Ikea für die Welt

Billy-Regale sind Massenware, und doch wecken sie persönliche
Anhänglichkeiten. Dabei lässt der Möbelmulti Ikea – wie die meisten
internationalen Großkonzerne auch – in Niedriglohnländern produzieren, wo
sich ihre Subunternehmer um die medienwirksamen ökologischen und
sozialen “Iway-Standards” nicht zu scheren brauchen.

Dem schwedischen Möbelhaus Ikea geht es gut. 410 Millionen Kunden in
aller Welt, 175 Millionen unters Volk gebrachte Kataloge (im laufenden
Jahr, in 27 Sprachen) und rasant steigende Umsätze: 1994 setzte der
Konzern 3,3 Milliarden Euro um, 2005 waren es stolze 14,8 Milliarden
Euro. Seit ein paar Jahren dehnt sich das Unternehmen in zwei lange Zeit
unzugängliche Länder aus: Russland und China sind auch für Ikea
gigantische Wachstumsmärkte.

In der hausinternen Firmenzeitschrift Read Me heißt es: “Unser Ziel ist
es, möglichst vielen Menschen ihren Alltag angenehmer zu gestalten. Dazu
müssen unsere Filialen immer mehr Produkte an immer mehr Kunden
verkaufen.”1 Der Weg zum Glück der Menschen führt für Ikea über das Einkaufen.

Erstaunlich genug, dass es ausgerechnet dem Möbelmulti Ikea, der wie
kein anderer für die Kommerzialisierung und Vereinheitlichung der
Wohnungsinterieurs steht, bisher noch immer gelungen ist, sich aus der
Schusslinie von Verbraucherschützern, Dritte-Welt-Aktivisten und
Umweltschutzorganisationen herauszuhalten. Das liegt gewiss auch daran,
dass Ikea eine besondere enge Beziehung zu seinen Kunden aufgebaut hat.
Und dies dank unschlagbarer Preise, dank Kinderbetreuung und
Billigrestaurants innerhalb seiner Möbelhäuser und dank eines
Gesamtkonzepts, das es den Kunden ermöglicht, alles rasch zu finden – und
vor allem auch solche Dinge, von denen man vor dem Einkauf keineswegs
dachte, dass man sie braucht.

Die selige Allianz zwischen dem Unternehmen und seinen Kunden lässt sich
durch zahllose Anekdoten illustrieren. So erklärte ein Mitglied des
Stadtrats im britischen Stockport 2004: “Ikea innerhalb der eigenen
Kommune zu haben, ist das reinste Paradies.”2 Eine ähnliche Begeisterung
spricht aus einem Aufruf, den Einwohner der französischen Kleinstadt
Mougins verfassten: “Wenn auch Sie es leid sind, mit dem Auto zwei
Stunden und 200 Kilometer (hin und zurück) fahren zu müssen, um bei Ikea
einzukaufen, nutzen Sie jetzt die (vielleicht letzte) Chance! Helfen Sie
mit, dass in den französischen Seealpen ein Ikea aufmacht.”3

Tödlicher Andrang beim unmöglichen Möbelhaus

Ist das nicht fabelhaft? Menschen, die eine Petition einreichen und sich
aktivieren lassen, weil es im Umkreis von 100 Kilometern keinen Ikea
gibt.

Wenn dann tatsächlich ein Ikea in Reichweite aufmacht, kann es zu
dramatischen Szenen kommen. Zur Eröffnung eines Ikea-Markts in
Saudi-Arabien am 1. September 2004 versprach das Möbelhaus den ersten 50
Kunden einen Scheck von 150 Dollar. Die Folge war ein brutales Gedränge.
Die Bilanz: zwei Tote, sechzehn Verletzte, zwanzig Kunden mit
Kreislaufkollaps. Ein Leben war in diesem Falle 150 Dollar wert,
Lieferung und Aufbau nicht inbegriffen.

Wie lässt sich die weltweite Begeisterung für Ikea erklären? Neben den
niedrigen Preisen beruht der Erfolg des Unternehmens auf dem ökologischen
und sozialen Image, das sich der Multi zulegen konnte.

Seit dem ersten Auftrag an einen ausländischen Zulieferbetrieb – das war
ein polnischer Betrieb im Jahre 1961 – verlagert der Konzern Teile
seiner Produktion ins Ausland, auf nimmermüder Suche nach billigen und
gefügigen Arbeitskräften. In jüngster Zeit nimmt der Anteil der nach
Asien verlagerten Produktion stetig zu. Inzwischen ist China, das ja
nicht gerade für die Respektierung von Arbeitnehmerrechten bekannt ist,
an Polen vorbeigezogen und mit 18 Prozent der Ikea-Produkte zum größten
Lieferanten des Konzerns aufgestiegen. Insgesamt stammen 30 Prozent der
“schwedischen Qualitätsprodukte” vom asiatischen Kontinent.4 Nach Angaben
der britischen Sonntagszeitung The Observer stieg der Anteil der
Entwicklungsländer an der Ikea-Produktion im Zeitraum zwischen 1997 und
2001 von 32 auf 48 Prozent.5

Von Anfang an verfolgte das Unternehmen das Ziel, seine Möbel und
Haushaltswaren “zu extrem niedrigen Preisen” anzubieten. Der Gründer des
Unternehmens, Ingvar Kamprad, schrieb schon 1976 in seinem “Testament
eines Möbelhändlers”: “Wir müssen alles daransetzen, die Preise auf dem
niedrigsten Niveau zu halten. Das stellt enorme Anforderungen an alle
unsere Mitarbeiter. Ohne eine strikte Begrenzung der Kosten werden wir
diesen Auftrag niemals erfüllen können.”6

Doch anders als Ikea behauptet, wurden und werden die niedrigen Preise
mit erheblichen sozialen Kosten erkauft. In den Jahren von 1994 bis 1997 wurde das Unternehmen in drei deutschen und schwedischen
Fernsehreportagen beschuldigt, in Pakistan, Indien und Vietnam wie auch
auf den Philippinen Kinder unter völlig unakzeptablen Bedingungen zu
beschäftigen.7

Solche Formen der Ausbeutung durch Ikea sind keineswegs nur auf Asien
beschränkt. Als der Internationale Verband der Bau- und Forstarbeiter
(IFBWW) 1998 in Rumänien erbärmliche Arbeitsbedingungen aufdeckte, drohte
der Gewerkschaftsverband mit einem Boykott. Das führte am Ende zu einer
vertraglichen Vereinbarung zwischen dem IABWW und dem Möbelmulti (siehe
Kasten).

Seit 2000 praktiziert Ikea einen Verhaltenskodex zum “Einkauf von
Einrichtungsprodukten”, der auf der Unternehmenswebsite unter der
Überschrift “Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt” erläutert wird.
Dieser sogenannte Iway definiert als soziale Mindestanforderung für
Zulieferer, dass diese keine Kinderarbeit einsetzen. Punkt sieben bezieht
sich auf “Gesundheit und Sicherheit” und verlangt, dass die
Beschäftigten die jeweils angemessene Schutzkleidung tragen müssen und
dass es ihnen erlaubt sein muss, sich gewerkschaftlich zu organisieren
oder sonstige Vereinigungen zu bilden.

Auch Zuliefererbetriebe von Ikea müssen sich an diese Zusagen halten.
Jegliche Diskriminierung nach Geschlecht, Herkunft oder sozialem Status
wird nicht toleriert. Die Löhne dürfen nicht unter dem gesetzlichen
Mindestlohn des betreffenden Landes liegen, die Wochenarbeitszeit darf
die gesetzliche Höchstgrenze nicht überschreiten.

Es mag sonderbar erscheinen, dass ein Unternehmen sich mit einem
Verhaltenskodex eigens darauf verpflichtet, die in den Produktionsländern
geltenden Gesetze einzuhalten. Das ist so, als würde jemand feierlich
erklären, er wolle sich in Großbritannien an das Linksfahrgebot halten.

Aber vielleicht hat der Iway dennoch die Arbeitsbedingungen der
Beschäftigten in den Zulieferbetrieben positiv beeinflusst? Die
Kinderarbeit (auf die man im Westen sehr allergisch reagiert) hat Ikea in
seinen “eigenen” Betrieben ohne Zweifel eliminiert, auch wenn der Iway
sich auf die lokalen Gesetze bezieht und erklärt: “Nationale Gesetze
können gestatten, dass Personen von 13 bis 15 oder von 12 bis 14 Jahren
für leichte Arbeiten herangezogen werden.”8

Was die Organisationsfreiheit der Beschäftigten oder die Bezahlung von
Überstunden betrifft, liegen die Dinge schon etwas anders. Auf einer
Reise in ein Dorf nahe der indischen Textilstadt Karur im Mai 2006
versuchten wir, mit Beschäftigten eines Ikea-Zulieferers zu sprechen. Die
etwa dreißigjährige Shiva9 war bereit, die Fragen der westlichen
Besucher zu beantworten, doch ihre Mutter, eine alte, weißhaarige
Inderin, machte sich Sorgen, Shiva könnte ihre Arbeit verlieren. Ihr Lohn
ist die einzige Einkommensquelle der Familie, zu der neben den beiden
Frauen noch der 15-jährige Sohn der Arbeiterin zählt.

Doch diese Befürchtung war etwas übertrieben. Die junge Frau übt gar
keine Kritik an ihrem Arbeitgeber. Sie spricht von Teepausen,
Schutzbrillen und Arbeitshandschuhen, lobt die gesunde Arbeitsumgebung.
Und all das trifft auch zu. “Ikea bietet vergleichsweise gute
Bedingungen, daran besteht kein Zweifel”, meint auch Maniemegalai
Vijayabaskar, Assistenzprofessor am Madras Institute of Development
Studies. Der Mitautor einer von Oxfam – Magasins du monde in Auftrag
gegebenen Studie10 über die Zulieferer des Möbelmultis meint dennoch:
“Sie legen sich ein menschliches Gesicht zu, um Kritik und Kontroversen
zu vermeiden. Aber in Wahrheit tun sie nicht viel, um die
Arbeitsbedingungen zu verbessern.”

Wie sehen die Arbeitsbedingungen nun wirklich aus? Auf den ersten Blick
gut. Die Räume sind sauber und gut belüftet. Es gibt Teepausen und
ordentliche Arbeitstische und -stühle, an den Wänden hängt der Text des
Iway. Genauer hat sich aber das gemeinnützige niederländische Center for
Research on Multinational Corporations (Somo) umgesehen, das auf die
Untersuchung der sozialen Bedingungen in multinationalen Unternehmen
spezialisiert ist.

Zulieferer in Indien, Bulgarien und Vietnam

Das Somo wurde 2003 von der niederländischen Gewerkschaft FNV
beauftragt, die Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen bei
Ikea-Zulieferbetrieben in Indien, Bulgarien und Vietnam zu untersuchen.
Die Experten sprachen in allen drei Ländern mit Beschäftigten, und zwar
außerhalb der Betriebssphäre. Zudem inspizierten sie die Fabriken und
sprachen mit der jeweiligen Betriebsleitung.

In ihrem Untersuchungsbericht, der sich auf zehn Zulieferbetriebe mit
insgesamt etwa 2 000 Beschäftigten bezieht, stellten sie fest: “In den
drei Ländern und in allen untersuchten Betrieben gibt es offensichtlich
immer noch zahlreiche Verstöße gegen den Ikea-Verhaltenskodex.” Am
häufigsten waren die Verstöße gegen die gewerkschaftliche
Organisationsfreiheit, das Recht auf kollektive Tarifverhandlungen sowie
gegen die Bestimmungen über die Lohnhöhe und die Bezahlung von
Überstunden. Im schlimmsten Fall lautete der Befund: keine
Gewerkschaften, Arbeit ohne Pausen und ohne einen freien Wochentag,
Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns. Und natürlich kannte
niemand seine Rechte, und niemand hatte je von der Selbstverpflichtung
des Möbelkonzerns gehört.

Eine alte Geschichte? Wie wir 2006 bei unserem Besuch in Indien
feststellen konnten, sind die Beschäftigten in keinem der dortigen
Ikea-Zulieferbetriebe gewerkschaftlich organisiert. Offiziell werden
Gewerkschaften zwar geduldet, aber wenn man Shiva glauben darf, sind sie
eigentlich gar nicht nötig: “Wenn es ein Problem gibt, setzen wir uns
zusammen und reden darüber. Dabei geht es zum Beispiel um Anweisungen zur
Sauberkeit in den Toiletten. Und wenn ich etwas auszusetzen habe, kann
ich mit dem Chef sprechen.”

Die Antworten einer anderen Arbeiterin klingen freilich ganz anders,
vielleicht weil sie noch jung ist und kein Kind zu ernähren hat. Xana
sagt uns: “Gewerkschaften? Nein, die würden sie nicht akzeptieren. Und
wenn Kontrolleure in den Betrieb kommen, schwört uns die Betriebsleitung
auf die Lügen ein, die wir erzählen müssen.”

Das ist keineswegs außergewöhnlich in dieser Region. Jede
gewerkschaftliche Initiative wird im Keim erstickt. Darauf kann sich Ikea
genauso verlassen wie alle anderen multinationalen Unternehmen, die sich
in Indien ansiedeln. Das ist schließlich die Garantie für das extrem
niedrige Lohnniveau. Shiva verdient 2.300 Rupien (40,30 Euro) im Monat.
Für den Bus zur Arbeit zahlt sie monatlich 500 Rupien (8,70 Euro). Reicht
das, was übrig bleibt, zum Leben? Shiva lächelt verschämt. Wenn ihre
Mutter auf der Kochstelle vor dem Haus das Essen zubereitet, gibt es fast
jeden Tag dasselbe: “Entweder Suppe oder Reis mit Sauce.” Und Fleisch?
“Ja. Einmal in der Woche, sonntags. Aber nicht diesen Sonntag, weil
Monatsende ist.” Das Gespräch war am 20. Mai dieses Jahres.

Vom Ikea-Verhaltenskodex können sich die Beschäftigten nichts zu essen
kaufen. Und Möbel bekommen sie von ihrem Arbeitgeber auch nicht. Kein
Billy-Regal, kein Malm-Bett. Shivas Wohnung ist kärglich eingerichtet:
zwei Zimmer, Kalender an den Wänden, Schwarzweißfotos, zwei Matratzen,
zwei kleine Koffer, die als Schränke dienen. Eine Uhr und ein paar
Götterfiguren.

Was würde sie mit 1.000 Rupien mehr im Monat machen? Shiva erzählt,
wovon sie träumt: “Wir würden uns einen Gasherd mit Gasflasche kaufen.
Das Kochen auf offenem Feuer ist lästig, weil der Rauch in den Augen
brennt. In der Regenzeit ist trockenes Holz nur schwer zu finden. Und
Holz sammeln macht viel Arbeit.”

Shivas Armut ist keine Ausnahme in der Welt der Ikea-Zulieferer, sondern
eher die Regel. Die jungverheiratete Arbeiterin Manjula verdient 2.360
Rupien (41,40 Euro) im Monat. Wie ein Blick auf ihre Lohnabrechnung vom
Oktober 2005 zeigt, ist dies ihr Bruttolohn, von dem man zwei
Sozialversicherungsabgaben und den Beitrag für eine Lebensversicherung
abziehen muss. Weiter unten auf dem Lohnstreifen sind die 2.360 Rupien
beträchtlich abgeschmolzen. Manjula hat im Oktober 2005 insgesamt 24 Tage
gearbeitet und dafür netto 1.818 Rupien (31,80 Euro) erhalten. Trotz
sechs Tagen Arbeit pro Woche liegt sie damit nur knapp über der Schwelle,
die extreme Armut definiert. Und all das im Geltungsbereich des
Ikea-Verhaltenskodex.

Um ausreichend Geld zum Leben zu haben, machen die Arbeiter immer mehr
Überstunden, erzählt Vijayabaskar: “Die Leute arbeiten zwölf Stunden am
Tag, die Zeit für den Weg zur Arbeit und nach Hause nicht eingerechnet.
In Stoßzeiten arbeiten sie manchmal auch bis zu 15 Stunden täglich.”

Ikea bemüht sich, die Anzahl der Überstunden zu beschränken. Aber der
Druck, der von Lieferengpässen ausgeht, aber auch von der Geldnot der
Beschäftigten herrührt, macht die zusätzliche Arbeit unvermeidlich. Die
tägliche Arbeitszeit geht von 9.30 bis 13.30 Uhr und von 14.30 bis 18.30
Uhr. In einem Arbeiterviertel von Karur herrschen jedoch andere
Bedingungen, wie Kalaya darlegt: “Wer von 19 bis 20 oder 21 Uhr
Überstunden macht, bekommt keine zusätzliche Bezahlung. Wenn Sie bis
22.30 Uhr arbeiten, erhalten Sie 50 Rupien (0,87 Euro) zusätzlich. Die
Arbeiter machen regelmäßig zweimal in der Woche Überstunden.”

Nach Auskunft von Assam, die ebenfalls in Karur arbeitet, gibt es in
ihrem Betrieb keine Überstunden. Doch als wir abends vor dem Fabriktor
stehen, hören wir die Maschinen laufen, und bis 20 Uhr sehen wir
Arbeiterinnen in die Fabrik gehen. Es liegt also sehr nahe, dass Aussagen
wie die von Assam von betrieblichen Anweisungen und von der Angst vor
dem Verlust des Arbeitsplatzes diktiert sein könnten.

Deenosha ist auf ein zusätzliches Einkommen angewiesen. Am Fabriktor
antwortet sie nur kurz auf unsere Fragen, dann entschuldigt sie sich. Sie
hat noch eine weitere Arbeit, von 20 Uhr bis 1 Uhr morgens. Die bringt
ihr weitere 80 Rupien (1,40 Euro) und dazu ein Essen.

Aus der Sicht des Unternehmens Ikea sind Shiva, Kalaya und Deenosha ein
Kostenfaktor, der einer “strikten Begrenzung” bedarf. Deswegen ist man ja
nach Indien gekommen. Um die Aufträge pünktlich erfüllen zu können,
geben die Zulieferer Aufträge an Subunternehmer weiter. Der
Verhaltenskodex Iway, der schon bei den direkten Zulieferern keine
Anwendung findet, wird damit vollends abstrakt: Keine Kontrolle, keine
Anforderungen, keine Grenzen – ausgenommen das Diktat der Liefertermine.

Doch selbst bei den offiziellen Zulieferbetrieben ist die Kontrolle des
Ikea-Verhaltenskodex äußerst lückenhaft. Durchgeführt werden diese
Kontrollen (93 Prozent) großenteils von den 46 Einkaufsabteilungen, die
über 32 Länder verstreut sind. Beim schwedischen Mutterkonzern gibt es
eine Compliance and Monitoring Group, die über die Einhaltung des
Verhaltenskodex wachen soll. Sie besteht aus fünf Personen (2004 waren es
drei) und unterstützt die Kontrolleure der Einkaufsabteilungen, führt
aber auch eigene Kontrollen durch: 2005 waren es insgesamt 53.11

Von externen Prüfgesellschaften wie KPMG, PricewaterhouseCoopers und
Intertek Testing Services wurden 2004 nur sieben Prüfungen vorgenommen.
Der Möbelmulti räumte ein, dass der Anteil der externen Prüfungen sehr
niedrig liegt, versicherte aber, 2005 werde man “deutlich mehr”
unabhängiger Prüfungen durchführen lassen.12 Inzwischen liegen die Zahlen
für 2005 vor: Bei insgesamt 1.012 Kontrollen entfielen 26 auf
unabhängige Außenkontrolleure.

Von den wenigen externen Prüfungen galten im Übrigen einige dem internen
Kontrollsystem, das Ikea eingerichtet hat. Die Prüfer dürfen in diesen
Fällen ihre Ergebnisse nicht veröffentlichen, ihre Berichte gehen einzig
und allein an die Konzernführung. Die Kontrollen finden alle zwei Jahre
statt (in Asien jährlich oder halbjährlich). Dabei müssen in nur ein bis
zwei Tagen die 90 Kriterien des Iway abgearbeitet werden. Bei einem
Achtstundentag entfallen auf jedes Kriterium also 10 Minuten und 40
Sekunden.

Wie überprüft man in 10 Minuten, ob ein Unternehmen keinen Druck ausübt,
um die Mitarbeiter an einer gewerkschaftlichen Organisation ihrer
Interessen zu hindern? Wie prüft man die Frage der Überstunden? Wie prüft
man die pünktliche Auszahlung der Löhne, die Einhaltung der Pausen, das
Problem der Zwangsarbeit? Oder den ganzen Komplex der Kinderarbeit? Ganz
einfach: Man fragt die Betriebsleitung. Man schaut sich die Buchhaltung
des Unternehmens an. Nur wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, befragt
man die Arbeiter in der Fabrik.

Diejenigen, die solche Kontrollen durchführen, geben sich wahrscheinlich
redliche Mühe, aber die Bedingungen, unter denen sie der Aufgabe
nachgehen, machen eine ernsthafte Kontrolle unmöglich. Das Verfahren ist
zu oberflächlich und kaum geeignet, die Arbeiter zu Auskünften über ihre
tatsächlichen Arbeitsbedingungen zu bewegen, zumal die Interviews meist
im Rahmen der Qualitätskontrolle erfolgen.

Toneesh zum Beispiel, der in der Qualitätskontrolle seines Betriebs
arbeitet, erlebt den Besuch der Ikea-Kontrolleure zweimal im Jahr: “Sie
stellen ein paar Fragen, vor allem zur Qualität der Produkte, um die
Produktion zu bewerten. Es sind Inder aus Delhi oder Chennai. Aber auch
Europäer. Die reden allerdings nur mit den obersten Chefs. Die Arbeiter
können schon wegen der Sprache nicht direkt mit ihnen reden.”

Ähnliches berichtet die Arbeiterin Kalaya: “Gestern kam ein Mann von
Ikea. Er zeigte uns ein Video über die Herstellung von
Qualitätsprodukten. Und er stellte Fragen, aber nur zu den Produkten.”
Solche Untersuchungsmethoden dürften kaum geeignet sein, die Überstunden
der jungen Frau abzubauen.

Die Ikea-Politik beschränkt sich darauf, die Ausbeutung der Menschen ein
wenig ziviler zu gestalten. Gewiss, die Beschäftigten haben sauberes
Wasser, Schutzhandschuhe, getrennte Toiletten und manchmal sogar
Teepausen. Aber Teetrinken hilft den Beschäftigten nicht, bis zum
Monatsende über die Runden zu kommen, und sobald es um die wichtigen
sozialen Fragen geht, um Löhne, gewerkschaftliche Organisation und
Überstunden, verschärft sich die Tonlage, wie wir gesehen haben.

Könnte es sein, dass der eigentliche Nutznießer der sozialen
Verantwortung, die im Ikea-Verhaltenskodex zum Ausdruck kommen soll, am
Ende das Unternehmen selbst ist? Einerseits wälzt Ikea, wie Vijayabaskar
anmerkt, “die Kosten dieser Sozialpolitik auf die Zulieferer ab”.
Anderseits kann das Unternehmen mit diesem kostenlosen Engagement sein
Image aufbessern und Kinderarbeit vermeiden, die für den Westen immer
noch jenseits der moralischen Schmerzgrenze liegt.

Diese Fortschritte sind auch deshalb so einfach und billig zu erzielen,
weil die im Iway niedergelegten Grundsätze keineswegs verbindlich sind.
Die von Ikea proklamierte soziale Verantwortung taugt also nicht einmal
dazu, alle Beschäftigten vor vollkommener Verelendung zu bewahren. Um
diesen Anspruch einzulösen, müsste das Unternehmen seinen Mitarbeitern
ein anständiges Leben ermöglichen.

Dabei denken wir keineswegs an den Luxus eines Fernsehers oder
Mobiltelefons, sondern nur an die Möglichkeit, dass etwas öfter Fleisch
auf den Tisch kommt; oder dass Eltern es sich leisten können, ihre Kinder
eine Klasse wiederholen zu lassen, statt sie von der Schule zu nehmen;
oder dass sie nicht auf zwei Jobs angewiesen sind. Oder dass sie einmal
in der Woche einen echten Ruhetag genießen könnten, statt die während der
Woche liegen gebliebene Hausarbeit erledigen zu müssen. Ganz zu
schweigen von der Möglichkeit, dass Shiva sich den Luxus eines
Billy-Regals leisten könnte.

Zitiert nach Read Me, magazine international interne d'Ikéa, Nr. 1, französische Ausgabe, März 2006.

"Un Ikéa sinon rien!", Courrier International, Nr. 722, 2.-8. September 2004.

Ikea, "Social and Environmental Responsibility Report 2005".

"Trying to assemble a perfect reputation", The Observer (London), 25. November 2001.

Aus dem "Testament eines Möbelhändlers", das in weiten Teilen in Ingvar Kamprads autorisierter Biografie referiert wird: Bertil Torekull, "Das Geheimnis von IKEA", Hamburg 1988.

Erste Reportage: Manuel Balza Duran und Davor Radojicic, "Corporate Social Responsibility and Nongovernmental Organizations", Avdelning Institution Division, Department Ekonomiska institutionen, Linköping, 30. Januar 2004. Zweite Reportage: Mattan, deutsche Dokumentation von 2004. Dritte Reportage: zitiert in Susan Christopherson und Nathan Lillie, "Neither global nor standard: corporate strategies in the era of new labor standards", University of Oxford, November 2003; zitiert auch in: Newsweek, 12. März 2001, und "Ikea accused of exploiting child workers", BBC, 23. Dezember 1997.

IWAY Standard, Punkt 15.

Da mehrere Befragte die Befürchtung äußerten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, haben wir alle Namen von Arbeiterinnen und Arbeitern geändert.

Ikea, "Social and Environmental Responsibility Report 2005".

Ebd.

Published 19 December 2006
Original in French
Translated by Michael Bischoff
First published by Le Monde diplomatique (Berlin) 12/2006

Contributed by Le Monde diplomatique (Berlin) © Olivier Bailly/Jean-Marc Caudron/Denis Lambert/Le Monde diplomatique (Berlin) Eurozine

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