faggots” wurde bereits nach einem Tag aus der Ausstellung “Bad News” in der Galerie Kronika in Bytom entfernt. Das Werk zeigte Papst Benedikt XVI. mit dem abgetrennten blutigen Kopf von Elton John in der Hand, ein ikonografischer Verweis auf Judith mit dem Haupt des Holofernes oder auch auf David mit dem Haupte Goliaths. Judith war eine jüdische Nationalheldin, die sich unter Einsatz ihrer weiblichen Verführungskünste in das Lager der Assyrer schlich und deren Befehlshaber Holofernes enthauptete, um so ihre Landsleute zu retten. Die Geschichte von David und Goliath entstammt ebenfalls dem biblischen Kontext des Kampfes des Volkes Israel gegen seine Unterdrücker, in diesem Fall die Philister. Obwohl kleiner und schwächer, besiegte David den Riesen Goliath und schlug diesem den Kopf ab, womit er half, das jüdische Volk zu retten. Bedeutsamer ist jedoch im letzteren Fall die typologische Übereinstimmung zwischen dem Sieg Davids über Goliath und dem Sieg Christus’ über den Satan im Neuen Testament, ein Bezug, der sicher auch in dem Werk von Guma Guar, in dem der Papst das Böse in Form eines homosexuellen Sängers besiegt, die wesentlichere Rolle spielt.

In beiden Versionen dieses klassischen ikonografischen Schemas geht es um eine Heldentat, die das Volk vor der Unterdrückung rettet, oder, im weiteren Sinne, den Sieg des Guten über das Böse symbolisiert. Benedikt XVI., Pontifex der für ihre Homophobie bekannten römisch-katholischen Kirche, der den Kopf von Elton John präsentiert, könnte aber auch – oder sogar in erster Linie – den Triumph der Unterdrückung und einer Politik der Ausgrenzung bedeuten. Die Bedeutung des Werks erschließt sich offensichtlich durch seinen Titel, “You Are All Faggots” (“Ihr seid alle Schwuchteln”). Dies ist das Böse, gegen das die Kirche kämpft; dies ist die Anschuldigung und die Androhung der bevorstehenden Strafe, da wir alle schwul sind – alle von uns, die nicht so denken, wie die Kirche es gern hätte. Wir sind also dazu verdammt, in die Fußstapfen von Holofernes und Goliath zu treten. Was unsere Antwort an Benedikt XVI. anbetrifft, so sollten wir uns an die französischen StudentInnen halten, die im Mai 1968 Daniel Cohn-Bendit gegen ihre eigene (also französische) Regierung verteidigten, indem sie riefen, dass sie alle “deutsche Juden” seien. Das war eine eindeutige Geste der Solidarität. Wir sollten zum Wohle der Demokratie, so scheint die Gruppe Guma Guar uns sagen zu wollen, unbedingt eine solche Solidaritätsgeste für sexuelle Minderheiten – Schwule oder Lesben – machen.

In der vorgenannten Geschichte geht es jedoch nicht um Interpretation, sondern um Zensur. Unabhängig davon, welche Bedeutung das Werk haben mag, rechtfertigt nichts seine Zensur, schon gar nicht der Druck der rechten Presse. “You Are All Faggots” wurde im Rahmen der Ausstellung “Bad News” gezeigt. Aufgrund negativer Kritiken in der rechten Presse beschloss der Kurator bereits am nächsten Tag, es aus der Ausstellung zu nehmen. Die Presse hat das Recht auf Kritik, unabhängig von ihrer jeweiligen politischen Orientierung. Das ist ihre Aufgabe. Natürlich bringt sie die Ansichten ihrer LeserInnen zum Ausdruck, doch das bedeutet nicht, dass ein Kurator unter dem Einfluss der Kritik zu einem Zensor werden muss. Allein der Begriff legt nahe, dass KuratorInnen sich um Kunst zu kümmern haben, anstatt sie zu zensieren, diese gegen Angriffe zu verteidigen haben, anstatt sie aus opportunistischen Gründen zum Schweigen zu bringen. Darüber hinaus entscheidet das Publikum, ob ein bestimmtes Werk gut oder schlecht ist, ob es bedeutend ist oder nicht. Diese Entscheidung darf dem Publikum nicht abgenommen werden. Doch genau das tut die Zensur, sie beraubt das Publikum der Möglichkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden, indem sie für andere entscheidet. In einer demokratischen Gesellschaft aus Individuen muss solch ein Ereignis als Verstoß gegen die Freiheitsrechte behandelt werden.

Die angeführten Ereignisse bilden nur die Spitze des Eisbergs in Bezug auf die polnische Debatte zur Auseinandersetzung über religiöse Ikonografie in der zeitgenössischen Kunst. Ohne ins Detail gehen zu wollen4, möchte ich kurz die Bedeutung der Ausstellung “Irreligion. The Morphology of the Non-Sacred in the Polish Art of the 20th Century” erwähnen, die 2001–2002 in Brüssel gleichzeitig an mehreren Orten gezeigt wurde, darunter in zwei Kirchen (von denen eine immer noch Gebetsstätte ist, während die andere nicht mehr für religiöse Zwecke genutzt wird). Da sich die Ausstellung mit einer Art Festival der polnischen Kultur in der Verwaltungshauptstadt des “Vereinigten Europas” überschnitt – eine Veranstaltung in der Reihe “Europalia”, in der Kunst aus den künftigen Mitgliedsländern der Europäischen Union gezeigt wurde –, hätte man sie gut in diesem Rahmen zeigen können, doch weigerten sich die polnischen VertreterInnen, “Irreligion” in eine offizielle Präsentation der künstlerischen Kultur Polens einzubeziehen. Der inoffizielle Status der Ausstellung hatte wiederum einen offenen Konflikt mit der polnischen Rechten zur Folge. Diese vertritt die Ansicht, die nationale und religiöse Identität des Landes sei nur zu schützen, wenn Polen Europa unter dem Banner des Katholizismus “beitrete”. Als die OrganisatorInnen der Ausstellung das Recht der Kirche auf die Kontrolle religiöser Symbole in Frage stellten, wurde dies dementsprechend als Angriff auf dieses politische Credo aufgefasst – und zwar als besonders bösen, da er nicht zuhause, sondern mitten im Zentrum des vereinigten Europas stattfand. Dies hatte zur Folge, dass die Ausstellung Mittelpunkt eines politischen Konflikts wurde, in dem der öffentliche Status regimekritischer bildender Kunst und der Zugang zum öffentlichen Leben für all jene, welche die Ansicht der katholischen Mehrheit nicht teilten, auf dem Spiel standen. Zwei Werke wurden besonders heftig angegriffen. Eines davon war “Die Geißelung von Christus” (“Biczowanie Chrystusa”) von Marek Sobczyk (1987), das andere die “Schwarze Madonna von Tschenstochau mit gemaltem Schnurrbart” von Andrzej Rzepecki (1982), die ursprünglich während des Kriegsrechts auf dem Titel eines Untergrundmagazins erschienen war. Um es kurz zu machen: Sobczyk wurde angegriffen, weil einige Leute der Ansicht waren, dass die von Christus’ Peinigern verwendeten Peitschen so aussähen, als würden sie damit auf den Heiland urinieren. Bei Rzepecki lag die Sache etwas anders. Er verwies in seiner Arbeit weniger auf die eigentliche Ikone aus Tschenstochau als vielmehr auf deren Funktion für die Untergrundbewegung Solidarnosc. Die Schwarze Madonna von Tschenstochau, so schreibt Izabela Kowalczyk, war damals fast schon ein Symbol des Widerstands – in der Kombination mit dem gekrönten Adler und den Farben der polnischen Flagge war sie bei den verschiedensten öffentlichen Anlässen ein beliebtes Motiv. So zeigte sich Lech Walesa in der Öffentlichkeit häufig mit einer kleinen Madonna-Figur am Revers5. Schon im Tschenstochauer Gemälde sind zwei Traditionen vereint, eine religiöse und eine nationalistische. Beiden gemeinsam ist die starke Verehrung der Jungfrau Maria als der “Königin von Polen”. Tschenstochau ist das wichtigste Heiligtum der polnischen KatholikInnen, denn es verbindet zwei Dinge: religiöse Verehrung und nationale Identität. Mit der Verwaltung des Heiligtums und der Kontrolle über den Kult um die Madonna von Tschenstochau bemächtigt sich die Kirche des nationalen Erbes.

Nationale Unabhängigkeit

Zum Abschluss möchte ich noch eine grundlegende Frage aufwerfen: Warum wird in der polnischen Kunst, insbesondere im Bereich religiöser Ikonografie, Zensur überhaupt geduldet bzw. warum gab es vor Ort so wenig Reaktionen?

Zunächst einmal hat das Thema Kunst oder visuelle Kultur, um das es hier geht, in Polen (mit Ausnahme der historischen Malerei Ende des 19. Jahrhunderts) nie einen besonders hohen Stellenwert gehabt. Die Verteidigung der künstlerischen Freiheit hat im Gegensatz zur Literatur in Polen praktisch keine Tradition. Kunst wurde im Allgemeinen als Beschäftigung exzentrischer EinzelgängerInnen betrachtet, die gern für Skandale sorgten und die anständige Gesellschaft schockierten und somit nicht als schützenswert galten, es sei denn, es ging wieder einmal um Aspekte der nationalen Geschichte. Als Hort für die Ideen und Gefühle der Nation, als Nährboden für Utopien und Programme zur spirituellen Erneuerung wurde die Literatur weit mehr geschätzt. Literatur zu zensieren, galt als Angriff auf die Unabhängigkeit. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Geschichte der Zensur im kommunistischen Polen. Vor allem in den 1970ern wurde visuelle Kultur praktisch ignoriert, während der Literatur extrem viel Aufmerksamkeit zuteil wurde. Interessanterweise hat sich selbst die Liga polnischer Familien noch nicht mit dem geschriebenen Wort angelegt, und auch das Augenmerk der Staatsanwaltschaft liegt auf den bildenden Künsten, während sie die Literatur bisher unbehelligt gelassen hat. Deren Zensur scheint nach den Erfahrungen des Kommunismus glücklicherweise immer noch tabu zu sein.

Das relativ geringe Ansehen der bildenden Künste scheint auf das polnische Bildungsmodell zurückzugehen, in dem der Kunst nie ein besonderer Stellenwert zukam. Infolgedessen haben sich die so genannte patriotische Erziehung und das soziale Engagement, auf denen sich die Tradition der polnischen Intelligenzija gründet, mehr oder minder außerhalb der bildenden Kunst abgespielt (auch hier mit der Ausnahme der historischen Malerei). Vielleicht spielt da jedoch noch mehr hinein. Meiner Ansicht nach wurden die polnischen Intellektuellen dazu erzogen, die kollektive Freiheit, das heißt, die politische Unabhängigkeit der Nation, zu schützen, nicht die individuelle Freiheit. Wenn es um die Verteidigung der politischen Unabhängigkeit ging, konnten sie eine Menge Heldentaten vollbringen, während die Meinungsfreiheit des Einzelnen keine große Bedeutung hatte. Außerdem war die Tradition der polnischen Unabhängigkeit historisch stets mit der Religion verbunden. Die meisten PolInnen identifizieren sich mit der römisch-katholischen Kirche – das Opfern der persönlichen Freiheit und des eigenen Lebens hat eindeutig etwas Religiöses, und die Hoffnung auf nationale Unabhängigkeit wurde häufig über religiöse Symbole zum Ausdruck gebracht. Individuelle Identität, Transgression und Atheismus sowie religiöse Verunglimpfung spielten in Polen traditionell kaum eine Rolle. In den Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft nahmen konservative Tendenzen in der polnischen Kultur zu, und die für das politische Befinden in den 1990ern weitgehend verantwortliche Solidarnosc führte diese Tradition in positiver wie negativer Hinsicht fort.

Konservativismus, Religiosität, geringer Respekt für die Identität oder Freiheit des Einzelnen, keine Tradition intellektueller, sexueller und kultureller Transgression – genau genommen keine Toleranz gegenüber Anderssein und Verschiedenheit –, all das sind typische Merkmale einer kolonialisierten Gesellschaft. Und so war Polen im 19. Jahrhundert tatsächlich kolonialisiertes Land – vielleicht anders als Indien, Pakistan, Afrika oder Südamerika, aber auf seine eigene Art. In der Zeit nach 1945 erfolgte eine weitere Kolonialisierung, auch wenn das kommunistische Polen ein offiziell unabhängiger Staat mit einer eigenen Kultur war. Diese Umstände begünstigten ebenfalls einen kulturellen Konservativismus. Allerdings war die polnische Bevölkerung nicht das einzige Opfer der sowjetischen Kolonialisierung – und zudem im Vergleich zur tschechoslowakischen, ostdeutschen, rumänischen, ungarischen etc. vielleicht sogar die am wenigsten kolonialisierte; warum also kam es ausgerechnet in Polen nach dem Ende des Kommunismus zu einer signifikanten Zensur der Kunst, nicht aber in anderen postkommunistischen Ländern?

Wie allseits bekannt, reagierte das polnische Volk im 19. Jahrhundert mit einer christlich-nationalistischen Ideologie auf die politische Situation: Es gab keinen souveränen polnischen Staat, und die Gesellschaft machte einen Kolonialisierungsprozess durch. Heute schreiben wir jedoch den Beginn des 21. Jahrhunderts, und die politischen Grundvoraussetzungen haben sich radikal verändert. Wir sollten also sowohl von der Politik als auch von den Intellektuellen fordern, diese anachronistischen Werte endlich aufzugeben und sich den Herausforderungen der modernen Welt zu stellen. Dazu zählen die Notwendigkeit des Aufbaus einer Demokratie, das Respektieren der Freiheit des Einzelnen sowie individueller und kultureller, sexueller und religiöser Unterschiede, die Verteidigung von Pluralismus und Anderssein, das Recht auf Meinungsfreiheit und vieles mehr.

Für eine ausführlichere Darstellung siehe Piotr Piotrowski, Agoraphobia after Communism, in: Umeni, Prag 2004, No. 1, und Piotr Piotrowski, Beyond Democracy, in: Centropa, New York 2008, Vol. 8, No 1. Hier wurde eine andere, umfassendere Version dieses Artikels veröffentlicht. Vgl. Anna Kowalska, Beten hilft nichts. Wie die Festschreibung christlicher Werte dem Populismus dienlich sein kann, in: springerin 4/2003, S. 62 f.

Siehe Giorgio Agamben, Profanazioni. Nottotempo 2005. Dt. Ausgabe: Profanierungen. Frankfurt am Main 2005.

Siehe Piotr Piotrowski, Visual Art Policy in Poland: Democracy, Populism and Censorship, in: Lars Bang Larsen, Cristina Ricupero, Nicolaus Schafhausen (Hg.), The Populism Reader. New York/Frankfurt am Main 2005.

Siehe Izabela Kowalczyk, Tabu irreligii [Das Tabu der Areligiosität], in: Czas Kultury, No. 1 (2002), S. 69.

Published 29 January 2009
Original in English
Translated by Anja Schulte
First published by springerin 4/2008

Contributed by springerin © Piotr Piotrowski / springerin / Eurozine

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